.:31:. Home, sweet home
Einige Tage nach dem Anschlag auf Nathans Freundin eröffnete Raphael ihr, sie würde am Abend in Sicherheit gebracht werden. Sie hatten zwar einige Informationen aus der Attentäterin herausbekommen, konnten dadurch aber leider nicht den eigentlichen Drahtzieher ermitteln. Bis zum Ende der Suche sollte sie untertauchen. Für den Fall, dass sie bereits verfolgt wurde, hatte er eine falsche Spur gelegt und das Gerücht gestreut, sie würde in Marjans Gebiet reisen, um Freunde zu treffen.
Mit mulmigem Gefühl verließ sie das Schulgebäude. Überall waren Wachen postiert worden. Selbst im Unterricht standen immer zwei neben ihr.
„Prinzessin, wartet." Joleen und zwei andere kamen angerannt. „Wir... wir wollten Euch noch eine gute Reise wünschen."
Verwirrt bedankte sie sich. Seit ihrem ersten Tag mied sie ihre Mitschüler, wenn sie nicht gerade mit ihnen zusammenarbeiten musste. Dass sich jetzt jemand um sie sorgte, verwunderte sie.
„Solltet Ihr nach Eurer Reise Probleme mit den Themen haben, sind wir Euch gerne behilflich."
„Wirklich rührend", ertönte es neben ihnen. Den anderen klappte die Kinnlade herunter. Der Kaiser persönlich war zu ihrer kleinen Gruppe getreten.
Raphael würdigte Rias Mitschüler keines Blickes. Angespannt musterte er die junge Frau, die wie eine Tochter für ihn war. „Eleasar ist außer Haus, du wirst mit mir Vorlieb nehmen müssen", erklärte er ihr knapp.
„Er hat mir schon gesagt, dass er nicht da sein wird", flüsterte sie geknickt.
„Je schneller diese Sache erledigt ist, desto besser. Nimm deine Bücher mit, dann kannst du lernen."
Sie schenkte ihm das freundlichste Fahr-zur-Hölle-Lächeln, zu dem sie imstande war. „Als gäbe es nicht schon genug zu tun."
Wortlos deutete er auf seine Kutsche. Erst als sie eingestiegen war, entspannte er sich ein wenig. „Ich bringe dich in die Menschenwelt. Eleasar musste an meiner Stelle verreisen. Ich bin leider an die Hauptstadt gebunden."
Ria nickte traurig. „Ich weiß. Es ist nur schwer zu wissen, dass ich ihn eine Weile nicht mehr sehen werde."
Raphael griff nach ihrer Hand und drückte sie verständnisvoll.
Viel zu früh hielt die Kutsche an. Er bedeutete ihr mit einem freundlichen Lächeln auszusteigen und folgte ihr wachsam. Ohne zu Zögern schob er sie durch eine unscheinbare Holztür. „Ein sicheres Haus meiner Familie."
Ria sah sich im kleinen Wohnraum um. Es war ein Haus, das so gar nicht zu einem Kaiser passen wollte. Viel zu klein und normal. Im Eingangsbereich standen ein paar ihrer gepackten Sachen. „Also, bevor du mich wegbringst, sollte ich dir wohl noch sagen, dass du Taxi spielen musst. Ich habe nur einen Teil meiner Sachen hier. Und da Elea meint, es wäre blöd, in meine alte Wohnung zu ziehen, müsste ich da kurz vorbei."
Er nickte. „Solange nichts von dem, was du jetzt mitnimmst drüben bleibt, habe ich kein Problem damit."
Nervös fuhr Ria sich durchs Haar. „Okay, dann bring mich hier weg, bevor ich noch durchdrehe." Entschlossen griff sie nach ihren Sachen.
Raphael legte einen Arm um sie. „Mach am besten die Augen zu und stell dir vor wo du hin willst."
Menschenwelt.
Kurze Zeit später öffnete sie in ihrer Wohnung die Augen. Sie ließ ihre Tasche fallen, rannte ins Schlafzimmer, schnappte sich eine andere Tasche, warf achtlos ein paar Kleidungsstücke hinein und eilte dann ins Wohnzimmer, wo sie ihr Waffenarsenal öffnete und den gesamten Inhalt in die Tasche räumte. Anschließend holte sie Ausweise und Kreditkarten aus dem Flur, rannte kurz nach unten, um ihren Briefkasten zu leeren und kehrte nachdenklich ins Wohnzimmer zurück, wo Raphael auf sie wartete. Während sie im Geiste alles durchging, schenkte sie ihm ein leichtes Lächeln. „Ich glaube, ich habe alles. Moment." Sie lief zum Telefon und klingelte bei Andreas durch.
