022

„Ich hab dich überall gesucht, Elle.", wiederholte er. „Wo warst du denn?"

„Hier.", antwortete ich und verdrehte die Augen.

Er lachte auf. „Du bist so witzig, Elle!"

„Ugh. Verdammte Scheiße." Ich hielt ihm die Flasche Wasser hin, die ich vorhin mitgenommen hatte. „Trink das."

„Danke, Elle." Die Art, wie er meinen Namen aussprach und ständig wiederholte, ließ mich die Stirn runzeln, doch ich sagte nichts, sondern sah einfach zu wie er die Flasche komplett austrank. Viel zu schnell, meiner Meinung nach. Hoffentlich würde ihm jetzt nicht schlecht werden.

Es schien nicht so zu sein. Im Gegenteil, es wirkte als hätte das Wasser geholfen. Seine Stimme wurde klarer, genauso wie sein Blick. Auch wenn ich mich der Illusion hingab, dass er jetzt nüchtern war.

Doch noch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, riss er mir plötzlich das Foto aus der Hand. „Verdammt, Elle! Wieso hast du nie gesagt, dass du einen festen Freund hast?"

Zu überrascht, als das ich hätte antworten können, versuchte ich ihm das Foto weder zu entreisen, doch er war aufgesprungen und hielt es hoch in die Luft, sodass ich es nicht erreichen konnte.

„Oh, ich verstehe. Ihr habt eine Fernbeziehung und du weinst jetzt, weil du an seinem Geburtstag nicht bei ihm sein kannst."

Erst als ich diese Worte hörte, spürte ich die Tränen, die mir über die Wange liefen. Das war noch eine Sache gewesen, die ich früher nie verstanden hatte, wenn ich sie in einem Buch gelesen hatte. Wie sollte man nicht mitbekommen, dass man weinte? Aber nach Manus Tod hatte ich gelernt, dass das sehrwohl möglich war. Ich glaubte die Sache war die, dass wenn man zu oft aus dem selben Grund weinen musste, bemerkte man es einfach nicht mehr, weil es ein Normalzustand war. „Er ist nicht mein Freund."

„Oh... Ja, Fernbeziehungen können wohl echt hart sein. Du weinst also, weil er mit die Schluss gemacht hat, aber du noch Gefühle für ihn hast?"

„Was? Nein!"

„Achso..." Er sah mich mitleidig an. „Er hat dich betrogen, ja?"

Ich schüttelte den Kopf. „Nein! Nein. Ich war nie mit ihm zusammen."

„Oh, jetzt verstehe ich es aber!" Er kam wieder auf mich zu. „Du standest auf ihn, aber er wollte nichts von dir." Er legte seine rechte Hand auf mein Gesicht und strich mir über die Wange, als würde er die Tränen wegwischen wollen. „Ich sag dir eins: Er ist derjenige, der etwas verloren hat. Nicht du. Wenn er nicht sieht, wie toll du bist, hat er dich gar nicht verdient."

„Äh? Danke?" Ich schüttelte den Kopf. „Aber du verstehst das vollkommen falsch. Er war nie mein Freund und ich wollte auch nie, dass er mein Freund sei. Das wäre... abartig."

„Tatsächlich?"

Ich nahm seine Hand von meinem Gesicht. „Er ist mein Bruder."

Er riss die Augen auf und lief einen Schritt nach hinten. „Dein Bruder?! Du hast einen Bruder?!"

„Frag nicht.", murmelte ich, griff nach dem Foto und steckte es mir in die Hosentasche, während ich mich wieder auf den Baumstamm setzte.

Robin blickte mich noch einige Sekunden mit schief gelegtem Kopf an und setzte sich dann neben mich. Er sagte kein Wort mehr. Wir schwiegen einfach vor uns hin.

Wir saßen einfach da. Stundenlag. Der Lärm verebbte langsam, aber wir blieben schweigend sitzen.

Es wurde auch immer kälter und ich begann zu frösteln. Als er das merkte, zog er sein Hemd aus, natürlich ebenfalls schwarz. Ich hatte bisher gar nicht gemerkt, dass sein Outfit sich verändert hatte. Er legte es über meine Schultern und dann auch noch seinen Arm. Er zog mich leicht zu sich heran, als wäre es eine stumme Einladung mich an ihn zu kuscheln, ohne mich zwingen zu wollen. Zu meiner eigenen Überraschung ließ ich mich darauf ein und bettete meinen Kopf auf seine Schulter.

Ein angenehmer Geruch wanderte in meine Nase, ohne dass ich hätte sagen können, wonach es roch. Ich schloss die Augen als ich spürte wie die Tränen drohten zurückzukommen. Heute war für mich der zweitschlimmste Tag des Jahres. Der Jahrestag des Unfalles war der Schlimmste, Manus Geburtstag der Zweitschlimmste. Die letzten Jahre hatte ich mich immer allein an einen See verkrochen und hatte jeden ignoriert. Hatte kein Wort zu jemanden gesagt, höchstens zu Manu selbst.

Doch was hatte es mir gebracht? Die Antwort war einfach: Gar nichts. Trotzdem hatte es sich richtig angefühlt, genau wie es sich jetzt irgendwie falsch anfühlte bei Robin zu sein. Dennoch fühlte es sich gut an nicht allein zu sein. Die Wärme seines Körpers zu spüren, obwohl mir so kalt war und ich wusste, dass die Kälte in mir nicht nur von der fallenden Temperatur herrührte. Ich fühlte mich leer, taub, als wäre meinem Körper so kalt, dass er nichts mehr spürte.

