.:32:. Rettung in letzter Sekunde?

„Ellena." Überrascht setzte sie sich auf. „Was verschafft mir die Ehre?"

„Mein Onkel ist nach Brasilien geflogen, weil einer seiner Leute dorthin entführt wurde. Das ist jetzt zwei Wochen her. Er wollte seit einer Woche wieder hier sein. Ich bekomme ihn nicht erreicht. Er geht einfach nicht an sein Telefon."

Das waren definitiv keine erfreulichen Nachrichten. „Er ist einer der fähigsten Männer, die ich kenne", antwortete sie ratlos. Wenn Aleix was nicht schaffte, musste das schon ernst sein. „Wo genau in Brasilien ist er denn?"

„Tefé", schluchzte Ellena unterdrückt auf.

„Das ist in der Nähe", erklärte sie beruhigend. „Ich höre mich mal nach ihm um." Von Vorfreude erfasst legte sie auf und machte sich aufbruchsbereit. Endlich mal eine sinnvolle Aufgabe! Am naheliegenden Bahnhof handelte sie einen Pauschalbetrag für die Strecke Coari-Tefé aus und reiste in die besagte Stadt.

Da es nur eine kleine Stadt war, hatte sie auf der Polizeistation recht schnell herausfinden können, wo in den letzten Tagen etwas vorgefallen war. Von einem ausländischen Kollegen wusste hier leider niemand etwas. Sie brauchte zwei Tage, ehe sie Aleixs Spur finden und verfolgen konnte. Zwar ging es ihr besser als vor wenigen Tagen, doch fühlte sie sich seltsam schwach. Kopfschüttelnd schob sie das Gefühl beiseite. Sie musste Aleix finden.

Und sie fand ihn. In einem Lagerhaus an eine Blechwand gekettet und ziemlich mitgenommen aussehend. Mit Gastfreundschaft schienen die Leute das hier nicht so ernst zu nehmen. Ohne zu zögern schlich sie durch die Schatten, so nahe wie möglich an ihn heran. Sehr zu ihrem Bedauern gab es kaum Fluchtmöglichkeiten aus dem Gebäude. Sie musste also mit Bedacht vorgehen. Als sie einige Männer näherkommen hörte, verbarg sie sich tiefer im Schatten, wo sie vorsichtig den Schalldämpfer auf ihre Waffe schraubte.

Eine Gruppe von ungewaschenen, unrasierten Kerlen betrat die Halle. Einer von ihnen trat Aleix, der nicht einmal bei Bewusstsein zu sein schien, in die Seite. Es machte Ria fuchsteufelswild mit ansehen zu müssen, wie sie auf ihrem Freund herum trampelten. Zielsicher legte sie an. Ein fast lautloser Schuss und der erste sank zu Boden. Bevor seine Kumpane das registrieren konnten, ereilte sie das gleiche Schicksal.

Sobald alle Störenfriede unschädlich gemacht waren, eilte Ria zu dem Bewusstlosen und löste ein wenig ungeschickt die Fesseln. „Aleix." Sie beugte sich über ihn und fühlte seinen Puls. Er war schwach. Da gerade niemand in der Nähe zu sein schien, versuchte sie ihn zu heilen. Es gelang ihr ein wenig, aber bei weitem nicht so gut wie in Sídhe. Die Unterschiede zwischen den Welten verfluchend schleppte sie ihn mit sich in den Schatten, wo sie vor möglichen weiteren Ganoven einigermaßen in Sicherheit waren.

Langsam kam Aleix wieder zu sich. Seine Augenlider flatterten und er hatte Mühe, seinen Blick auf sie zu fokussieren. „Ria." Seine schwache Stimme klang aufrichtig verwundert. „Was tust du hier?"

Erleichtert ließ sie sich nach hinten auf ihre Füße sinken. „Deinen Hintern retten. Deine Nichte ist außer sich vor Angst. Was ist hier passiert? Du bist doch wohl kaum so schwach, nicht mit den drei Idioten fertig zu werden."

Mit großen Augen setzte er sich unter Schmerzen hustend auf. „Ria, die sind vom südamerikanischen Clan."

Viel zu spät hörte sie die Schritte hinter sich. „Ah, du hast mir einen Gast gebracht." Dunkle Finger gruben sich in ihre linke Schulter.

Sie nutzte das Überraschungsmoment aus und beförderte den Mann auf den Boden. „Keinen Gast. Deinen Tod. Bist du der hiesige Clanführer?", zischte sie mit kalter Stimme. Sie hatte keine große Lust auf Spielchen. Wenn das hier wirklich Clangelände war, konnten jederzeit unbestimmt viele Jäger auftauchen. So viel Ausrüstung hatte sie nicht dabei.