„Ria", er klang aufrichtig erfreut und sehr überrascht über ihren Anruf.
„Hey. Du, ehm, wenn jemand anders als Aleix nach mir fragen sollte, leg ihn um. Ich muss für eine Weile untertauchen. Wenn du wissen willst wo, frag Kemal nach Juanita. Er wird es dir dann ganz genau sagen können." Sie legte auf, bevor er noch mehr Fragen stellen konnte.
Der Kaiser sah sie fragend an. „Juanita?"
Sie zog eine verabscheuende Grimasse. Wäre es nicht sicherer gewesen, sie zu erwähnen, hätte sie es nicht getan. Diese Frau war schrecklich gewesen. Gut, dass sie damals schon Kampfsport betrieben hatte. „Eine Liebschaft meines Ziehvaters. Ziemlich tot, wenn du es genau wissen willst. So, jetzt bin ich fertig, glaube ich. Kannst du die Tasche tragen? Mir ist sie bestimmt zu schwer."
Lachend griff er nach den Tragegurten. „Bei der Menge an Waffen nicht anders zu erwarten." Dabei fragte er sich, was für einen Ort sie sich ausgesucht hatte, wenn sie ein solches Arsenal mit sich schleppte.
„Das ist nur ein kleiner Teil", entgegnete sie und verschwand dann doch noch einmal kurz im Schlafzimmer. Als sie umgezogen zurückkam, stopfte sie ihre ausgetauschten Sachen in die Tasche, die sie aus der anderen Welt mitgebracht hatte. „Okay, jetzt sollte ich nicht auffallen."
Mit der Tasche in der einen Hand, hakte sie sich mit der anderen bei ihm unter. „Wenn du soweit bist, bin ich es auch."
Dieses Mal machte sie den Fehler, ihre Augen nicht zu schließen. Die Konturen verschwammen vor ihren Augen und sie hatte das Gefühl, die Orientierung zu verlieren.
Raphael stützte sie, bis sie wieder wusste, wo oben und unten waren. Erleichtert ließ sie sich auf den Boden sinken. „Danke. Ich glaub, ich muss gleich erst mal ins Bad."
Er belächelte sie kurz und machte sich dann daran, das sehr großzügig geschnittene, offene Haus zu erkunden. „Wem gehört es?"
„Mir", antwortete Ria und schloss mit einer ausladenden Bewegung das ganze Grundstück ein. Der Garten war sehr großräumig und Umgab das Haus wie einen Park. „Hier bin ich aufgewachsen. Zum Teil zumindest. Da zwischen meiner eigentlichen Adresse und hier so ziemlich die halbe Menschenwelt liegt, sollte ich hier wohl eher weniger gefunden werden können. Die Menschen denken, es gehöre jemand anderen. Das habe ich meinem Ziehvater zu verdanken, der früher hinter jedem Schatten einen Feind vermutet hat."
„Ein kluger Mann", bemerkte er achtungsvoll. In seiner Position waren die meisten Schatten in der Tat Feinde.
„Tja", seufzte Ria abfällig, „bis er mir die größten Schmerzen zugefügt hat, die ich jemals ertragen musste. Physisch."
„Was hat er getan?" Raphaels Stimme klang ungewöhnlich scharf.
Schulterzuckend hockte sie sich auf den Boden. „Meinen damaligen Mann umgebracht."
„Das verursacht keine körperlichen Schmerzen."
„Hm, Elea würde meinem Ziehvater einen Orden dafür verleihen, hätte ich nicht so leiden müssen. Weißt du, wie Marjans Vampire ihre Mädchen brandmarken, wenn sie mit ihnen ihre Art retten wollen?"
Das Verfahren war ihm durchaus bekannt. Sie sagte nichts mehr dazu. Aber das brauchte sie auch nicht, der Schatten in ihren Augen sagte genug. Betroffen setzte er sich neben sie. „Kein Wunder, dass du Eleasar die Hölle heiß machst, wenn er versucht, dich zu bevormunden."
Seufzend stand sie auf. „Das liegt daran, dass ich ein Dickkopf bin. Sollten wir jemals Kinder haben, dann gnade uns Gott, dass sie nicht so sind wie wir."
„Wollt ihr es?"
Überrascht sah sie ihn an. „Was wollen?"
„Kinder", erklärte er müde lächelnd.
Sie schnaubte. „Das ändert sich täglich. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ich es ertragen könnte, mein Kind in Gefahr zu wissen."
„Ihr würdet im Palast wohnen", erklärte er mit sanfter Stimme. „Bewacht. Ein Kind zu töten ist ein Frevel, auf den die Todesstrafe steht."
