015
Der September verging ohne besondere Ereignisse. Das Wetter war noch angenehm warm, sodass wir viel Zeit am See verbrachten, aber keiner ging mehr hinein. Dafür war es dann doch zu kalt. Für mich bedeutete das, dass es einfacher wurde. Sie wussten zwar alle, dass ich, unabhängig vom Wetter, nicht ins Wasser gegangen wäre, aber dadurch, dass es momentan auch von niemandem erwartet wurde, wurde es zur Nebensächlichkeit. Es geriet in Vergessenheit. Dieses Problem war ich also vorerst los.
Das hatte auch zur Folge, dass ich einen Teil der Anspannung los wurde, die ich die ganze Zeit in mir getragen hatte, ohne es wirklich zu merken. Das bedeutete aber auch, dass ich die Leere in mir wieder deutlicher spürte. Die Leere, die keiner füllen konnte. Auch Kim und Oli nicht, obwohl ich sie in mein Herz geschlossen hatte. Die waren gute Freunde, selbst wenn ich sie noch nicht lange kannte.
Kim lenkte mich ab, sodass ich weniger in Selbstmitleid versank. Wahrscheinlich war ihr nicht einmal bewusst, was sie für mich tat, aber es half sehr. Sie redete und redete. Dabei war es völlig egal über was. Sie konnte zu allem etwas sagen und das tat sie auch. So war es fast nie ruhig in unserem Zimmer. Vor einem Monat hätte ich diesen Gedanken furchtbar gefunden, aber ich hatte festgestellt, dass es mir ziemlich gut tat. Ich brauchte immer noch Zeit für mich, ich brauchte manchmal die Stille, aber die bekam ich auch. Entweder ich ging allein zum See oder nutzte die Zeit, wenn Kim im Schwimmtraining oder bei Oli war.
Oli war da ganz anders. Er lenkte mich nicht ab, sondern half mir vielmehr weiter zu kommen. Er half mir jedes Mal, wenn es zu einem Punkt kam, an den ich nicht mehr weiterwusste. Half mir aus Situationen heraus, wenn die anderen versuchten etwas aus mir herauszubekommen. Es musste dabei nicht einmal ein direkter Versuch sein. Er erkannte, wenn ich mich unwohl fühlte und lenkte das Thema sofort in eine andere Richtung, sodass ich gar nicht erst in eine unangenehme Situation kam. Anfangs dachte ich, es wäre nur Zufall, aber als es immer wieder passierte, entdeckte ich den überprüfenden und mitfühlenden Blick, den er mir dabei zuwarf. Er wollte nicht, dass ich etwas erzählen musste, dass ich nicht wollte. Nach unserem Gespräch über Elisa hatte ich mir Sorgen gemacht, er könne verletzt sein, weil ich meine Geschichte nicht mit ihm teilte, aber mittlerweile war ich mir sicher, dass er es gar nicht wollte. Das hieß, er wollte die Geschichte erfahren, aber nicht zu dem Preis. Er wollte, dass ich es ihnen erzählte, aber erst wenn ich soweit war.
Doch egal wie sehr ich die beiden schätze, es änderte nichts an der Leere in meinem Inneren. Vielleicht war Leere auch der falsche Begriff. Es war mehr eine Art Taubheit. Ich konnte Glück empfinden, Freude und Zuneigung, aber es fühlte sich alles dumpf an. Als wären meine Gefühle in Watte umhüllt und würden einfach nicht in voller Stärke zu mir durchdringen. So war es auch die letzten Jahre gewesen, aber in den vergangenen Wochen hatte es sich ein wenig verbessert. Zumindest hatte ich das gedacht, aber so war es wohl nicht. Jetzt erkannte ich, dass es nie besser gewesen war. Die Taubheit hatte nicht nachgelassen. Denn manche Gefühle hatte ich seit dem Unfall immer in voller Stärke gespürt, wenn nicht sogar noch intensiver. Gefühle wie Trauer und Schmerz, Schuld und Wut. Durch die ständige Anspannung in den letzten Wochen hatte ich die Taubheit nicht so sehr gespürt, weil sie nicht die Oberhand hatten, aber jetzt, wo die Anspannung nicht mehr mein ständiger Begleiter war, brach sie wieder durch.
