005
Der erste Unterrichtstag verlief auch nicht groß anders als der letzte erste Schultag an einer neuen Schule. Die Lehrer verlangten immer noch, dass ich mich kurz vorstellte, wobei ich mich immer nach meinem Namen wieder setzte und nichts über mich erzählte, wie sie es eigentlich wollten und die Schüler, die mich bisher noch nicht gesehen hatte, musterten mich neugieren. Manche lächelten mich freundlich an und andere tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Eben alles wie gehabt.
Der einzige Unterschied war die Klassengröße. Ich war es gewohnt eine von knapp 30 Schülern zu sein, doch hier bestand eine Klasse gerade mal aus der Hälfte. Es waren wohl immer zwei Klassen pro Jahrgang, die jedoch klein ausfielen. Die unteren Stufen hatten ihre Wohnheime getrennt von den unseren, wie ich erfahren hatte. Wo genau die Gebäude waren, wusste ich nicht. Vermutlich irgendwo hinter dem Schulgebäude, aber das betraf mich ja ohnehin nicht.
Manche Lehrer testeten mein Wissen, aber das meisterte ich weitestgehend ohne Probleme. Ich war immer gut in der Schule gewesen. Meine Eltern hatten mir damals das Versprechen abgenommen, die Schule nicht zu vernachlässigen und das hatte ich auch nie. Vielleicht auch zum Teil aus Angst, dass sie mir dafür andere Sachen in meinem Leben wieder strichen, wobei ich im Nachhinein nicht glaubte, dass sie das wirklich getan hätten. Sie wussten, dass es sich dabei um meine große Leidenschaft gehandelt hatte und sie liebten es mir dabei zuzusehen. Sie sagten immer, dass ich nie glücklicher ausgesehen habe.
In den letzten Jahren hatte ich nur noch mehr Zeit in die Schule investiert, da ich mein Hobby nicht mehr ausführte und auch Manu und meine Freunde nicht mehr da waren, mit denen ich Zeit hätte verbringen können. Neue Freundschaften hatte ich, seit ich bei Christoph lebte, nicht mehr geschlossen.
In der Mittagspause schloss ich mich, wohl oder übel, Oli und Robin an. Sie ließen mir nicht wirklich eine Wahl, aber das war schon in Ordnung. Auch wenn mich Robin auf die Palme brachte und ich ihn am liebsten jede Sekunde anschreien würde, war Oli wirklich nett. Meine Worte vom ersten Tag, er würde Robins Anwesenheit kompensieren, trafen sogar stärker zu als ich in diesem Moment gedacht hatte.
Auch, wenn ich mich nicht entsinnen konnte wie sie das geschafft hatten, hatten sie mich überredet am Nachmittag mit ihnen an den Strand zu gehen, wie sie es nannten, auch wenn es weit und breit kein Meer gab. Mein Verstand sagte mir zwar, das sei eine ganz dumme Idee, aber ein Teil von mir, ganz tief in mir, wollte es scheinbar und wenn ich mich jetzt doch drücken würde, würde es vermutlich nur noch mehr Fragen und nervige Gespräche auslösen.
So kam es, dass wir nach dem Unterricht unsere Sachen aus dem Zimmer holten und uns zum See begaben.
Robin hatte sich seine Klamotten schon entledigt als ich noch dabei war mein Handtuch auszubreiten. Er schien es gar nicht abwarten zu können ins Wasser zu gelangen. Ganz genauso wie ich früher. Wobei, ich wäre früher schon längst im Wasser gewesen.
Zu seiner und auch zu Olis Überraschung, legte ich mich dann jedoch auf mein Handtuch und machte keine Anstalten ihnen ins Wasser zu folgen.
„Kommst du nicht mit rein?", fragte Oli.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Ich bleib hier und lese ein bisschen."
