002
Ein Mann mittleren Alters wartete bereits auf dem Parkplatz als der Bus anhielt. Er und weitere Schüler, die ihre Freunde umarmten und sich darüber unterhielten, wie sie die Sommerferien verbracht hatten. Während ich zur Gepäckausgabe lief, blickte ich auf den großen Gebäudekomplex auf der linken Seite. Es war eine seltsame Mischung aus alt und neu.
Das am ältesten aussehenden Gebäude bestand aus dunklen Backsteinen, hatte Spitzbogenfenster und Wasserspeier thronten auf den Dächern. Es könnte die perfekte Kulisse für irgendein Fantasy-Roman sein oder für einen Thriller, in dem jemand entführt wurde und den Weg aus den dunklen Gemäuern suchte, ohne von einem Psychopathen gefunden zu werden, um am Ende herauszustellen, dass sie mitten im Nirgendwo waren.
Das zweite Gebäude stand im großen Kontrast zu diesem. Der vordere Teil hatte einen runden Grundriss mit einer Kuppel als Dach, beides fast vollständig aus Glas. Die armen Leute, die das sauber halten müssen, schoss mir durch den Kopf. Der hintere Teil sah völlig normal aus. Ein Gebäude eben.
Etwas abseits von den beiden, waren noch zwei weitere zu sehen. Zwei identische Gebäude mit mehreren Stockwerken. Sie erinnerten mich an diese typischen Hotelkomplexe am Strand. Die gesamten Fassaden waren von Balkonen bedeckt. Das müssten die Wohnheime sein. Auf der Homepage wurde damit geworben, dass jedes Zimmer seinen eigenen Balkon hatte. Manche sogar mit Aussicht auf den angrenzenden See. Ich konnte nur hoffen, dass ich ein solches Zimmer bekommen würde. Wobei mich selbst das wohl nicht daran hindern würde, jeden Tag dort hinzulaufen und auf das Wasser zu starren.
„Du musst Elena sein, richtig?" Die Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Es war die des Mannes, den ich schon gesehen hatte.
Ich nickte und griff nach meinem Koffer.
„Sehr schön, dann komm mal mit. Mein Name ist Herr Schröder. Ich bin der Schulleiter dieses Internats. Soll ich dir bei deinem Gepäck helfen?"
„Nein, das geht schon.", antwortete ich und mühte mich zu einem kleinen Lächeln ab.
Er rieb seine Handflächen aneinander und lief los. Ich folgte ihm.
Während wir liefen, erzählte er mir ein wenig von der Geschichte der Schule, doch ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Stattdessen blickte ich mich suchend um und versuchte den See zu entdecken. Vermutlich lag er hinter den Gebäuden.
Ich erfuhr, dass in dem alten Gebäude die Klassenzimmer lagen, die Glaskuppel beherbergte den Speisesaal und hinten war ein großer Aufenthaltsraum, die Bibliothek und Lernräume, die zur freien Verfügung standen. Wir gingen jedoch in keines der Gebäude rein, sondern steuerten geradewegs auf die Wohnheime zu. Dass es sich tatsächliche um die Wohnheime handelte, bestätigte er mir auch direkt. Kurz bevor wir eines davon erreichten, verzog er das Gesicht, als wäre ihm gerade wieder etwas eingefallen und sah mich entschuldigend an. „Das ist wohl die perfekte Gelegenheit, um mich für die Umstände zu entschuldigen."
Ich runzelte die Stirn und überlegte kurz, ob er gerade etwas erzählt hatte wozu seine Worte passten, aber mir kam nichts in den Sinn. „Entschuldigung, aber worüber genau sprechen Sie?"
Er stockte, blieb abrupt stehen und sah mich mit vor Entsetzen geweiteten Augen an. „Du... Du weißt es nicht? Christoph hat es dir nicht gesagt?"
„Christoph?", wiederholte ich verwirrt. „Was soll er mir gesagt haben?" Was hatte er mir verschwiegen?
„Christoph und ich sind alte Freunde. Als Kinder haben wir in derselben Straße gewohnt, hat er das nicht erzählt?"
Ich schüttelte den Kopf. Es war mir jedoch egal, ob sie sich kannten. Viel mehr wollte ich wissen, was ihm so leidtat und was Christoph solche Angst gemacht hatte, dass er es mir nicht persönlich hatte sagen wollen.
„Letztes Jahr gab es ein Feuer hier in den Wohnheimen.", begann er seine Erklärung. „Dabei sind einige Zimmer zerstört worden. Wir sind keine allzu große Schule und der Förderverein bemerkte, dass es noch einige freie Zimmer gab und wolle daher das Geld nicht in die Renovierung der Zimmer stecken, sondern in eine bessere Ausstattung investieren."
Soweit so gut. Aber wo war jetzt das Problem? Es gab genug Zimmer, also was sollte das?