Wie war es möglich, dass Robin sich von der einen auf die andere Sekunde so sehr veränderte. Vom Arsch zum... zum was eigentlich? Zum Freund? Keine Ahnung, zu irgendwas halt wurde.

„Du schuldest mir übrigens noch einen Kuss...", murmelte er leise.

Augenverdrehend schaute ich zu ihm nach oben. Ich sah ihm an, dass er gleich etwas sagen würde und instinktiv wusste ich, dass ich seine Worte hassen würde. Auch wenn ich nicht wusste, was er sagen würde, mein Instinkt, aber auch meine Erfahrung, sagte mir ganz klar, dass ich das nicht hören wollte. Ich würde mich nur darüber aufregen. Außerdem hatte er ja recht. Wir hatten eine Abmachungen geschlossen und im Gegensatz zu ihm, hatte ich meinen Teil noch nicht erfüllt.

Vielleicht lag es daran, vielleicht auch an etwas anderem, aber aus irgendeinem Grund beugte ich mich zu ihm und küsste ihn.

Er schien überrascht über mein handeln zu sein, aber nach einer Sekunde, hatte er den Schreck überwunden und der Kuss veränderte sich. Seine Lippen wurden fordernd und seine Hände packten mich an der Hüfte. Ich begriff nicht ganz, wie er es tat, aber auf irgendeine Weise schaffte er es mich auf seinen Schoss zu ziehen.

Der Kuss wurde wilder, während seine Hände meinen Rücken hochwanderten. Mit der Hand an meinem Nacken zog er mich noch etwas näher an sich heran. Mit meiner rechten Hand hatte ich in seine Haare gegriffen, die Linke hatte auf seiner Brust gelegen, doch strich jetzt nach oben zu seiner Schulter.

Verdammt, was tat ich hier eigentlich? Es lief völlig aus dem Ruder. Es sollte nur ein kurzer Kuss werden und nicht das hier. Aber es fühlte sich verdammt gut an und ließ mich für einen kurzen Moment alles vergessen. Für einen Moment lang hatte ich nicht an Manu und an den Unfall gedacht.

Seine Lippen waren an mein Hals gewandert, als mir bewusstwurde, was ich hier tat und zurück in die Realität geholt wurde. Das hier war ein Fehler. Das wusste ich. Oh Gott, was tat ich hier? Noch wichtiger: Wieso hörte ich nicht damit auf?

„Ich befürchte, dass ich mich an nichts hiervon erinnern werde.", murmelte er in meinen Hals.

Seine Stimme riss mich nun endgültig aus der Untätigkeit und endlich riss ich mich von ihm los.

Ich rieb mir über das Gesicht und lief dann schnell, ohne mich noch einmal zu ihn umzudrehen, davon zurück zu meinem Zimmer.

Doch als ich die Tür öffnete, entfuhr mir ein kurzer Schrei und ich drehte mich auf der Stelle wieder um.

Eigentlich hatte ich nichts gesehen, aber zur selben Zeit hatte ich mehr gesehen als mir lieb war.

„Elle, hier bist du ja!" Robin lief auf mich zu und konnte dabei keine gerade Linie zurücklegen. Er schien noch immer besoffen, auch wenn er seit Stunden nichts mehr getrunken hatte, was die Frage aufwarf, wieviel er vorher intus gehabt hatte. „Kommst du mit auf mein Zimmer?"

„Iguh.", stieß ich aus. War das jetzt sein ernst? Hatte er jetzt ernsthaft vor mich flach zu legen. Arsch. In diesem Moment fiel mir ein, dass er kurz davor noch wild mit diesem Mädchen geflirtet hatte. Verdammter Arsch! Ich seufzte. „Ich geh in dein Zimmer, aber nur weil ich echt müde bin, aber wehe du fasst mich an. Ich werde nicht mit dir schlafen und auch sonst nichts mit dir tun. Das eben war eine einmalige Sache und ich werde da nur rein gehen, um zu schlafen. In Olis Bett, nicht in deinem. Und zwar auch nur, weil die beiden in unserem Zimmer gerade Sex haben. Verstanden?"

Ich wartete nicht auf seine Antwort, sondern schob mich an ihn vorbei und öffnete sein Zimmer, das im Gegensatz zu meinem, wie er mich immer wieder erinnerte, nicht abgeschlossen war.

Im Türrahmen zum Bad, drehte ich mich seufzend um. „Habt ihr vielleicht eine unbenutzte Zahnbürste?"

„Im Schrank."

„Danke.", murmelte ich und als ich fertig war und die Tür wieder öffnete, stand Robin da und reichte mir einen Stoffbündel.

Mit gerunzelter Stirn sah ich ihn an. „Was ist das?"

„Ein T-Shirt. Darin kannst du schlafen. Du siehst zwar echt heiß aus in deinem Outfit, aber ich befürchte, dass es zum Schlafen nicht sonderlich gemütlich ist." Er begann zu Grinsen. „Du kannst natürlich auch nackt schlafen, aber wahrscheinlich ist es dir so lieber."

„Danke.", murmelte ich.

Während er im Bad verschwand, zog ich sein T-Shirt an. Ehrlich gesagt, ähnelte es den Shirts meines Bruders, in denen ich auch normalerweise schlief. 

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