008
Die beiden beließen es selbstverständlich nicht direkt dabei. Sie löcherten mich mit Fragen, doch ich antwortete nicht darauf. Es war Oli, der mich mal wieder rettete. Als er in das Zimmer kam, natürlich hatte er angeklopft, nicht so wie Robin, hörten sie auf mir Fragen zu stellen. Kim und er begrüßten sich mit einem leidenschaftlichen Kuss, bei dem ich mich peinlich berührt abwenden musste.
Robin versuchte es noch einmal mit einer Frage, aber obwohl Oli gar nicht genau wusste, worum es ging, brachte er ihn dazu seine Klappe zu halten.
So war er einfach. Er war selbst neugierig, aber er würde mich niemals dazu drängen etwas zu erzählen, was ich nicht erzählen wollte.
Kim erkundigte sich zum wiederholten Male, ob ich nicht doch mitwollte, aber ich verneinte und war heilfroh als sie endlich gingen und die Tür hinter sich schlossen. Das war auch der Moment, in dem ich zusammenbrach. Meine Beine gaben einfach nach und ich fiel zu Boden.
Ohne ein Laut von mir zu geben, fing ich an zu weinen. Die Tränen flossen unkontrolliert über meine Wangen. Der Schmerz, die Erinnerung war mächtiger als mein Wille die Tränen zu unterdrücken. Ich konnte nichts dagegen tun.
Ich vermisste sie so sehr. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, sah ich Manuel vor mir. Ich sah meinen Bruder, wie er lachte und seine Augen dabei strahlten. Ich würde alles tun, um ihn zurück zu bekommen. Ich würde auch alles dafür tun, damit er am Leben war. Wir brauchten nicht zusammen zu sein. Ich würde mein Leben, für das seine geben. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Er hatte das nicht verdient. Er sollte Leben. Ich sollte diejenige sein, die hätte sterben sollen. Es war meine Schuld. Er konnte doch nichts dafür.
Aber ich konnte nichts machen. Es war unmöglich. So sehr ich es mir wünschte. Manu war tot und nichts konnte daran etwas verändern. Ich nicht und auch sonst keiner. So sehr ich mir auch wünschte, es wäre anders. So sehr ich mir wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und es verhindern. Ich hätte es verhindern können. Ohne mich wäre es nie dazu gekommen. Ich war schuld.
„Mach das nicht.", hörte ich meine innere Stimme sagen, die verdächtig nach Manus klang.
Ich wusste, dass Manu nicht gewollt hätte, dass ich hier kniend weinte. Er hätte nicht gewollt, dass ich mir selbst die Schuld gab. Er hätte nicht gewollt, dass ich ihn betrauerte. Ich wusste, dass er von mir gewollt hätte, dass ich normal weiterlebte. Aber das ging nicht.
An diesem Tag, als sein Leben endete, starb auch ein Teil von mir. Ich würde niemals wieder die Person sein, die ich damals war und ich wusste nicht, ob ich jemals wieder glücklich sein würde. Nicht ohne ihn. Es gab Momente, in denen ich glücklicher war. Ich hatte in der letzten Woche Spaß gehabt, als ich Zeit mit Oli verbracht hatte und auch Kim schien, wenn auch etwas anstrengend, nett zu sein. Doch es fühlte sich alles dumpf an. Seit dem Unfall, hatten mich alle Gefühle nur abgeschwächt erreicht. Als wäre ich umhüllt von einer Wolke.
Ich hatte alles verloren, was mir etwas bedeutete.
„Du kannst so nicht weiter machen.", flüsterte die Stimme in meinem Kopf und ich wusste, sie hatte recht. So ging es nicht weiter. Manu hätte das nicht gewollt. Meine Eltern hätten das nicht gewollt. Sie fänden es schrecklich zu sehen, was aus mir geworden war.
Dieser Gedanke legte einen Schalter in meinen Kopf um. Ich musste stark sein. Meine alte Stärke zurückgewinnen. Mehr noch: ich musste stärker werden als jemals zuvor. Ich musste mein Herz wieder öffnen. Das war es, was Manu gewollt hätte. Er hätte gewollt, dass ich wieder glücklich werde.
Ich musste seinen Tod endlich akzeptieren und nach vorne schauen. Das würde sicherlich nicht von heute auf morgen gehen, aber ich musste es versuchen. Ich musste es in Angriff nehmen.
Das Internat war die perfekte Möglichkeit für einen Neuanfang. Oli würde die beiden schon in Schach halten. Ich konnte mich mit Kim anfreunden. Oli zählte ich schon als einen Freund und was Robin anging. Tja, ich glaubte nicht, dass wir jemals Freunde werden würden, aber ich könnte lernen mit ihm zurecht zu kommen. Frieden zu schließen. Ihn einfach als Teil der Gruppe akzeptieren.
