004
Als ich am nächsten Morgen die Küche durchstöberte, war noch keiner da. Es war noch früh und schließlich der Sonntag bevor die Schule anfing. Kein Wunder, dass alle ausschlafen wollten. Ich entschied mich für eine Schüssel Müsli und spülte sie anschließend direkt ab. Die Schüler mussten wirklich verantwortungsbewusst sein oder aber diese Küche würde in wenigen Tagen einfach nur ekelhaft sein. Wir würden sehen. Im Notfall stand in unserem Zimmer ein Minikühlschrank. Ich war mir zwar ziemlich sicher, dass Kim diesen mitgebracht hatte und er nicht zur Standardausstattung gehörte, aber sie würde schon nichts dagegen haben, wenn ich da ein oder zwei Sachen reinstellte.
Zurück in meinem Zimmer, schaltete ich die Kaffeemaschine wieder ein und beobachtete wie dieser Traum eines Getränkes in die Tasse floss. Nichts konnte dem das Wasser reichen.
Ich lief nach draußen auf den Balkon und stützte mich mit den Unterarmen auf dem Geländer ab, während mein Blick über den See glitt. Später würde ich mir den nochmal in Ruhe anschauen gehen. Ohne diesen nervigen Robin. Eigentlich sollte ich wohl jetzt gehen, aber bevor ich mich dazu entschieden hatte, hörte ich rechts von mir eine Tür auf und wieder zu gehen.
Kurz hatte ich Panik, dass es sich um Robin handeln würde, doch zu meinem Glück, war es Oli, der auf den Balkon trat.
„Guten Morgen.", begrüßte ich ihn leise und richtete mein Blick zurück auf das Wasser.
„Morgen! Stört es dich, wenn ich hier ein paar Fotos mache?"
„Nur zu. Lass dich von mir nicht aufhalten."
Oli hob die Kamera bereits hoch, doch sein Blick blieb ganz plötzlich an meinen Händen hängen. „Was ist das?"
Mit gerunzelter Stirn stellte ich fest: „Das ist eine Tasse Kaffee?"
„Ja, aber wo hast du den her?", fragte er. „Bist du etwa extra in den Speisesaal gelaufen? Ich hätte nichts dagegen, wenn du mir das nächste Mal einen mitbringst, wenn du sowieso hingehst! Also nur, wenn es dir nichts ausmacht. Der morgendliche Kaffee ist wohl das einzige, was ich hier vermisse, aber ich bin meistens zu faul, um dort hinzulaufen."
Ich lachte kurz auf. „Wie trinkst du ihn denn?"
„Mit einem Schuss Milch." Freude trat auf sein Gesicht. „Heißt das, du bringst mir das nächste Mal einen mit?"
„Das heißt, ich mache dir jetzt einen.", antwortete ich und lief zurück in mein Zimmer.
Seinem verdutzen Gesichtsausdruck, als ich wieder rauskam, nach zu urteilen, hatte er es noch nicht verstanden und während ich ihm die Tasse und die Milch reichte, erklärte ich: „Chris-, also mein – Ähm, ich habe eine Kaffeemaschine zur Einweihung geschenkt bekommen. Ohne Kaffee kann ich einfach nicht überleben!"
„Oh wie genial!", rief er. „Dass ich selbst noch nicht auf die Idee gekommen bin." Er schüttelte ungläubig den Kopf und nahm einen Schluck. „Meine Güte, der schmeckt zu himmlisch! So viel besser als den, den es hier gibt!"
„Das freut mich!"
Wir schwiegen, beide unseren Kaffee genießend, doch nach ein paar Minuten unterbrach Oli die Stille: „Er ist nicht immer so."
Auch wenn er keinen Namen verwendete, wusste ich von wem er sprach. Von Robin.
„Er ist ein riesiges Klischee. Harte Schale, weicher Kern, weißt du? Er macht viele Witze, sagt was er denkt, ohne wirklich darüber nachzudenken, ob es jemanden weh tut, aber er hat ein gutes Herz. Er verbirgt es nur sehr gut."
„Wieso erzählst du mir das?"
