.:30:. Feinde
Drei Stunden später bereute sie, dass sie sich von ihrem Mann hatte provozieren lassen. Sie hockte in einem Sessel hinten in einem kleinen, für ihren Geschmack viel zu nobel aussehenden Klassenzimmer und ignorierte geflissentlich die Blicke ihrer neuen Mitschülerinnen und Mitschüler. Professor Logan betrat den Klassenraum und nickte ihr aufmunternd zu. „Die Aufmerksamkeit gehört nach vorne, nicht nach hinten", rief er seine Schüler zur Ordnung.
Ria war ihm dankbar, dass er den Fokus der Aufmerksamkeit von ihr ablenkte. Solange nur gestarrt wurde, war es ihr egal. Sie fürchtete sich vor den Gerüchten.
„Gelehrter Logan." Ein Mädchen mit kurzen, hellgrünen Haaren meldete sich zögerlich.
„Joleen?"
Das Mädchen sah eingeschüchtert zu Ria. „Wir sind uns nicht sicher, wer unsere neue Mitschülerin ist."
Fragend sah Logan Ria an. Sie nickte ergeben und erlaubte ihm damit, sie vorzustellen. „Unser Gast wollte sich die hiesige Schultradition ansehen. Wie Sie wissen, stammt Ihre Hoheit Prinzessin Ria nicht von hier."
Ein Grund mehr auf ihrer Liste, warum sie die Gesellschaft vermeiden wollte. Sie hasste es, Prinzessin genannt zu werden. Sie konnte nicht einmal Eleasar als Prinzen ansehen. Und der war es ja in doppelter Hinsicht. Ich hoffe, du stellst dich schon mal darauf ein, dass ich mich nachher abregen muss, schickte sie einen brummigen Gedanken an ihn.
Kurz darauf erhielt sie eine muntere Antwort: Ich hatte gehofft, du hättest eingesehen, dass du gegen mich keine Chance hast.
Heute sehe ich großzügig darüber hinweg.
Logan lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich, als er Joleen dazu aufforderte, sich zu setzen. Er begann etwas von Entwicklungszyklen von Fähigkeiten zu erzählen und malte wüste Muster an die Tafel. Gewissenhaft schrieb sie das Tafelbild mit, schweifte mit den Gedanken aber irgendwann ab. Fähigkeitenkunde, Artenwissenschaft und Geschichte. Diese Fächer hatten Eleasar und der Professor ihr aufs Auge gedrückt. Angeblich gehörte das zum Grundlagenwissen.
Nach dem Klingeln kam Logan zu Ria. „Ich hoffe, Sie konnten folgen."
Lächelnd tippte sie sich an ihren Kopf. „Ich habe ein wandelndes Lexikon bei mir."
„Sie sollten es selbst lernen", entgegnete er nachsichtig lächelnd. „Bei Fragen kommen Sie bitte zu mir."
Sie nickte und fragte sich, warum er Eleasar respektvoller anredete als sie. Im Prinzip war es ihr lieber, nicht so in den Himmel gehoben zu werden. Auf der anderen Seite jedoch war sie sich darüber im Klaren, dass sie somit nicht als gleichberechtigt angesehen wurde. Es wurmte sie, aber gleichzeitig wusste sie, dass sie ihrem Mann keinesfalls ebenbürtig war. Laut Logan würde sie es niemals sein. Was für verlockende Aussichten.
Nachdem der Gelehrte aus der Tür verschwunden war, herrschte kurzzeitig Stille. Niemand traute sich, etwas zu sagen. Alle starrten Ria an. Genervt schlug sie ihr Heft zu. „Fragt endlich, es ist ja nicht auszuhalten."
Die anderen wirkten nur noch perplexer. Joleen fing sich als Erste. „Ihr seid Prinz Eleasars Gemahlin."
„Ja."
„Wir dachten, Logan macht Witze", platzte ein Junge heraus. Er hatte feine Gesichtszüge, eine kleine Himmelfahrtsnase und halblanges, orange-schwarzes Haar, das er offensichtlich mit viel Aufwand frisiert hatte. „Ich meine, du kommst pünktlich zum Thema Seelenbindung und kaiserlicher Familiengeschichte."
Jetzt wusste Ria, warum Logan und Eleasar so darauf bestanden hatten. „Geschichte, hm?" Nachdenklich stand sie auf und ging zum Fenster. „Ich bin gänzlich ungeeignet, euch von der kaiserlichen Familie zu erzählen."
„Aber Ihr kennt den Kaiser! Und seid mit dem Prinzen zusammen!" Ein Mädchen mit schulterlangen, dunkelbraunen Haaren, Sommersprossen und violett funkelnden Augen starrte sie fassungslos an.
Ria versteifte sich innerlich. „Familienangelegenheiten gehen euch nichts an." Sie würde sich hüten, irgendetwas aus ihrem Privatleben preiszugeben. Es ging diese Leute einfach nichts an.
