011

Ich schaute ihnen kurz hinterher und suchte dann mein Buch aus meinem Rucksack heraus. Mit ihm lief ich zu den Steinen, die aus dem Wasser ragten. Sie waren groß, sodass man sich ohne Probleme drauflegen konnte. Stattdessen sprang ich auf den nächsten, sodass ich wie auf einer kleinen Insel im Wasser stand. Statt mich hinzulegen, setzte ich mich in einen Schneidersitz. Das Wasser war ganz nah, aber selbst die Strömung, die gegen den Felsen schlug, erreichte mich nicht. Genauso wie ich es mochte. Nah und zur selben Zeit entfernt.

Wie fast immer, wenn ich ein Buch las, vergas ich alles um mich herum. Meine Augen glitten über die Zeilen und ich versank in diese, mir noch völlig fremde, Welt. Ich ließ die Worte in mich einfahren. Auch wenn ich erst am Anfang war, war ich voll und ganz in diese Welt getaucht. Ich war dieses Mädchen. Mein Vater hatte immer gesagt, es sei eine Gabe, dass ich mich so gut in die Figuren hineinversetzen konnte. Dass ich zu ihnen wurde. Ihre Gedanken und Gefühle teilte. Doch ich hatte das immer abgestritten. Ja, ich wurde tatsächlich zu ihnen, aber ich glaubte nie, dass das etwas Besonderes war. Ich war immer der Meinung gewesen, dass viele Menschen das konnten. Das eben dies wohl alle Menschen verband, die gerne lasen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand der eine Leidenschaft fürs Lesen hegte, nicht in der Lage war sich hineinzuversetzen. War nicht genau das der Reiz beim Lesen? Vielleicht irrte ich mich und mein Vater hatte recht, aber eigentlich war es auch egal. Ich hatte es immer geliebt mir vorzustellen jemand anderes zu sein. Ein Leben zu führen, welches meinem überhaupt nicht glich und das hatte sich seit dem Unfall nur noch verstärkt. Früher wurde ich zwar gerne von einem Buch in ein neues Leben entführt worden, aber genauso gerne war ich in mein Leben zurückkehrt. Ich war glücklich. Ich hatte eine Leidenschaft, die ich regelmäßig ausübte und auch erfolgreich dabei war. Ich hatte gute Freunde, die immer für mich da waren und ich hatte eine Familie, die mich ehrlich liebte und mich bei allem unterstütze. Das alles hatte ich jetzt nicht mehr. Es sollte also niemanden verwundern, dass ich nun noch lieber in meine Bücher versank. Mir vorstellte, mein Leben sei ein anderes. Mittlerweile stellte dies eine Flucht aus meinem Leben dar, die ich nur zu gern ergriff. All meine Sorgen und Ängste hinter mir lassen. Mir vorstellen, dass alles gut war. Dass ich eine Familie hatte. Eine Familie, die lebte.

Selbst wenn die Charaktere in den Büchern selbst immer wieder Rückschläge erleiden mussten, wusste man doch, dass sich alles zum Besseren wenden würde. Dafür brauchte es nicht einmal ein Happy End. Selbst in den Geschichten in denen das Ende nicht Friede, Freude, Eierkuchen war, konnte man sich doch fast immer darauf verlassen, dass nicht alles schlecht war. Vielleicht schafften sie es doch nicht reich und berühmt zu werden, wie sie sich immer erträumt hatten, aber dafür hatten sie ihren Seelenverwandten gefunden und waren trotzdem glücklich. Oder genau andersherum. Es gab sicherlich Bücher, bei denen das Ende wirklich nicht gut war, aber von denen waren mir bisher nur sehr wenige untergekommen. Im Prinzip hatte ich auch nichts dagegen. Diese Bücher waren immerhin realistisch. Im wahren Leben gab es kein Happy End. Zumindest nicht in meinem.

Ich blickte erst von meinem Buch auf, als ich hörte, wie sich jemand neben mich auf den Felsen setzte. Es war Oli. Die Sonne ließ das Wasser in seinen Haaren und auf seinen Körper glitzern. Er berührte mich nicht und ich überprüfte, dass er mir weit genug entfernt war, sodass ich nicht durch eine versehentliche Bewegung nass wurde.

Gezwungen erwiderte ich das Lächeln, das er mir zuwarf. Was genau wollte er? Wieso setzte er sich zu mir, aber sagte nichts? Ich ließ mein Blick über den See streifen. Weiter zu lesen, erschien mir unhöflich. Kim und Robin standen im hüfttiefen Wasser und spritzten sich gegenseitig nass. Dabei lachten sie und kamen sich immer wieder nah, um sich zu gegenseitig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Gerade sprang Kim auf Robins Rücken, um ihn durch den Schwung ins Wasser zu drücken. Sie schaffte es nicht. Stattdessen zog er sie von seinen Rücken runter und warf sie einen halben Meter vor sich in den See. Als sie wiederauftauchte, begann sie augenblicklich wieder an zu lachen. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich sie für ein Paar gehalten, so vertraut wie sie miteinander umgangen. Dass diese Vertrautheit davon herrührte, dass sie Geschwister waren, hätte ich nie erraten.

