.:38:. Kaiser und ihre Macken

„Haruhi - der Frühlingstag." Eine Person mit einer unendlich tiefen Stimme trat hinter sie und jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken. Sie wagte es nicht, sich zu rühren. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und drehte sie um. „Meine Erbin vermag mich nicht anzusehen?" Amüsiert zwang er sie dazu, ihn anzusehen.

Vorsichtig öffnete Ria die Augen. Der Mann war ihr männliches Ebenbild. Zugegeben, er hatte Augen wie Quecksilber, aber er sah ihr tatsächlich ähnlich. „Ich bin niemandes Erbin", flüsterte sie verwirrt.

„Natürlich nicht", entgegnete der Mann mit spöttisch-schiefem Lächeln und einer wegwerfenden Handbewegung. „Du bist so schön geworden, wie ich gehofft hatte. Das zweifelsohne schönste Mädchen in meiner Familie."

Kopfschüttelnd trat Ria zurück. „Eitelkeit ist eine Sünde."

„Die Menschen." Er belächelte ihre Aussage und musterte sie wohlwollend. „Du schenkst mir einen neuen Nachfahren." Freude tanzte in den silbernen Augen. „Von kaiserlichem Geblüt." Mit wehendem Umhang trat er weiter auf sie zu. Dadurch lenkte er ihre Aufmerksamkeit auf seine Kleidung. Wie ein Kaiser aus der alten Zeit, dachte sie fasziniert. So etwas hätte Raphael im Mittelalter auch getragen. Kein Zweifel, das musste der verstorbene Kaiser selbst sein.

„Nun, meine Enkelin, weshalb bist du hier?"

Ria war viel zu perplex, um ihm zu antworten. Sie hockte sich auf den Boden und musterte ihn stumm. „Sie sind mir so ähnlich. Warum hat Marjan das nicht erkannt?"

Der Mann lachte tief. „Marjan. Das Alter lehrt uns Vergessen. Ich bin mir sicher, dass ihm die Ähnlichkeit schon aufgefallen ist." Der tote Herrscher beugte sich zu ihr herunter. „Schließlich war er mein engster Vertrauter. Dass deine Seele zu der seines Sohnes passt, muss ihm ungemeine Freude bereiten."

Ria wurde misstrauisch. „Er hat es von Anfang an gewusst", hauchte sie tonlos.

„Natürlich hat er das." Haru drehte sich um und starrte Eleasar interessiert an. „Marjan hat gute Quellen, das wusste ich immer zu schätzen." Langsam trat er vor den Prinzen. „Sie verändert dich." Er packte Eleasars Unterarm an der Stelle, an der sich das Zeichen befand. „Wir werden sehen, was die Zeit bringt." Ebenso plötzlich, wie er zugefasst hatte, ließ er wieder los. Sein Blick blieb an Raphael hängen, dem er kaum merklich zunickte. „Mein Nachfolger." Er schien kurz zu überlegen und wandte sich dann wieder an Ria. „Du warst neugierig. Jetzt musst du mir sagen, ob du meine Erbin werden willst."

Verwirrt rettete sie sich in Eleasars Arme. „Was soll das sein?"

Der Alt-Kaiser lächelte sie gutmütig an. „Nun, vorerst das Wissen um unsere Fähigkeiten. Du kannst so viel mehr damit erreichen. Sobald du lernen willst, komm vorbei. Niemand wird uns stören. Ich habe jedoch eine Bedingung." Sein Lächeln wurde breiter. „Ich will dein Kind treffen."

Sie gefror in den warmen Armen ihres Mannes. „Ich traue dir nicht. Warum sollte ich mein Baby herbringen?"

„Du wärst töricht, mir völlig zu vertrauen", bestätigte Haru ihren Eindruck. „Das sollst du auch nicht. Ich wache über meine Familie. In meiner Gegenwart wird dem Kind nichts geschehen. Du wurdest hier geboren, Ria. Wollte ich meiner Familie schaden, wärst du nicht am Leben. Stattdessen glaube ich, dass du für einen Neubeginn stehst. Du veränderst die Wesen um dich herum, ohne es zu wissen. Mein Nachfolger muss es gespürt haben, als er dich zum ersten Mal sah."