Es schien nur zwei Situationen zu geben, in denen ich sie durchdringen konnte. Die erste war die gleiche, die es schon immer gab. Wenn meine Gedanken zu meiner Familie fuhren. Wenn ich die Trauer meinen Körper überfluten ließ. Das geschah noch immer jeden Tag, aber ich hatte gelernt diese Zeit zu reduzieren. Das musste ich, um nach Vorne zu schauen. Um mein Versprechen wahr werden zu lassen. Dass ich das schaffte, hatte ich nur Kim zu verdanken.
Die zweite Situation war neu. Zumindest im Vergleich zu der Zeit bevor ich im Internat war. Diese Situation wurden immer von einer bestimmten Person ausgelöst. Es war unfassbar, wie wütend er mich machte. Ich konnte mir wirklich nicht erklären, wie Robin das schaffte. Das seltsame war, dass ich mich manchmal danach sehnte. Es war idiotisch. Wut war kein schönes Gefühl und ich wünschte, er wäre nicht so ein Mistkerl, aber zur selben Zeit waren das eben die Momente, in denen ich das Gefühl hatte wieder zu leben. Er weckte mich auf, holte mich zurück, so wie es sonst kein Lebender konnte. Ich hasste die Taubheit in mir und deshalb sehnte ich mich nach diesem Gefühl, auch wenn ich Robin zur selben Zeit verabscheute, weil er eben dieses Gefühl in mir auslöste.
Ich schlug das Buch genau in dem Moment zu als Kim aus dem Bad kam. „Morgen wieder in die Bücherei?"
„Sieht ganz danach aus.", erwiderte ich und lachte kurz auf.
Sie schüttelte den Kopf. „Du liest einfach zu schnell. Wenn du so weiter machst, gibt es dort bald kein einziges Buch mehr, das du noch nicht kennst!"
„Möglich.", erwiderte ich und legte das Buch auf meinen Nachttisch. „Dann werde ich eben noch einmal von Vorne beginnen!"
Während sie sich ins Bett legte, sagte sie: „Wenn es dir denn Spaß macht." Ihr Lachen ging in ein Gähnen über.
„Gute Nacht, Kim.", wünschte ich ihr und schaltete mein Licht aus.
Sie folgte meinem Beispiel. „Schlaf schön."
Doch nach ein paar Minuten der Stille, vernahm ich erneut ihre leise Stimme: „Schläfst du schon?"
Ich schüttelte den Kopf, auch wenn sie es nicht sehen konnte. „Nein, was gibt's?"
„Ich hab da eine Frage."
„In Ordnung. Schieß los.", forderte ich sie auf, ohne mir etwas dabei zu denken. „Was willst du wissen?"
„Zuerst muss ich noch etwas sagen." Sie zögerte kurz bevor sie weitersprach: „Du musst nicht darauf antworten. Wirklich nicht! Ich will, dass du das weißt. Ich bin nicht sauer, wenn du nicht darauf antwortest. Oli hat völlig recht. Du solltest dich nicht gezwungen fühlen uns etwas zu erzählen, was du nicht erzählen willst, aber ich muss einfach fragen. Das tut mir auch unfassbar leid, aber ich kann nicht anders. Wie gesagt, du brauchst auch gar nicht darauf zu antworten, aber die Frage brennt mir auf der Seele. Ich muss sie dir einfach einmal stellen. Verzeih mir das bitte, aber sie lässt mir sonst keine Ruhe. Ich wiederhole es noch einmal, weil mir wirklich wichtig ist, dass du weißt, dass mir das 100 prozentig ernst ist: ich erwarte keine Antwort. Mehr noch, ich möchte nicht, dass du antwortest, weil ich weiß, dass du das dann nicht aus freien Stücken tun würdest."
Mir steckte ein Klos im Hals. Mein Blick war stur nach oben gerichtet, auch wenn ich nichts sehen konnte. Als Kim nach einigen Sekunden, die sich für mich qualvoll in die Länge zogen, nicht weitergesprochen hatte, flüsterte ich so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob sie mich hörte: „Frag."