Mein Blick huschte zu Oli, der die beiden mit gerunzelter Stirn ebenfalls beobachtete. Als er meinen Blick spürte, lächelte er mich wieder an. „Ich weiß wie das aussieht."

Überrascht riss ich die Augen auf. „Ich habe doch gar nichts gesagt!"

„Ja, aber gedacht oder nicht?"

Es war sinnlos das zu leugnen, also zuckte ich nur mit den Schultern. „Tut mir leid."

„Du kannst mir glauben, anfangs ging es mir genauso. Ich zweifelte immer wieder daran, dass zwischen ihnen wirklich nichts romantisches lief." Er schüttelte den Kopf und schnaubte kurz, als wäre der Gedanke für ihn mittlerweile völlig absurd. „Kim, sie ist so wunderschön und einfach perfekt-" In seinen Augen trat ein Strahlen, dass mir bereits aufgefallen war. Immer wenn er Kim anschaute, trat das in seine Augen. Scheinbar selbst dann, wenn er nur von ihr sprach. „Als ich sie das erste Mal sah, stand sie in einer recht großen Gruppe. Ich kam erst nach ihnen ins Internat, musst du wissen. Alle schienen sie anzuhimmeln. Kein Wunder, schließlich ist sie großartig! Ich hätte mir nicht mal eingestanden zu träumen mit ihr zu reden. Sie war so beliebt und ich, naja, ich bin schließlich das, was man wohl einen Nerd nennt. Am liebsten verstecke ich mich hinter meiner Kamera. Mittlerweile, durch den Umgang mit denen beiden, habe ich sehr viel Selbstvertrauen gewonnen. Vor ein paar Jahren wäre es mir nie in den Sinn gekommen, dich im Bus anzusprechen. Das kannst du mir glauben! Ich war ziemlich schüchtern." Er lachte kurz auf. „Als nächstes sah ich ihn. Er stand auch in dieser Gruppe und schien das männliche Pendant zu ihr zu sein. Weißt du, wie in den ganzen Hollywood-Filmen. Die beliebtesten Schüler. Die Cheerleaderin und der Football-Kapitän."

Ich nickte und erinnerte mich zu gut daran, dass ich diesen Vergleich auch gezogen hatte. Immerhin war ich nie die einzige, die so dachte.

„Objektiv gesehen, gab es keinen Grund zu glauben, dass sie zusammen waren. Ich hatte nicht mal gesehen, wie sie miteinander sprachen. Aber ich war trotzdem davon überzeugt."

Ich nickte. Ich hatte es ja selbst angenommen, noch bevor ich die beiden zusammen gesehen hatte und wenn ich sie gerade zum ersten Mal gesehen hätte, wäre ich mir noch sicherer gewesen.

„Sie schienen in einer völlig anderen Liga zu spielen. Niemals hätte ich gedacht, dass ich mich mit ihnen anfreunden würde. Tja und als ich nachdem ich mit Herrn Schröder gesprochen hatte, endlich in mein Zimmer ging, saß er da auf seinem Bett. Ich konnte es gar nicht glauben, als ich sah und er sich super freundlich vorstellte. Einfach nett war. Ich hatte erwartet, dass er ein Vollidiot sein würde. Geistig nicht besonders auf der Höhe und, dass er auf alle herabschauen würde, die nicht ansatzweise so beliebt waren wie er selbst. Ich hatte ihn völlig falsch eingeschätzt. Genauso wie du es gerade tust. Nur, dass er mir sein wahres Ich schneller offenbart hat als dir. Es ist eigentlich ziemlich witzig. Ich habe bisher nie erlebt, dass er sich solange hinter der Fassade versteckt hat, aber egal. Darum geht es ja gerade nicht. Auf jeden Fall war die Überraschung am nächsten Tag noch größer. Kim kam zu uns ins Zimmer und ich habe die beiden gefragt, ob ich lieber gehen soll, damit sie unter sich sein konnten. Sie begriffen sofort, was ich dachte und sie erzählten mir ihre Geschichte. Die Wahrheit über ihre Beziehung. Und dann, Monate später-" Er blickte Kim verträumt an. „kamen wir zusammen. Beide stellten sich als so herzensgute Menschen heraus. Niemals hätte ich damit gerechnet als ich sie das erste Mal gesehen hatte. Wirklich nicht. Doch selbst als wir zusammen waren, hörten die Zweifel nicht auf. Jedes Mal, wenn ich die beiden so sah, wie jetzt... So vertraut... hatte ich Angst, dass sie doch etwas füreinander empfanden. Aber mittlerweile habe ich begriffen, dass sie wirklich etwas füreinander empfinden. Sie lieben sich."

„Was?!", stieß ich perplex aus. Mit diesen Worten hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte gedacht, er würde sagen, dass er begriff, dass sie sich nicht liebten.