„Das weiß ich nicht genau. Es erschien mir richtig..." Er machte eine kurze Pause. „Die Schule ist klein und ihr wohnt Tür an Tür und ich, für meinen Teil, finde dich sehr nett und würde mich freuen, wenn wir Zeit miteinander verbringen würde und Kim bestimmt auch, sobald sie dich kennt und wir sind alle befreundet. Er wird dir oft über dem Weg laufen. Da führt nichts dran vorbei und deshalb solltest du wohl wissen, dass er nicht nur ein Arschloch ist."
Vielleicht stimmte das ja, aber es gab Menschen, bei denen man schon im ersten Moment wusste, dass man nie zueinander finden würde und er war eine solche Person für mich. Er gehörte zu dieser Art von Mensch, von denen ich mich fern zu halten versuchte und mein Bruder mich immer gewarnt hatte. Wenn Manu nur hier wäre...
Als hätte er gespürt, dass wir über ihn sprachen, kam Robin raus auf den Balkon. „Oh, wen haben wir denn da! Elena, wie schön meinen Tag mit deinem Anblick zu beginnen! Es könnte nur schöner sein, wenn du die Nacht in meinem Bett verbracht hättest!"
„Und du bist dir sicher bei dem was du mir erzählt hast, Oli?", fragte ich ihn mit hochgezogenen Brauen.
Er zuckte mit den Schultern und schüttelte über die Worte seines Freundes den Kopf.
„Warte mal, Oli, hast du da etwa einen Kaffee?", fragte Robin als sein Blick auf die Tasse fiel.
Oli nickte und lächelte mich an. „Elena hat eine Kaffeemaschine."
„Nein, wirklich? Machst du mir auch einen?"
„Nein.", antwortete ich knapp und ließ die beiden allein zurück. Dabei hörte ich Oli noch lachen und Robin rief mir irgendwas hinterher, aber ich beachtete es nicht weiter.
Nach diesem Vorfall lief ich nun doch nach unten zum See. Der Ort, an dem ich auch gestern schon gewesen war, musste der Treffpunkt für alle sein. Verständlicherweise. Hier hätte ich mit meinen Freunden auch Zeit verbracht. Eine große Sandfläche und keine Pflanzen, die den Blick oder gar den Zugang zum Wasser versperrten. Von der Stelle nebenan konnte man dies nicht behaupten. Dort begann ein Wald, der zumindest von dem Balkon aus, gar nicht so klein wirkte. Sicherlich würde ich dort irgendwo eine schöne Stelle finden. Schnell zu erreichen, aber dennoch ruhig und einsam.
Tatsächlich fand ich sehr schnell einen geeigneten Platz. Vielleicht 100 Meter in den Wald hinein lag ein Baumstamm, direkt am Ufer. Vielleicht zwei Meter vom Wasser entfernt, aber mit wunderbarem Zugang. Die Vegetation bildete direkt davor eine Art Lücke, sodass man den See perfekt sehen konnte.
Zufrieden setzte ich mich auf den Baumstamm. Das Wasser war ganz still, doch im Gegensatz zu gestern, war das Wasser nicht mehr klar und blau, sondern trüb. Vielleicht lag es am Wald oder an der Sonne, aber ich fühlte mich in meinen Gefühlen bestätigt. Dem Wasser konnte man nicht trauen. In einem Moment sah alles friedlich und wunderschön aus, aber im nächsten konnte es gefährlich und unberechenbar werden. Das hatte ich am eigenen Leib erlebt.
Ich ließ die Gedanken los und tauchte ganz ab in den Irrgarten meiner Gefühle. Ich versuchte an nichts festzuhalten, an nichts zu denken, sondern ließ mich nur treiben. Ließ den Schmerz und die Trauer meinen Körper erfüllen. Versuchte nicht mehr sie zu unterdrücken, sondern hieß sie auf gewisse Weise sogar willkommen. Beide Gefühle waren ein Teil von mir. Ein sehr großer Teil und die ließen sich nicht immer unterdrücken. Ich versuchte es im Alltag so gut es ging, um überhaupt leben zu können, aber fast täglich, suchte ich einen Ort wie diesen auf und ließ allen Gefühlen freien Lauf.