Sie blieben lange im Wasser. Die Sonne wärmte die Luft stark auf und ich konnte mir gut vorstellen, dass auch das Wasser aufgewärmt wurde. Auch wenn es wohl noch kühl genug war, um eine schöne Abkühlung darzustellen. Für mich würde sich das aber nicht so anfühlen. Ganz im Gegenteil: würde ich ins Wasser gehen, würde es sich anfühlen als stünde ich in Flammen. Ein Seufzen verließ meinen Mund, ohne dass ich es hätte kontrollieren können. Ein Teil von mir, wünschte sich, aufzuspringen und ins Wasser zu rennen. Doch der Rest von mir wehrte sich dagegen, sodass diese leise Stimme kaum zu hören war.
Ich schoss die Augen und versuchte meine Gedanken nicht in die Vergangenheit treiben zu lassen, aber bevor ich auch nur ein neues Thema gefunden hatte, hörte ich die Jungs zurückkommen. Sie redeten und lachten lauthals. Ich öffnete kurz die Augen, um mir selbst zu bestätigen, dass ich es richtig gehört hatte. Sie kamen nicht allein zurück, sondern mit mehr Leuten, die ihre Handtücher auf dem Weg eingesammelt hatten und sie nun um unsere herum legten.
Diesmal gelang es mir das Seufzen zu unterdrücken. Wieso hatte ich eigentlich dieses vermeintliche Glück und suchte mir unter allen Schülern des Internats, die aus, die allen Anschein nach zu den beliebtesten gehörten? Sollten sie nicht die Neuen ausschließen? Wie in diesen ganzen Highschool Filmen? Die beliebten Cheerleader, die die Schule beherrschten, waren doch nie nett zu den Neuen. Ein kleines Grinsen stahl sich in mein Gesicht. Eigentlich stimmte das wohl doch nicht, beziehungsweise war das kein guter Vergleich. Schließlich hatte ich nicht die Cheerleader vor mir, sondern das männliche Äquivalent. Die Footballspieler und der beliebteste unter ihnen, was dann wohl Robins' Rolle wäre, wenn meine Beobachtungen zutrafen, wäre zwar mit der Cheerleader-Queen zusammen, doch hätte eigentlich doch eine gute Seite, die die Protagonisten erst entdecken musste. Das Grinsen erstarb als mein Vergleich an die Stelle kam, die zwangsläufig in jedem Teenie-Film auftrat: Die Außenseiterin, die Neue, die Streberin oder was auch immer ich in diesem Film für ein Stereotyp aufgeklebt bekommen hätte und der Footballspieler verliebten sich und kamen zusammen. Etwas, was ganz sicher nicht passieren würde. Niemals. Nein. Absolut nicht. Dieser Vergleich hinkte von vorne bis Hinten. Wie war ich denn auf so etwas gekommen. So was Idiotisches.
Ich schüttelte den Kopf, im Versuch damit diesen Vergleich zu vergessen. Natürlich geschah das nicht, aber Olis Stimme half zumindest erstmal an etwas anderes zu denken: „Elle, ist alles in Ordnung? Sicher, dass du nicht ins Wasser willst? Dir musst doch unglaublich warm sein."
„Ja, alles bestens.", antwortete ich schnell und stand auf. „Tatsächlich mach ich mich wohl auf den Weg zurück. Ich... Äh... Ich habe gesagt, ich würde... zuhause... anrufen."
„Oh, in Ordnung." Oli schien ein wenig gekränkt, dass ich schon wieder verschwand.
„Wenn ihr wollt, könnt ihr mich zum Abendessen in meinem Zimmer abholen, damit wir zusammen essen können."
Das Lächeln kehrte zurück auf sein Gesicht. „Ja, klar! Dann bis später, viel Spaß!"
Ich nickte ihm zum Abschied zu und ging zurück auf mein Zimmer.
Dort überlegte ich tatsächlich, ob ich Christoph anrufen sollte, aber entschied mich dagegen. Wir hatten ohnehin nichts zu besprechen. War ja auch nicht so, dass er sich nochmal gemeldet hätte. Er hatte bestimmt viel zu tun. Hatte er ja immer.
Stattdessen setzte ich mich im Schneidersitz auf den Balkon mit meinen Kopfhörern auf den Ohren und startete meine Playlist. Die Klavierklänge befreiten meinen Kopf von allen Gedanken des Tages.
