017
Robin machte keine Anzeichen nach einem eigenen Buch zu suchen, sondern folgte mir auf Schritt und Tritt. Zumindest hatte er bisher geschwiegen, aber das änderte sich als ich durch den vierten Gang lief. „Was ist dein Lieblingsbuch?"
Seufzend verdrehte ich die Augen. „So etwas habe ich nicht."
„Weil es nicht um das Buch an sich geht, sondern um den Moment in dem man darin versinkt?"
Abrupt blieb ich stehen und schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. Er hatte recht. Genau das wäre meine Antwort gewesen, wenn er mich gefragt hätte, warum ich kein Lieblingsbuch habe, obwohl ich so gerne las, aber wie konnte er das wissen?
Als hätte er meine Gedanken gehört, antwortete er mit einem schiefen Grinsen auf die Frage, die meine Lippen nie verlassen hatte: „Das ist bei mir auch so. Es ist ziemlich oberflächlich, wenn man ein klares Lieblingsbuch hat. Man verliebt sich nicht in ein Buch, auch nicht in eine Geschichte. Man verliebt sich in eine Welt oder in einen Charakter... Naja, wobei... Eigentlich verliebt man sich auch nicht unbedingt darin. Die Wahrheit ist, dass man sich in den Moment verliebt, in dem man die Geschichte liest. Man könnte das beste Buch im ganzen Universum lesen, aber in der falschen Stimmung und man würde das Buch furchtbar finden. Klar kann man sagen, dass man ein Lieblingsbuch hat, wenn man es immer wieder gerne liest, aber einem sollte immer bewusst sein, dass es gut möglich ist, dass man dieses Buch nie ein zweites Mal gelesen hätte, wenn man beim ersten Mal in der falschen Stimmung gewesen wäre. Wenn man ein Buch beim ersten Mal in der richtigen Stimmung liest, dann verbindet man schon viel Gutes damit, was sich bei jedem weiteren Mal verstärken kann."
Ich hatte mich nicht bewegt, seitdem er angefangen hatte zu sprechen. Er hatte recht. Es war als hätte er meine Gedanken dazu abgelesen. Als hätte er gehört gehabt, wie ich versuchte genau das anderen Menschen zu erklären.
Aber da das unmöglich war, musste das heißen, dass wir tatsächlich mehr gemeinsam hatten, als ich jemals für möglich gehalten hätte. Das war etwas anderes als die Tatsache, dass wir beide gerne lasen. Das hier war wirklich eine Gemeinsamkeit und noch dazu eine persönliche. Ich hatte noch nie jemanden kennengelernt, der das genauso sah wie ich. Manche konnten zwar erahnen, was ich meinte, nachdem ich es ihnen erklärte, aber wirklich nachvollziehen konnten sie es nie. Doch Robin schon. Mehr noch, es war von ihm ausgekommen.
„Aber man kann sehr wohl Hass empfinden."
„Du willst wissen, was mein Hassbuch ist.", begriff ich.
Er nickte. „Ganz genau. Welches Buch hast du gehasst?"
Der Grund, weshalb ich mit meiner Antwort zögerte, war keinesfalls der, dass ich überlegen musste, sondern etwas viel dümmeres. Ich hatte Angst davor es ihm zu verraten. Es war idiotisch, aber seit dem Unfall fand ich es sehr schwer mich anderen Leuten gegenüber zu öffnen. Das hatte ich durch Kim und Oli ein wenig verbessert, aber als einen offenen Menschen würde ich mich ganz sicher immer noch nicht beschreiben.
Erst recht nicht wollte ich, dass ausgerechnet Robin mehr über mich erfuhr. Auch wenn es etwas so lächerlich war, wie das Buch, was ich am allermeisten gehasst habe. Eigentlich war es nicht unbedingt etwas banales. Ich war der Meinung, dass es viel über einen Menschen aussagen konnte, welche Bücher er hasste. Sogar mehr als Bücher, die man mochte.
Ich zum Beispiel hatte ein Buch gelesen und von der ersten Seite an nur gehofft, dass es ein Ende nehmen würde. Ich ertrug den Protagonisten nicht. Hasste das Buch vom ersten bis zum letzten Satz.
Ich gehörte schon immer zu den Menschen, die ein Buch, einmal angefangen, bis zum Ende lassen. Sogar zu denen, die auch die Fortsetzungen las, auch wenn sie das erste Buch furchtbar fanden. Das gleiche galt bei Filmen oder Serien. Die meisten konnten das nicht verstehen, aber ich hasste es, eine Geschichte abzubrechen. Deshalb fand ich es auch so schade, dass Serien mittlerweile immer darauf ausgelegt wurden, so viele Staffeln wie möglich zu machen, bis sie abgesetzt wurde, ohne die Geschichte zu Ende erzählt zu haben. Ich wollte lieber nur eine Staffel, egal wie gut die Serie war, wenn sie dafür einen Abschluss hatte.
Doch bei diesem Buch hätte ich aufgehört. Ich hätte dieses Buch nicht zu ende gelesen, wenn ich nicht für die Schule gemusst hätte.