„Göre, verschwinde von mir!", knurrte der dreckige Mann.

Sie beschimpfte ihn eine Weile auf Portugiesisch, bis er einsehen musste, dass sie die Sprache besser sprach als er - auch in puncto Schimpfwörter. Wichtiger war jedoch, dass er irgendwann mit den Nerven am Ende war.

„Ich hoffe, du hast noch ein wenig Energie", murmelte Aleix müde und deutete auf die Halle hinter ihr. „Wir bekommen noch mehr Besuch."

Seufzend schlug Ria den Grobian k.o. und drehte sich in besagte Richtung. Tatsächlich kam jetzt eine größere Gruppe Jäger auf sie zu. Alle geschaffen. „Es stört dich doch nicht, wenn ich die Mitgliederanzahl eines anderen Clans reduziere, oder?"

Aleix murmelte etwas Unverständliches, das Ria großzügig als Nein interpretierte. Von den zwanzig Jägern erschoss sie zehn, bevor ihr die Kugeln ausgingen. Nach fünf weiteren hatte sie keine Wurfmesser mehr. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als den Nahkampf zu suchen. Schnell wurde ihr klar, dass sie den Leuten an sich zwar überlegen war, ihr die Versuche, Aleix zu heilen aber viel zu viel Energie gekostet hatten. Hätte sie ihn doch bloß weggeschafft, bevor alle aufgetaucht waren! So langsam ging ihr die Puste aus.

Zwei lebten noch. Mit Mühe konnte sie die Angriffe des Einen abwehren und versuchte verbissen auf den Beinen zu bleiben und nicht ohnmächtig zu werden. Sie musste überleben. Sie hatte nicht wochenlang auf Elea gewartet, um jetzt zu sterben. Wenige Meter von ihr entfernt lag ein Toter mit einem Wurfmesser in der Kehle. Der Gedanke an ihren Mann ließ sie durchhalten, gab ihr die Kraft, sich zusammenzureißen. Geschickt wich sie dem Schlag ihres Gegners mit einer Rolle aus und zog dabei das Messer aus dem Toten. Schwer atmend warf sie es in seine Richtung. Sie versuchte, den Letzten ausfindig zu machen. Der sank zu ihrer unsäglichen Verwunderung ohne jegliche ersichtliche Wunde leblos zu Boden. Ihr war es nur recht. Gleichzeitig rief diese eigenartige Situation die Erinnerung an eine andere Person wach. Elea, ich hoffe du brauchst nicht mehr allzu lange.

Getrieben von ihrem Überlebenswillen rappelte sie sich auf und schob dem letzten noch röchelnden Gegner das Nasenbein ins Hirn. Sie lief zu Aleix, der sich aufzurichten versuchte. Gemeinsam flüchteten sie aus der mit allem möglichen Gerümpel vollgestopften Lagerhalle. Das Außengelände war nicht weniger groß, stand aber zum Glück mit allerlei Zeug zu. Ria manövrierte sie in eine dunkle, abgeschiedene Sackgasse. Wenn sie sich ruhig verhielten, würden sie nicht entdeckt werden. Völlig erschöpft registrierte sie eine noch größere Anzahl an Lebewesen als die, mit der sie es vorhin aufgenommen hatte. Ein Glück, dass sich keiner anfühlte wie sie. Niemand war eine Schattenseele oder ein geborener Jäger, wie man sie in dieser Welt nannte.

Stimmen wurden laut, Aufregung surrte durch die Luft als man die Toten fand. Die Neuankömmlinge schwärmten aus und durchsuchten das Gelände nach möglichen Eindringlingen.

Mit ihren Kräften schwanden ihr auch die Sinne. Sie konnte nicht sagen, ob sie leise genug waren oder zu laut. Alles, was sie tun konnte war zu hoffen, dass niemand sie entdeckte. Das wäre ihr Todesurteil. Sie bedauerte, dass sie nicht mehr Waffen mitgenommen hatte. Oder wenigstens mehr Munition. Aber wer hätte denn auch ahnen können, dass sie gleich einen ganzen Clan plätten musste?

Schritte kamen und gingen, wurden immer leiser. Vielleicht hatten sie die Suche aufgegeben. Aleix sackte ein Stück in sich zusammen und auch ihr erschien die Vorstellung eines Nickerchens überaus verlockend.