Ich wusste nicht, was mein ehemaliger Therapeut dazu sagen würde. War das hier eine gesunde Bewältigungsstrategie? Vermutlich nicht, aber das war mir gerade ziemlich egal. Für mich fühlte sich das richtig an. Ganz gleich, ob es das war oder eben nicht.
„Elena!", rief Robin, der vor mir im Wasser aufgetaucht war. „Was machst du denn hier hinten? Wieso bist du nicht vorne bei uns?"
„Keine Lust."
„Kommst du ins Wasser?", wollte er wissen und schwamm Richtung Ufer.
„Nein."
„Ach komm schon!", rief er mir grinsend zu. „Es ist so verdammt heiß! Gönn dir eine kleine Abkühlung!"
Zwar hatte er recht, es war wirklich sehr warm, aber das würde ich ihm nicht sagen. „Nein."
Doch so schnell gab er nicht auf. Noch aus dem Wasser, versuchte er mich nass zu spritzen. Erschrocken sprang ich auf. Es hatten nur wenige Tropfen meinen Körper getroffen, doch diese reichten aus, dass ein stechender Schmerz durch meinen Körper floss. „Tu das nie wieder!", versuchte ich ihn mit bedrohlicher Stimme anzuschreien, aber meine Stimme klang eher schwach. Ich war nicht auf diesen Schmerz vorbereitet gewesen. Es hätte nicht weniger weh getan, wenn ich gewusst hätte, aber der Schock machte es noch einmal schlimmer.
„Das war doch nur ein bisschen Wasser!", rief Robin lachend und kletterte aus dem See.
Er würde das nicht so leichtfertig sagen, wenn er wüsste wie sehr es mir schmerzte. Er hatte doch keine Ahnung. Die Wut stieg in mir auf. Meine Hände verkrampften und ich kämpfte mit mir, um nicht in Tränen auszubrechen. Manchmal hasste ich mich dafür, weinen zu müssen, wenn ich sauer war. Das ließ mich bei einem Streit immer schwach wirken. Vielleicht war ich das ja auch, aber mein Körper sollte das gefälligst nicht so offen zeigen!
Robin stand nun direkt vor mir und ich starrte stur gerade aus, während ich versuchte meine Atmung wieder unter Kontrolle zu kriegen. Geradeaus hieß in diesem Fall, dass ich Robins Brust anstarrte. Bis zu diesem Moment war mir sein Tattoo noch nicht aufgefallen. Von etwa der Mitte aus, in Richtung der linken Brust, zierte eine EKG-Linie auf welcher ein Wolf rannte.
Ich widerstand dem Drang ihn nach der Bedeutung zu fragen. Vermutlich war er sowieso einer von denen, die sich etwas ohne Bedeutung stachen. Einfach weil sie es cool fanden. In ein paar Jahren bereute er es wahrscheinlich. So war es doch meistens, wenn sich jemand etwas ohne Bedeutung stach. Doch ich musste zugeben, dass mich das Tattoo faszinierte. Es war ein wenig wie bei Robins' Augen. Auch sie faszinierten mich, obwohl sie gruselig waren, so ganz schwarz. Das Tattoo war zwar nicht gruselig, aber ich mochte Tattoos nicht besonders gerne und vor allem nicht, wenn sie keine Bedeutung hatten. Umso spannender aber fand ich es, wenn sie eine tiefe Bedeutung trugen.
Als ich mich schlussendlich doch losreißen konnte und ihm ins Gesicht blickte, grinste er mich verschmitzt an. „Gefällt dir der Anblick meines Körpers?"
Ich schnaubte verächtlich und drehte mich weg, um zu gehen. Aus dem Augenwinkel sah ich wie er etwas sagen wollte und versuchte mich festzuhalten, aber ich wisch aus und langsam, nach jedem Wort eine kurze Pause machend, um dem gesagten mehr Nachdruck zu verleihen, sagte ich: „Ich. Werde. Nicht. Ins. Wasser. Gehen. Und jetzt lass mich in Ruhe!"
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