Umso überraschter war ich am Ende gewesen, als meine Mitschüler das Buch zum Teil liebten. Es war so polarisierend gewesen, dass in unserer Klasse damals ein richtiger Streit ausgebrochen war. Die einen liebten es und die anderen, so wie ich, hassten es.
„Ich werde dir mein Hassbuch verraten.", meinte Robin, nachdem ich einige Sekunden lang keine Anstalten machte zu antworten. „Mein Hassbuch war, ist und wird immer sein: Faserland."
Ein erstickter Laut entfuhr mir. „Faserland?", wiederholte ich. „Von Christian Kracht?"
„Du kennst es?", fragte er sichtlich überrascht und musterte mich mit schief gelegtem Kopf.
„Ich kenne es. Ich hasse es.", gestand ich.
Der Blick aus seinen schwarzen Augen schien mich zu durchbohren.
„Es ist auch mein Hassbuch."
„Was ein Zufall!", rief er und lachte laut auf, senkte aber dann wieder seine Stimme: „Dieser Kerl! Ufff. Der war ja so arrogant und nervig!"
„Allein schon der Schreibstil war so! Hätte er noch öfters irgendwelche Marken nennen können?"
„Ja und dann auch die Handlung!", fuhr er fort. „Sein bester Freund bringt sich um und er-"
„Er beobachtete das und klaut dann einfach sein Auto!", beendete ich den Satz. „Wer tut denn so etwas?!"
„Absolut! Was ein Arschloch!"
Als hätte sich plötzlich wieder ein Schalter in meinem Kopf zurückgestellt, der mich daran erinnerte mit wem ich hier sprach, schwieg ich.
Er fuhr fort und zerriss das Buch. Ich hätte ihm in jedem einzelnen Punkt zustimmen können. Alles was er sagte, war die Wahrheit, aber ich blieb stumm. Stattdessen fuhr ich meinen Weg fort und fand auch zwei Bücher, die gut klangen.
Mit ihnen im Gepäck, lief ich zu Hans und legte sie auf die Ablage, bevor ich die anderen drei Bücher aus meinem Rucksack neben dran stellte.
In dieser Zeit war er aufgestanden und lächelnd zu mir gekommen. „Heute in Begleitung, wie ich sehe. Ist das etwa dein Freund, Elle?"
Ich schnaubte. „Vielleicht wäre er das gerne, aber nein, niemals."
Hans lachte auf und bedachte Robin mit einem mitleidigen Blick. „Mach dir nichts draus, mein Junge.
Robin, dem sein Grinsen wohl nie ausging, legte seinen Arm um meine Schulter. „Eigentlich bin ich davon überzeugt, dass sie sich in mich verlieben wird."
„Ach?"
„Ja, das wird sie. Früher oder später werde ich sie für mich gewinnen." Robin nickte. „Ich komm dann nochmal zu dir, um zu berichten."
„Hätte ich in deinem Alter doch nur dein Selbstvertrauen gehabt." Hans schüttelte, immer noch lachend, den Kopf. „Aber hör auf meine Worte: manchmal ist weniger mehr."
„Danke für deinen Rat, Hans, aber ich weiß schon, was ich tue."
Während ich darüber nachdachte, ob ich Hans heute beim Namen genannt hatte, nahm ich seinen Arm von mir. Ich konnte mich daran ersinnen, was aber heißen würde, dass Robin tatsächlich öfter mal hier in die Bücherei ging und sich sogar die Zeit nahm ein wenig mit den Bibliothekaren zu sprechen.
Er überraschte mich immer wieder.
Was mich allerdings leider nicht Überraschte war, dass er seinen Arm, kaum hatten wir die Bibliothek verlassen, wieder um meine Schulter legte.
Genervt machte ich einen Schritt zur Seite, sodass sein Arm runter glitt. „Hör endlich auf mit dem Scheiß! Lass mich ein für alle Mal in Frieden! Du bist so unfassbar nervtötend. Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?
Was mich dann allerdings durchaus noch einmal überraschte war die Tatsache, dass er, zumindest am restlichen Abend, auf mich hörte.
Er ließ mich in Ruhe.
Ich verstand ihn einfach nicht. Ich wurde nicht schlau aus ihn. Immer wieder stoppte er plötzlich. Hörte von einer auf die nächste Sekunde auf ein Arschloch zu sein und ließ mich allein. Das hielt nicht lange, aber trotzdem. Für eine kurze Zeit nur, aber in solchen Momenten zweifelte ich an meinem Bild von ihm. Vielleicht täuschte ich mich wirklich in ihm, so wie Oli und Kim es mir seit Anfang an weiß machen wollten. Doch dann wendete sich das Blatt wieder. Er wurde das altbekannte Arschloch. Der arrogante, nervige Mistkerl.
So war es bisher immer gewesen und ich glaubte nicht daran, dass sich das jetzt plötzlich ändern würde.
Morgen früh wäre er wieder der Alte.
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