Ich war stark genug oder zumindest war ich das mal gewesen. Früher hatte ich einen unbrechbaren Willen gehabt. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann kämpfte ich so lange, bis ich mein Ziel erreicht hatte. Das war wohl auch der Grund gewesen, weswegen ich eine so gute Schwimmerin gewesen war. Talent hatte ich natürlich auch gehabt, aber das allein hätte nicht gereicht.
Aber ein Teil meiner Kraft war mit Manu gestorben. Vielleicht war Manu auch in Wirklichkeit selbst meine Kraft gewesen. Wie auch immer, seit er tot war, war auch ein Teil meiner Stärke verschwunden. Er hatte mir immer den Rücken gestärkt. Er war immer für mich da gewesen. Egal was war, ich hatte mich auf ihn verlassen können.
Aber ich konnte es schaffen. Ich hatte den Willen und irgendwann würde die Kraft dafür folgen. Gewiss würde sie das.
Ich stand auf und lief ins Badezimmer. Meine Augen waren rot, mein Gesicht war verheult, wer hätte das gedacht? Langsam öffnete ich den Wasserhahn, ohne meinen Blick von meinen Augen zu lösen. Es waren die gleichen Augen, die auch mein Bruder gehabt hatte. Braune Augen. Der einzige Unterschied war, dass meine Augen heute Schmerz zeigten, während sie früher, genau wie Manus, Freude und Liebe ausgestrahlt hatten.
Das Geräusch des Wassers ließ mich frösteln. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich warf einen kurzen Blick nach oben, um die Kraft zu gewinnen, die ich immer brauchte, bevor ich mich dem Wasser stellte. Schnell wusch ich mir das Gesicht. Die Berührung schmerzte. Es brannte auf meiner Haut, ganz gleich, wie kalt das Wasser war. Doch es war nichts im Vergleich zu der Vorstellung, wie sehr es schmerzen würde mit natürlichem Wasser in Kontakt zu kommen. Mit dem Wasser eines Sees oder Flusses. Oder dem Wasser eines Schwimmbeckens.
Seit dem Tag des Umfalls war ich nie wieder in ein Schwimmbad gegangen und hatte es vorerst auch nicht vor. Ich wusste nicht, ob ich jemals bereit sein würde eine Schwimmhalle zu betreten, aber vielleicht sollte ich genau das machen. Vielleicht wäre das ein Schritt in mein altes Leben. Beziehungsweise in mein neues Leben. Mein Altes würde ich nie wieder zurückbekommen.
Sie kamen erst spät am Abend wieder. Das Abendessen hatte ich ausfallen lassen und falls sie auf die Idee hätten kommen sollen mich abzuholen, war ich zu dieser Zeit präventiv in den Wald gegangen.
Ich wollte sie nicht alle auf einmal wiedersehen. Ja, ich hatte mich dazu entschieden, mein Leben zurück zu gewinnen, aber mindestens für den ersten Tag konnte ich auch nicht zu viel von mir selbst abverlangen.
Jetzt saß ich auf meinem Bett, in der Hoffnung, dass Kim allein herkommen würde und nicht mit den Jungs gemeinsam. Tatsächlich hatte ich Glück.
Freudestrahlend kam sie in das Zimmer gesprungen und ließ sich auf ihr Bett fallen. Ich hatte kaum meinen Mund aufgemacht, als sie mir wieder zuvor kam: „Es tut mir echt Leid, Elle. Ich hätte dich nicht so bedrängen sollen! Oli hat recht. Wenn du es erzählen willst, dann wirst du das schon machen und bis es soweit ist, sollten wir dich nicht dazu drängen. Es geht uns ja nichts an. Wobei es mich schon interessieren würde... Du bist damals einfach von der Bildfläche verschwunden. Keiner wusste, was aus dir geworden ist. So krass, dass du jetzt einfach hier bist! Meine Mitbewohnerin! Naja, also was ich sagen wollte, ist, dass ich versuchen werde, Geduld zu haben. Ich brenne daraus, zu erfahren, was dahintersteckt, aber bis du bereit bist darüber zu reden, werde ich mir Mühe geben mich zurückzuhalten! Aber, ehrlich, ich bin ein riesiger Fan! Das war nicht gelogen! Du, also der Artikel, hat mich damals echt inspiriert! Ich wollte so gut werden, wie du, auch wenn mir klar war, dass ich das niemals schaffen würde, aber dennoch: ich wollte es versuchen! Du erinnerst dich scheinbar nicht, warum solltest du auch, ich war nur eine kleine unbedeutende Anfängerin. Kaum der Rede wert. Ich war wirklich nicht sonderlich gut. Wir haben uns auch nicht unterhalten oder so, aber ich habe dir zugesehen. Wie du durch das Wasser geglitten bist. Das sah nicht aus als würdest du schwimmen. Es war als wärst du durch das Wasser geflogen! Ich hatte noch nie etwas derartiges gesehen! Einfach wow! Und als du aus dem Wasser kamst, hast du mich kurz angelächelt, aber mehr war es auch nicht. Mir ist es trotzdem im Gedächtnis geblieben. Ich war dein größter Fan! Es muss jetzt wohl knapp drei Jahre her sein, vielleicht etwas länger. Das letzte Mal, dass ich gehört habe, dass du bei einem Wettkampf warst. Danach warst du einfach weg. Abgetaucht."