Sie begann nicht sofort. Ich hörte wie sie tief durchatmete, bevor sie zur Frage ansetzte: „Seit dem ersten Tag schon hatte ich diese Frage, aber seit gestern kann ich das nicht einfach dabei belassen. Ich habe es versucht. Den ganzen Tag heute habe ich versucht diesen Drang zu unterdrücken, aber ich komme einfach nicht zur Ruhe."
Sie machte eine Pause und ich versuchte mich auf eine ruhige Atmung zu konzentrieren.
„Ich habe mir gestern eins meiner Fotoalben angeschaut und da habe ich den Artikel wiedergefunden."
Ich schluckte. Ich hatte zwar gewusst, worum es in ihrer Frage gehen würde, aber die Bestätigung ließ auch den letzte Funken Hoffnung zunichte gehen.
„Den Artikel mit dem Interview, das sie mit dir geführt haben.", konkretisierte sie, obwohl es gar nicht nötig gewesen wäre. „Es ist irgendwie sogar witzig. Ich habe diesen Text so oft gelesen, aber jetzt wo ich dich kenne, ist es ein ganz anderes Gefühl. Ich höre deine Stimme in meinem Kopf. Die Worte könntest du auch jetzt sagen. Es ist als hättest du dich nicht verändert. Du sprichst auf dieselbe Weise. Ich weiß auch nicht, man erkennt dich auf jeden Fall in der Sprechweise, doch der Inhalt... Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich niemals auf die Idee kommen, dass es sich dabei um die selbe Person handeln könnte. Du hast erzählt, dass dich, als du klein warst, niemand aus dem Wasser holen konnte. Das man dich regelrecht zwingen musste. Dich raustragen, weil du das freiwillig nicht machen wolltest. Du hast erzählt, wie deine Eltern manchmal daran verzweifelt sind, aber dass sie es gleichzeitig witzig und schön fanden, wie sehr du das Wasser liebtest. Du hast ebenfalls erzählt, dass du jetzt, also zu der Zeit des Interviews, das Wasser am liebsten immer noch nicht verlassen würdest. Dass du dich darin so wohl fühlst wie nirgendwo sonst, aber dass du mittlerweile gelernt hattest dich selbst zu zwingen und du freiwillig irgendwann nach hause gingst. Selbst wenn du noch die meiste Zeit im Wasser warst."
Meine Augen brannten und lautlos liefen mir einige Tränen über das Gesicht. Immerhin konnte sie nicht sehen, wie sehr mich das schmerzte. Sie hatte das Recht zu fragen. Wenn ich ihr schon nichts erzählte, konnte ich ihr das nicht auch noch nehmen.
„Und ich frage mich einfach, was geschehen ist.", fuhr sie fort. „Was ist passiert? Was hat dich so sehr verändert? Was hat dazu geführt, dass du dich vor dem Wasser... ich weiß auch nicht... fürchtest?"
„Kim... Es ist so, dass..."
„Nein, erzähl es mir nicht. Ich habe doch gesagt, dass ich keine Antwort erwarte. Ich wollte die Frage nur einmal gestellt haben. Danke, dass du mir zugehört hast."
Meine Stimme klang überraschend stabil. Ich hatte erwartet, dass sie zittern würde, aber das tat sie nicht. „Ich vertraue dir, Kim. Ich vertraue auch Oli. Das ist nicht der Grund, weshalb ich es nicht erzähle. Wirklich nicht. Du sagtest, dass du die Frage einfach nicht mehr für dich behalten konntest... Mir geht es ähnlich. Ich kann es einfach nicht erzählen. Es geht nicht. Selbst wenn ich wollte, ich kann nicht. Nicht jetzt. Nicht heute und vermutlich auch nicht morgen, aber irgendwann... Irgendwann werde ich euch davon erzählen. Es tut mir leid." Ich brach ab, bevor meine Stimme doch noch den Geist aufgeben konnte. Meine Finger kribbelten, mein Herz zog sich zusammen. Es war die Wahrheit: ich vertraute ihr, aber es ging trotzdem nicht.
„Das ist in Ordnung, Elle!", versuchte sie mich zu beruhigen. „Das ist in Ordnung. Ich vertraue dir auch und ich vertraue darauf, dass du es uns erzählst, wenn du soweit bist. Bis dahin bin ich einfach froh, dass du meine Freundin bist."
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