Nachdenklich ging Ria zu ihrer Tasche und zog neben einer Pistole auch noch ein paar Messer heraus. Hier konnte sie Ragnarök nicht nutzen, zumal er gar nicht dabei war. Nachdem sie die Waffen sorgfältig in ihrer Kleidung verborgen hatte, ging sie in die Küche. Natürlich war nichts Essbares im Haus. Nicht einmal Kaffeepulver. „Ich muss einkaufen", sagte sie zu Raphael. „Traust du mir das zu oder musst du mich begleiten?"
Abwehrend hob er die Hände. „Wenn du sagst, dass du hier sicher bist, wird es schon so sein. Die Wenigsten können in die Menschenwelt reisen. Noch viel weniger können es unbemerkt und ohne Erlaubnis." Trotzdem begleitete er sich noch zum Supermarkt und halft ihr, die Einkäufe zum Haus zu tragen. Dabei kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der Erfindungsreichtum dieser Menschen überraschte ihn. Er hatte ihnen nicht zugetraut, jemals so fortschrittlich zu werden. Nachdem Ria ihnen etwas gekocht hatte, machte er sich beruhigt auf den Rückweg. Er war sich sicher, sie würde zurechtkommen.
Nach Raphaels Verschwinden durchstreifte sie planlos das Haus. Es war zu dunkel, um noch einmal in die Stadt zu fahren und sich mit Büchern zuzudecken. Daher begnügte sie sich damit, die Taschen auszupacken - und musste feststellen, dass jemand ihr ein paar Bücher zum Lesen eingepackt hatte. So machte sie es sich oben bequem und begann aus Mangel an Alternativen das Buch der Artenkunde durchzulesen. Es gab unzählige verschiedene Wesen, die alle ihre eigenen Fähigkeiten hatten. Eleasar hatte ihr erklärt wie wichtig es war, jedes Wesen identifizieren zu können und genau zu wissen, welche Stärken und Schwächen es hatte. Im Falle einer Auseinandersetzung konnte das nur vorteilhaft sein.
Die Tage zogen ins Land und Ria hatte nichts anderes zu tun, als durch den Regenwald zu streifen und die mitgebrachten Bücher auswendig zu lernen. Gelegentlich unterhielt sie sich mit Andreas und gab ihm Anweisungen, wie er was am besten löste. Auch Kemal rief das eine oder andere Mal an, um sich nach ihr zu erkundigen. Letztendlich erzählte sie ihm von Anderswelt und ihrem Leben dort. Es stellte sich heraus, dass Kemal Raphaels und Eleasars Entschluss, sie zu ihrer eigenen Sicherheit in die Menschenwelt zu schicken guthieß. Vermutlich würden sie sich bestens verstehen.
Je länger sie von Eleasar getrennt war, desto eigenartigere Angewohnheiten entwickelte sie. Sie begann ohne Sinn und Verstand alles Mögliche durcheinander zu essen und unternahm zu den unmöglichsten Zeiten Streifzüge durch den Wald. Irgendwann fühlte sie sich so einsam, dass sie abends regelmäßig ins Kissen weinte und sich wünschte, all das wäre nie geschehen.
Nach fast zwei Monaten war sie einfach nur verzweifelt. Alles in ihrem Clan war in Ordnung und die Bücher kannte sie alle so gut wie auswendig. Es war zum Verrücktwerden. Sie hatte nicht einmal mehr Lust, im Fluss mit den Krokodilen baden zu gehen oder von Wasserfällen zu springen. Es machte keinen Spaß, wenn Eleasar nicht dabei war. Warum dauerte das denn so lange? Sie hatten ihr doch gesagt, es würde nur für kurze Zeit sein. Lustlos kletterte sie in die Badewanne. Wenn sie schon halb krank vor Sorge war, konnte sie sich dabei auch verwöhnen.
Das Wasser war schon lange kalt, als sie die Wanne wieder verließ. Es hatte keinen Sinn. Vielleicht half ja Fernsehen, doch das Fernsehprogramm hätte langweiliger nicht sein können. Sie zog sich absichtlich nur Sportsachen an und machte sich dann auf den Weg in die Stadt. Sie brauchte neue Bücher. Doch selbst das Aufkaufen des halben Buchladens hielt sie nur eine weitere Woche davon ab, sich zu Tode zu langweilen.
Sie klappte gerade das letzte Buch zu, da klingelte ihr Telefon. Es war Andreas, der sie an eine aufgelöst klingende Person weiter gab. „Ria? Hier ist Ellena, Aleixs Nichte."
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