Misstrauisch beäugte sie ihn. Es machte sie wahnsinnig, dass sich hier alles gleich anfühlte. „Und ich verkaufe nicht meine Seele an den Teufel, wenn ich noch einmal herkomme?"

Ihr Vorfahr begann herzhaft zu lachen. „Meine Frau hat mich das gleiche gefragt, bevor ich sie zu der meinen machte. Offenbar hat ihr Temperament die Generationen überdauert." Sein Blick wurde ernst. „Nein, Ria, du verkaufst mir nicht deine Seele. Auch nicht die deines Kindes. Ich bin neugierig auf das Leben nach mir, das ist alles."

Das, was er sagte, ergab irgendwie Sinn. Wenn sie so um die dreitausend Jahre in einer Höhle eingesperrt wäre, würde sie ebenso empfinden. Zudem hatte sie keine Angst vor ihm. Eher Respekt und natürliches Misstrauen. „Was ist mit meiner Schwester? Warum gerade ich und nicht sie?"

„Deine Schwester..." Forschend blickte er in Rias orangene Augen. „Sieht mir nicht ähnlich."

Das erinnerte sie daran, dass sie zu Beginn ihres Treffens festgestellt hatte, dass er eitel war. „Gebongt. Aber es muss doch Bilder von dir geben. Warum ist niemandem die Ähnlichkeit aufgefallen?"

„Interessant, nicht wahr?" Geheimnisvoll lächelte er in die Runde. „Nun, was tust du, wenn du nicht erkannt werden willst?"

Sie bat Ragna, sie zu verschleiern. Haru las die Antwort in ihren Augen und nickte anerkennend. „Komm zu mir, wenn du mehr herausfinden willst." Er trat einen Schritt zurück und löste sich auf. Sofort fiel es allen Anwesenden leichter, zu atmen.

Erleichtert ausatmend lehnte Ria sich an ihren Mann. „Fandet ihr den auch so unheimlich?"

„Er war Kaiser", entgegnete Eleasar schlicht. „Die haben alle ihre Eigenarten." Entschuldigend sah er Raphael an. Der zuckte nur undeutlich mit den Schultern. „Es stimmt ja."

„War jedenfalls interessant", murmelte Ria müde. „Ich weiß jetzt, dass meine Familie ein Haufen Verrückter ist. Oh, und dass mein toter Vater mich stalkt!" Den letzten Satz rief sie in den Nebel hinein. Dennoch war sie froh. Froh, ihre Familie doch noch in irgendeiner Form zurückbekommen zu haben. Dankbar fiel sie Raphael um den Hals. „Danke. Vielen, vielen Dank. Die sind zwar alle bescheuert, aber doch irgendwie meine Familie."

Gerührt erwiderte er ihre Umarmung. „Gerne. Solange du nicht vergisst, dass du für mich auch zu meiner Familie zählst."

Freudentränen kullerten ihre Wangen hinab, als sie den Kopf schüttelte und Schutz in Eleasars Armen suchte. Diese Emotionen waren einfach zu viel für sie. „Bitte sagt niemandem was von dem verrückten Alten. Den muss ich erst noch einordnen."

Lachend nahm Eleasar seine Frau in die Arme. „Was sollten wir denn erzählen? Dass er dir angeboten hat, dich in die in Vergessenheit geratenen Geheimnisse deiner Art einzuweihen?"

Raphael teilte seine Meinung. „Haru war vor zwei Generationen Kaiser. Es gibt kein Erbrecht in der Thronfolge. Eleasars Status bleibt unverändert und der Rest ist Privatsache." Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Ich werde dich also nicht nachnominieren."

Ria trudelte die Kinnlade herunter. „Das geht? Ich habe nicht mal so ein unheimliches Tattoo."