Oli lachte kurz über meine Reaktion und schüttelte den Kopf. „Nicht so! Sie lieben sich wie Bruder und Schwester, die zur selben Zeit die besten Freunde sind. Sie haben eine besondere Beziehung, weil sie beides sind. Geschwister und Freunde. Gute Freunde. Die besten Freunde. Sie sind füreinander die wichtigste Person ihres Lebens. Das klingt vielleicht etwas komisch, aber das ist in Ordnung für mich. Ich behaupte nicht, dass ich nicht manchmal eifersüchtig bin und ehrlich, manchmal kam ich mir vor wie das dritte Rad am Fahrrad. Tatsächlich glaube ich, dass ich durch deine Anwesenheit ab sofort weniger das Gefühl haben werden. Eigentlich müsste er dieses Gefühl gehabt haben und nicht ich, oder? Aber wie gesagt, im Prinzip ist es für mich in Ordnung. Sie teilen eine Liebe, die über das Normale hinausgeht. Bruder und Schwester. Heute weiß ich, dass Kim mich liebt. Daran zweifle ich nicht mehr, aber es ist einfach eine andere Art von Liebe. Die Liebe, die wir teilen ist nicht dieselbe wie die Liebe, die die beiden teilen. Ich versuche nicht mehr damit zu konkurrieren. Das hätte ohnehin keinen Zweck, weißt du? Ich nehme nicht an, dass du das verstehst. Ich kann es ja selbst nicht wirklich und es hat lange gebraucht bis ich sie zumindest erkannt habe."

Ich unterdrückte die Tränen, die drohten aufzukommen. Er täuschte sich. Ich verstand genau was er sagte. Mein Herz fühlte sich an, als würde jemand seine Faust um es schlingen und zudrücken. Ich verstand es besser als er selbst, denn ich kannte diese Liebe. Es war genauso, wie er sagte. Es hatte nichts von Romantik und war dennoch stärker als alles andere, was ich je gefühlt hatte. Manu und ich hatten diese unendliche Liebe auch geteilt. Ich hätte alles für ihn getan. Für Manu hätte ich mein Leben gegeben, ohne auch nur einen Moment zu zögern.

„Was ist los?", fragte er und schaute mich besorgt an. Scheinbar hatte ich mein Gesicht nicht so sehr unter Kontrolle, wie ich wollte.

„Es ist nur..." Ich runzelte die Stirn und überlegte wieviel ich sagen sollte. „Weißt du, Oli, ich verstehe es. Ich verstehe was du meinst. Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, dass das zwischen den beiden diese Liebe ist, von der du spricht. Dafür kenne ich sie zu wenig, aber ich weiß ganz genau, dass diese Liebe existiert. Ich weiß, dass sie real ist und wenn du glaubst, dass es sie bei ihnen ist, dann glaube ich dir."

„Aber... Woher..." Er verstummte. Er schien nicht zu wissen, wie er das, was er dachte, in Worte packen sollte. Vermutlich machte er sich Sorgen, ob er mich mit seiner Frage verletzen würde. Es war wunderbar, dass er sich so sehr bemühte, keine Fragen zu stellen, die seinem Gegenüber eindeutig nicht beantworten wollte. Er half mir damit. Vermutlich hatte ich dadurch mit ihm schon mehr über mich geredet als mit jeder anderen Person. Schon witzig, dass ihm das vermutlich nicht einmal bewusst war.

Er verdiente eine Antwort, aber ich konnte es nicht erzählen. Selbst wenn ich gewollt hätte, dass er die ganze Wahrheit kennt, wäre ich nicht in der Lage die Worte auszusprechen. Zumindest nicht heute. Ich seufzte und lächelte ihn traurig an. Früher hatte ich nie verstanden, wie das möglich sein sollte. Traurig lächeln. Das war doch paradox, aber seit Manus Tod wusste ich, dass es möglich war. Man konnte aufrichtig lächeln und dennoch von Traurigkeit überwältig sein. „Ich habe... hatte-" Bevor ich weitersprechen konnte, sogar bevor ich mich entschieden hatte, was meine nächsten Worte sein würde, platschte das Wasser auf meine Beine. Das Gefühl der Faust, die sich um mein Herz schlag, verstärkte sich. Drückte fester zu bis es sich anfühlte als wäre mein Herz geplatzt. Meine Haut brannte und zur selben Zeit lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Mir entfuhr ein spitzer Schrei und ich sprang so schnell auf, dass ich beinahe das Gleichgewicht verlor. Gerade noch so konnte ich mich fangen und sah Robin, der ohne, dass wir es gemerkt hatten zu uns geschwommen war und nun lachend im Wasser vor unserem Felsen stand.

„Arschloch!", schrie ich ihn an und eilte zurück zu unseren Sachen, wo ich mir mein Handtuch griff und über meine Beine rieb. Immer und immer wieder, auch wenn meine Haut schon längst trocken war, aber das Gefühl des Wassers blieb. 

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