Als ihr Bewusstsein sich zurückmeldete, kam ihr die Umgebung komisch vor. So fühlte sich der Boden nicht an. Definitiv nicht. Erschöpft befühlte sie den Untergrund. Nein, auf gar keinen Fall Erdboden oder eine Straße. War sie als geborenes Wesen aufgeflogen? Hatten sie sie also doch gefunden? Was hatten sie jetzt mit ihr vor? Wo war Aleix? Lebte er noch? Panisch schlug sie die Augen auf. Sie war zu Hause. Und nicht nur das - sie fühlte sich auch so. Verwirrt sah sie auf ihren Schlafanzug, eine eigenwillige Kombination aus Hotpants und Top. Was war passiert? Aleix wusste nicht, wo ihr Haus lag. Er wusste noch nicht einmal, in welcher Kleinstadt sie lebte. Sie hoffte für ihn, dass er sie nicht gewaschen und umgezogen hatte. Das wäre sein Todesurteil. Sie gehörte zu Elea. Nur er hatte das Recht, sich so um sie zu kümmern. Aber er war nicht hier.

Sie streckte sich, sprang auf und wühlte in ihrem Schrank nach Wurfmessern, Pistole und Ladestreifen. Anschließend schlich sie langsam die Treppe hinunter. Dem laufenden Fernseher nach zu urteilen musste dort unten jemand sein. Natürlich kam es ihr komisch vor, dass niemand ihre Waffen beseitigt hatte. Es war dumm, sie ihr zu lassen. Außer natürlich, Aleix hatte einige Eingebungen gehabt - von Superheilung einmal ganz zu schweigen.

Die untere Etage war quasi leer. Aleix saß auf dem Sofa vorm Fernseher und telefonierte. Sie wollte nicht indiskret sein und ging daher ans andere Ende des Wohnzimmers. Es war helllichter Tag. Wie lange hatte sie geschlafen? Und vor allem: Wie waren sie her gekommen?

„Ria", Aleix winkte sie zu sich zum Sofa, ein freudiges Lächeln auf den Lippen. „Du bist ja endlich wach. Ich wusste gar nicht, dass du zu den Langschläfern gehörst."

Schulterzuckend schlenderte sie zu ihm herüber und lehnte sie sich gegen die Rückenlehne. „Mein Mann achtet ziemlich genau darauf, mich morgens nicht zu wecken. Seitdem schlafe ich lange."

Er nickte verständnisvoll. „Auch wenn ich ihn nicht leiden kann, ist nicht von der Hand zu weisen, dass er dich glücklich macht." Etwas schien ihn zu bedrücken. Verstohlen sah er sich um und lächelte sie dann unsicher an. Abgesehen davon, dass er gerade fast gestorben wäre, sah er zwar müde aber eigentlich gesund aus. „Du hattest recht. Ich kann an keine andere Frau mehr denken, als an deine Schwester. Es ist schwer, die Tage alleine durchzustehen. Noch schwerer ist es zu wissen, dass sie in einer anderen Welt lebt."

Ein zufriedenes Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Na, habe ich es dir nicht gesagt?" Dann wurde ihre Miene wieder ernst und sie schüttelte traurig ihren Kopf. „Ich kann dich nicht rüber bringen. Erstens habe ich keinen Schlüssel für ein Portal und selbst wenn ich einen hätte, könnte ich dir nicht sagen, wo du ankommen würdest. Diese Welt ist alles andere als freundlich."

„Dein Mann kann es."

Ria schnaubte. „Klar, frag doch gleich den Kaiser, ob er dich rüber bringt. Bei Elea stehen deine Chancen ganz schlecht. Sorry, das ist eine Sache zwischen dir und Suzi. Ich habe genug um die Ohren, so gern ich euch auch helfen würde." Sie brauchte eine Weile, um ihre Gedanken zu sortieren, bevor sie sanfter hinzufügte: „Ihr müsstet euch auf eine Welt einigen. Es ist verboten, zwischen den Welten zu leben."

Niedergeschlagen sank er ins Sofakissen. „Ich kann meinen Clan nicht verlassen. Und Ellena auch nicht."

„Vielleicht ist Suzi ja bereit, bei dir zu leben", schlug sie wenig optimistisch vor. Sie fühlte sich schon wieder müde und ausgelaugt.

In der Haustür drehte sich ein Schlüssel. Verwirrt fuhr sie zum Eingang herum. Sie musste träumen. Und zwar einen ziemlich wirren Traum. Anders konnte sie sich nicht erklären, was sie da wahrnahm. Auf halbem Weg zur Tür hielt sie inne und richtete ihre Waffe auf den Eingang. Noch immer traute sie dem Braten nicht recht.

Verletz mich vorsätzlich und ich lasse dich im Keller verrotten.



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