„Vergleich das nicht mit menschlichen Dingen", murrte Eleasar ungehalten. Für Menschen mochten Körperzeichnungen etwas Normales sein, hier war es das keinesfalls und er war stolz darauf.

Ria merkte, dass er ihre Ansicht nicht teilte und beeilte sich, Wiedergutmachung zu leisten. „Hey, was hältst du davon, wenn wir nachher bummeln gehen?"

Er lächelte schwach. „Man sollte meinen, du siehst dich herausgefordert, mein ganzes Geld auszugeben."

Sie gab ein würdevolles Seufzen von sich. „Du wolltest vor ein paar Tagen noch das Kinderzimmer einrichten, nicht ich." Sich ein wenig kabbelnd machten sie sich auf den Weg zum Ausgang.

Am Fuße des steinernen Konstrukts hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Nach harten Verhandlungen setzte Eleasar sie schließlich ab, damit sie die wenigen Meter bis zur Kutsche laufen konnte. Es war ihm schleierhaft, warum sie so auf ihre Selbstständigkeit beharrte, wenn er sie doch nach Strich und Faden verwöhnen wollte.

Raphael half Ria soeben galant beim Einsteigen, da löste sich eine verzweifelt wirkende Frau aus der gaffenden Gruppe und fiel vor ihm auf die Knie. Mit einem Handzeichen gab er seinen alarmierten Wachen zu verstehen, dass dies in Ordnung sei und hörte sich die Klage der mitgenommen aussehenden Frau an. Sie klagte, ihre Tochter sei von einer Gruppe Männern überfallen und missbraucht worden, wie viele junge Mädchen in den letzten Tagen und dass scheinbar niemand etwas dagegen zu unternehmen schien. Am Rande seines Blickfelds nahm er eine verschwommene Bewegung wahr. Er musste sich nicht umdrehen um zu wissen, weshalb Eleasar so plötzlich in die Kutsche gesprungen war. Er focht mit Ria einen stummen Kampf aus, auf dass sie sich nicht einmischte - und verlor. Sie kletterte aus dem Innenraum und sah Raphael fragend an. Es überraschte ihn, dass sie hier in der Öffentlichkeit daran dachte, seine Autorität nicht zu ignorieren. Mit einem Blick in Eleasars gequälte, resigniert dreinblickende Augen nickte er schlicht, woraufhin Ria verschwand.

„Ich werde dafür sorgen, dass sie bei Haru lernt." Nicht wirklich begeistert folgte Eleasar seiner Frau. Er ließ sich ein wenig Zeit, denn sie lief im Zickzackkurs eine Route ab, die er bequem auf der Hauptstraße entlang lief. Dabei wunderte er sich darüber, wie erschöpft sie vorhin noch gewesen war und wie viel zielstrebige Energie sie nun besaß.

Urplötzlich legte sie an Tempo zu und flog quasi durch die Seitenstraßen. Er beeilte sich, zu ihr aufzuschließen, denn so ganz traute er ihrem Zustand nicht. Sie führte ihn in die Unterstadt, wo sie von einem der Dächer sprang. Würde er sie nicht spüren, hätte er sie gar nicht bemerkt. Offenbar wurde sie von Ragnarök geschützt. Dieser Umstand war ihm nur recht. Je weniger die anderen von ihr bemerkten, desto besser.

Ria blieb plötzlich direkt vor ihm stehen. Sie befanden sich in einer dämmrigen Gasse, die bestimmt schon einmal bessere Tage erlebt hatte. „Dein Vertrauen in meine Fähigkeiten rührt mich wirklich jedes Mal zu Tränen." Obwohl ihr Kommentar bissig war, nahm sie es ihm nicht übel. An sich war sie sogar ganz froh darüber, dass er dabei war. Sie deutete auf den kleinen Verschlag vor ihnen. „Das sind zu viele für mich. Es sei denn, ich darf sie alle umbringen. Davon abgesehen, weiß ich nicht einmal, ob sie es wirklich waren. Eigentlich sind sie nur ein Haufen böser Jungs."