Die nächsten Tage liefen dann alle nach demselben Muster ab. Ich trank morgens mit Oli einen Kaffee auf den Balkon und wenn sich Robin dazugesellte, dann nervte er damit, dass es unfair sei, dass er keinen bekäme. Natürlich wusste ich, dass er recht hatte und es war kindisch von mir, ihm keinen zu geben, aber eine trotzige Stimme in mir flüsterte mir zu, dass er welchen bekommen hätte, wenn er sich nicht so sehr darüber aufregen würde ihn nicht zu bekommen.
Dann liefen wir gemeinsam in den Unterricht, wobei wir fast alle Kurse zusammen hatten, wenn auch nicht alle, trafen uns zum Mittagessen und wenn die Schule vorbei war, gingen wir meistens an den See. Die beiden gingen ins Wasser und ich blieb am Ufer. Oli schaffte es, Robin weitestgehend unter Kontrolle zu halten, dass er mich nicht zu sehr damit nervte ins Wasser zu gehen, doch heute schien Robins Geduld ein Ende zu nehmen.
Es war Freitag, der letzte Schultag der Woche und wir breiteten unsere Handtücher aus. Die Sonne strahlte stark auf uns hinab. Auch wenn schon Mitte September war, ließ sich das Wetter das nicht anmerken. Es war Hochsommer. Die ganze Woche schon hatte sich keine Wolke gezeigt, aber die Temperaturen stiegen immer weiter in die Höhe.
Noch während ich mein Oberteil auszog, war mir klar, dass ich nicht lange bleiben würde. Es war einfach zu warm.
Ich hatte eigentlich gedacht, dass die beiden eingesehen hatten, dass ich nicht ins Wasser gehen würde, doch tatsächlich blickten sie mich überrascht an, als ich mich auf mein Handtuch legte und nach meinem Buch griff.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst!", rief Robin und warf die Arme dabei in die Luft. „Du kommst mit in den See!"
„Nein, das werde ich nicht."
„Oh und ob du das tust!", rief er. „Wir gehen alle ein vor Hitze!"
„Ich hab doch in keiner Sekunde verlangt, dass du oder sonst wer, draußen bleibt. Geht. Geht ins Wasser und bleibt dort solange ihr wollt. Ich bleibe hier.", antwortete ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Was stimmt denn nicht mit dir?", fragte er, völliger Unglaube, aber auch Ärger standen ihm ins Gesicht geschrieben. „Kannst du nicht schwimmen, oder was?"
Irgendein Faden riss in mir und ich sprang wütend auf. „Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen? Was ich tue oder nicht tue, geht dich rein gar nichts an!"
„Krass! Das ist es, oder? Du kannst wirklich nicht schwimmen." Der Ärger verschwand aus seinem Gesicht und machte Platz für ein schiefes Grinsen: „Ich kann es dir beibringen! Wäre nicht das erste Mal, dass ich das mache. Ja, das ist doch eine tolle Idee! Wir können gleich anfangen! Ich werde dir das Schwimmen beibringen!"
„Einen Teufel wirst du tun!", rief ich als ich endlich meinen Schock abgeschüttelt hatte. Ich griff nach meinen Sachen und warf sie alle in die Tasche. „Ich verschwinde."
„Aber-"
„Vergiss es." Ich blickte zu Oli. „Sorry, aber ich ertrag ihn jetzt einfach nicht. Wir sehen uns später."
Als ich davonlief, hörte ich Olis Stimme, die Robin die Leviten las. Ich hatte zwar gesehen, dass Oli genauso gerne wissen wollte, warum ich nichts ins Wasser gehen wollte und auch, dass er Robins Idee, ich könne nicht schwimmen, so lächerlich sie auch war, für sehr plausibel hielt, fand er die Art wie Robin sich verhalten hatte, nicht in Ordnung. Oli hätte nichts gesagt. Er hätte es einfach akzeptiert und hätte sich im Stillen darüber gewundert.
„Na, das lief doch super.", murmelte ich leise vor mich hin. „Großartig."
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