„Der Grund, weshalb ich dir das erzähle, ist der, dass die Zimmer im Gebäude für die Mädchen alle voll belegt sind und du deshalb, genau wie noch drei weitere Mädchen, im Jungengebäude untergebracht seid. Christoph meinte, dies sei kein Problem. Es tut mir leid, dass du das so erfahren musstest. Ich bin davon ausgegangen, dein Vater hätte mit dir darüber gesprochen."
Am liebsten hätte ich ihn angeschrien und gesagt, Christoph sei nicht mein Vater, aber ich schwieg und rieb mir über die Augen. Ich hatte mit etwas schlimmeren gerechnet. Was war schon dabei. Es konnte mir doch egal sein, ob im Zimmer nebenan Jungs oder Mädchen wohnten. Welchen Unterschied machte das schon? „Das ist schon in Ordnung.", sagte ich deshalb.
Man konnte förmlich sehen, wie die Anspannung vom Direktor fiel. Er bedankte sich und setzte sich wieder in Bewegung.
Das große Zimmer, welches uns beim Eintritt erwartete, glich auf dem ersten Blick einem Wohnzimmer, nur hatte es von allen mehr als gewöhnlich. Mehrere große Tische, Sofas und Sessel. Es gab auch einen Tischkicker und Billardtisch. Überall saßen Schüler und unterhielten sich. Sie waren alle so sehr in ihren Gesprächen vertieft, dass sie uns keines Blickes würdigten.
„Der Aufenthaltsraum.", erklärte Schröder unnötigerweise.
Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine Küche. Unter anderem mit drei Kühlschränken. „Dort sind unterschiedliche Sachen zum Frühstücken zu finden. Hast du spezielle Wünsche, kannst du sie äußern, aber eigentlich ist da immer für jeden etwas dabei. Mittag- und Abendessen gibt es, wie gesagt im Speisesaal. Wasserkocher und Tee gibt es hier, eine Kaffeemaschine nicht. Zu viele sind über die Jahre kaputt gegangen."
Entsetzt riss ich die Augen auf. Keinen Kaffee? Ich brauchte unbedingt meinen Kaffee. Es gab nichts Besseres.
Als hätte er meine Gedanken gehört, erklärte er: „Kaffee kann man sich im Speisesaal holen."
Er lief weiter zu den Treppen und blieb im zweiten Obergeschoss vor einer Tür mit der Aufschrift 23 stehen. Darunter stand in kleineren Buchstaben zwei Namen. Kim Fischer und Elena Meissner.
Ich versuchte die Wut runterzuschlucken. Das war nicht mein Name! Nach all der Zeit hatte ich mich noch immer nicht daran gewöhnt. Da sollte Garcia stehe. Elena Garcia. Mein echter Name.
„Gehen wir rein!" Herr Schröder öffnete die Tür und trat ein.
Das Zimmer war größer als ich dachte. Der Eingangstür gegenüber befand sich eine große Glastür, die raus zum Balkon führte und was sich dahinter befand, konnte ich gar nicht recht glauben. Der See war viel größer als er auf den Karten aussah und ich hatte von hier die perfekte Sicht darauf. Es war umwerfend schön. Wie hypnotisiert davon steuerte ich darauf zu und blieb am Geländer stehen. Der Rektor folgte mir nach draußen.
„Viele Schüler verbringen ihre freie Zeit dort unten.", unterbrach Schröder die Stille. „Im Sommer trainiert der Schwimmkurs auch manchmal dort, aber ansonsten gibt es ja die Schwimmhalle hinter dem Schulgebäude. Ich hatte ganz vergessen, dir das zu erzählen! Wie dumm von mir. Christoph berichtete, dass du eine begnadete Schwimmerin seist! Ich bin mir sicher, dass du dort einen Platz bekommst."
„Ich schwimme nicht. Nicht mehr."
„Oh, schade." Ich spürte, dass er nachfragen wollte und deshalb lief ich schnell zurück nach drinnen und schaute mir das Zimmer an. Doch wirklich los kam ich von dem Thema nicht, denn mein Blick fiel auf die Wand über eines der Betten. Dort hingen mehrere Fotos und Plakate von Schwimmern. Das konnte doch nicht wahr sein.
Wie um meine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen, berichtete Schröder: „Deine Mitbewohnerin, Kim, wird erst in einer Woche eintreffen. Sie ist momentan noch bei einem Schwimmwettkampf."
„Ah, okay.", antwortete ich knapp. Wieso ausgerechnet meine Mitbewohnerin?
Ansonsten war das Zimmer nichts Außergewöhnliches. Zwei Betten, zwei Schränke, zwei Schreibtische und ein kleines, aber feines Badezimmer.
Doch dann fiel meine Aufmerksamkeit auf ein Paket auf dem Bett. Der Schulleiter folgte meinem Blick. „Das ist ein kleines Einweihungsgeschenk deines Vaters."
Erneut schluckte ich die Wut hinunter. Er sollte endlich aufhören ihn so zu nennen!
„Wenn du keine weiteren Fragen hast, dann lasse ich dich jetzt allein, um dich schön einzurichten. Von 18 bis 21 Uhr gibt es Abendessen."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top