Skeptisch hob er eine Augenbraue. „Und das weißt du woher so genau?"

„Weil perverse Freude nicht gerade zu einem Nullachtfuffzehn-Wesen gehört." Sollte sie ihm sagen, dass sie auf ihrer Suche nach Spuren einen Tatort gefunden hatte? Zwar waren die Noten nur noch schwach wahrnehmbar gewesen, doch hatten Ragna und sie es geschafft, den zwischenzeitlich immer wieder verschwindenden Spuren zu folgen.

Tief aufseufzend schob er sein Ein und Alles beiseite. „Vertrau mir und warte hier draußen." Er sagte das so todernst und besorgt, dass sie nickte und krampfhaft versuchte, den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. Ängstlich sah sie seinen attraktiven Körper im Dämmerlicht der Spielunke verschwinden.

Es fiel ihr so unendlich schwer, hier draußen zu warten, während er sich da drinnen mit einer Übermacht an Gegnern anlegte. Auch wenn sie spürte, dass es ihm gut ging, brachte sie die Sorge um ihn halb um. Zäh flossen die Sekunden dahin, zogen sich wie Kaugummi in die Länge. Die Geräusche drinnen verstummten langsam. Nervös lehnte sie sich gegen die Wand, stieß sich wieder davon ab, imitierte seine nervöse Geste und fuhr sich unruhig durchs Haar. Das ging doch schon viel zu lange. Zum Abkühlen legte sie ihre Stirn an die kalte Hauswand vor sich. Sie würde ihm nie verzeihen, wenn er sich verletzte. Niemals. Hätte sie nicht solche Angst um ihr Baby, wäre sie ohne zu Zögern hinterher gestürmt und hätte jedem das Licht ausgeknipst, der ihn auch nur schief ansah.

„Hoffentlich hast du jetzt eine Vorstellung davon, wie es mir geht, wenn du davonrennst." Seine Stimme erklang so dicht an ihrem Ohr, dass sie erschrocken herumfuhr. Sie hatte ihn gar nicht kommen hören. Dabei war er ihr so nah, dass sie beim Umdrehten fast gegen seine Brust geklatscht wäre.

Mit wild pochendem Herzen schob sie ihn ein wenig zurück, um ihn kritisch zu mustern. Keinerlei Kratzer. Seine Kleidung hatte nicht einmal dunkle Flecken. Erleichtert atmete sie aus und zog ihn in eine heftige Umarmung. „Wärst du draufgegangen, hätte ich dich widerbelebt, nur um dich eigenhändig zu erwürgen."

Ein wenig verlegen räusperte er sich. „Dann wäre das Ergebnis aber immer noch dasselbe", erinnerte er sie mit vor Emotionen rauer Stimme.

Als sie schnaubte, pustete sie seine Haare aus dem Weg. „Ja, aber dann hätte ich zumindest die ruhige Gewissheit, dass ich dich unter die Erde gebracht habe." Sie klang halbherzig, als würde sie mit ihren Gedanken meilenweit entfernt sein. „Ich hatte solche Angst um dich, obwohl ich gespürt habe, dass es dir gut geht. Das ist irrational."

Liebevoll strich er ihr durchs lange Haar. „Dabei hast du mir vor noch gar nicht so langer Zeit gesagt, dass man nicht alles kontrollieren kann." Das Schmunzeln in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„Sich hilflos zu fühlen, ist grausam."

Vorsichtig hob er sie hoch. Anstatt loszulassen, schlang sie ihre Beine um ihn. Ein Schraubstock wäre wohl nachgiebiger, doch er wollte sich nicht beschweren. Viel zu selten gestand sie ihm, wie es ihr ging. Das musste er unbedingt auskosten. „Lass uns nach Hause gehen."

Er spürte ihr leichtes Nicken an seiner Schulter und brachte sie fort.


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