Ich wusste nicht, ob sie jemals wieder still sein würde, wenn ich sie nicht unterbrach. Schließlich hatte sie mich gewarnt, doch ich hatte nicht erwartet, dass es so ernst gemeint war. „Darf ich auch mal was sagen?"
Kims Wangen wurden rot und sie sah mich schuldbewusst an. „Es tut mir so leid! Natürlich darfst du auch was sagen. Ich hab ja schon gesagt, ich bin eine richtige Plaudertasche. Wenn ich erstmal anfange, dann höre ich gar nicht mehr auf! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr es die Jungs manchmal aufregt, wenn das passiert. Weißt du –"
Ich lachte auf. Oh sie hatte recht. Sie redete wie ein Wasserfall. Ununterbrochen, aber damit würde ich schon fertig werden. Ich gehörte eigentlich sowieso zu den Menschen, die lieber zuhörten als selbst sprachen und ich war mir auch sicher, dass Kim gerade auch mehr sprach als gewöhnlich, weil sie mich noch nicht kannte. Normalerweise plapperten solche Menschen schließlich mehr, wenn sie nervös waren oder wenn sie in einer fremden Situation waren. „Ja, also-"
„Tut mir- "
Ich hob die Hände. „Kim! Bitte! Hör auf dich zu entschuldigen! Ich bin diejenige, die sich entschuldigen muss. Es tut mir leid. Unsere erste Begegnung hätte wirklich besser laufen können. Also die zweite, genau genommen. Ich bin wohl nicht wirklich der einfachste Mensch. Nicht besonders umgänglich, aber ich habe mir selbst geschworen, mich zu bessern und ich hoffe, wir können Freunde sein."
„Natürlich!", rief sie und fiel mir um den Hals. „Das wünsche ich mir auch! Meine letzte Mitbewohnerin und ich haben uns nicht besonders gut verstanden... Sie konnte mich vom ersten Moment an nicht leiden... Sie war so ein, das sollst jetzt nicht abfällig klingen, aber ich weiß nicht, wie ich es besser formulieren soll, sie war so ein Emo-Mädchen, das alles und jeden hasste. Ich war, ehrlich gesagt, etwas erleichtert, als ich hörte, dass sie dieses Jahr nicht zurück kommen würde... Ich wusste einfach nicht, wie ich mit ihr umgehen sollte. Sie war immer so wütend... Ich mein, du scheinst auch wütend zu sein, aber auf eine ganz andere Art, verstehst du was ich meine? Nein, wahrscheinlich nicht. Du kanntest sie ja gar nicht. Sie schien wütend auf die ganze Welt zu sein und du, du bist eher wütend auf dich selbst, glaub ich."
Ich riss die Augen auf. Wie hatte sie das erkannt? Nicht einmal mein ehemaliger Therapeut hatte das so richtig begriffen. Er hatte nie verstanden, dass nicht die Trauer per se mein Problem war, sondern viel mehr die Wut auf mich selbst. Die Schuldgefühle, die ich deshalb hatte.
„Ich weiß zwar nicht, warum du wütend bist, aber weißt du? Du bezeichnest dich selbst als nicht einfach oder besonders umgänglich, doch allein die Tatsache, dass du das sagst, zeigt mir, dass du viel umgänglicher bist als sie es war. Aber jetzt wo das geklärt ist, bin ich mir sicher, dass wir Freundinnen werden können! Die besten Freundinnen!"
Sie umarmte mich erneut. Ich war mir nicht sicher, wann ich das letzte Mal so viel körperliche Nähe zugelassen hatte... Kim war die richtige Wahl. Sie würde mir helfen können bei meinem Plan. So viel Lebensfreude wie sie ausstrahlte würde auch für zwei Personen reichen.
„Meine Güte, bin ich müde!" Sie gähnte. „Wenn es dir nichts ausmacht, gehe ich schlafen."
„Geh nur, schlaf gut." Ich lächelte sie an. „Ich kann mich gut erinnern, wie es war, nach einem Wettkampf nachhause zu kommen. Zuerst merkt man es nicht und dann wird mir von der Müdigkeit fast erschlagen!"
„Oh ja!" Sie gähnte erneut. „Wie recht du hast!"
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