„Stimmen die Gerüchte, Ihr würdet den Prinzen nicht lieben?"
Mehr als angefressen fuhr sie herum. „Es geht euch nichts an", knurrte sie böse.
Die Tür flog auf und ihre Mitschüler starrten fassungslos auf den Eingang. „Ria." Eleasar sah angespannt aus, der ernste Blick seiner dunkelblauen Augen ruhte fest auf ihr. Du wirst gebraucht.
Was ist passiert? Besorgt trat sie zu ihm. Ist etwas mit Aram und Adele?
Beruhigend strich er ihr durchs Haar. „Der Kaiser verlangt nach dir."
Verstohlen lächelte sie ihn an. Heißt das, ich sammle an meinem ersten Schultag meine ersten unentschuldigten Fehlstunden?
„Höhere Gewalt", antwortete er schlicht. „Pack deine Sachen, es ist eilig."
Sein Tonfall besagte eindeutig, dass eine Verzögerung inakzeptabel war. Schnell sammelte sie Block und Stifte ein und folgte ihm nach draußen. Dort nahm er ihr die Sachen ab und drückte sie eng an sich. Dabei raunte er ihr ins Ohr: „Festhalten."
Auf einmal schlug ihr emotionales Chaos entgegen. Schnell versuchte sie es auszublenden, um nicht gleich verrückt zu werden. Sie spürte, dass Eleasar zum Stehen kam und öffnete langsam ihre Augen. Das erste, was ihr ins Auge fiel, war die Menge an Blut, die auf einem großen Himmelbett verteilt lag.
Eine warme Hand legte sich unnachgiebig um ihr Handgelenk und zog sie vom Anblick fort. „Nicht." Es war Raphael. Er sah aus, als würden gleich Köpfe rollen. Gleichzeitig verströmte er eine Macht, bei der ihr angst und bange wurde. „Das ist kein Anblick für dich."
Ria versuchte verzweifelt, sich loszureißen. „Hör auf damit, ich habe mit ansehen müssen, wie meinem Vater das Gehirn filetiert wurde. Ich bin so etwas mehr als gewohnt!"
Entschieden schüttelte er seinen Kopf. „Nein."
Wütend starrte sie ihn an. „Und warum habt ihr mich dann hergeholt? Solange niemand von euch die Leiche ansehen und sagen kann, wer der Mörder ist, bin ich eure beste Chance! Wenn ich der Person schon einmal begegnet bin, finde ich sie." Oder wenn diese Person sich noch in der Nähe aufhielt.
„Ria", beruhigend legte Isla ihre Hände auf die Schultern der aufgebrachten jungen Frau. „Du bist hier, damit du in Sicherheit bist. Die Tote war Nathans Geliebte. Rorys wurde vor zwei Wochen getötet. Wir befürchten, du bist die nächste."
Herausforderung blitzte in ihren Augen auf. „Die sollen nur kommen."
Eleasar stöhnte leise auf. „Du verstehst nicht. Es gibt immer Gruppen, die mit dem System nicht einverstanden sind."
„Ich kann euch zu ihnen führen, das weißt du. Ich habe mein Leben lang nichts anderes gemacht als Zielpersonen aufzuspüren und sie umzulegen."
Außer sich vor Sorge baute er sich vor ihr auf. „Genau deshalb gehst du nicht ans Bett. Du bringst dich nur in Gefahr."
Sie bemühte sich, sich zu beruhigen. Es hatte keinen Sinn, sich gegen alle drei zu stellen.
„Ria, du bist die einzige Angehörige der nächsten Generation." Nathan, Eleasars Konkurrent in puncto Erbe des Kaiserthrons trat mit trauriger Miene zu ihnen. „Stirbst du, wird Eleasar keinen Erben bekommen. Selbst wenn er nicht Kaiser wird, gibt es Aufgaben, die euer Kind übernehmen muss."
Das waren ganz neue Nachrichten. „Aber dann muss man die Verantwortlichen doch erst recht aus dem Weg räumen."
Jetzt seufzte sogar Raphael. „Ria. Was zählt, ist dein Überleben. Die Entscheidung ist bereits gefallen." Er lockerte seinen Griff um ihr Handgelenk, das sie sich schmerzhaft rieb.
Hilfesuchend sah sie ihren Mann an. „Ihr wollt mich fortschicken?"
Der Schmerz in seinen Augen war unübersehbar. „Es gibt leider keine andere Möglichkeit."
Sie fühlte sich leer. Warum verdammt nochmal wollten sie denn nicht einsehen, dass sie sich nicht verstecken wollte? Kopfschüttelnd ging sie zur Wand und ließ sich daran entlang zu Boden sinken. Ragna? Sie konnte nicht anders, sie musste es wenigstens versuchen.
Ich dachte schon, du fragst nie. Ich versuch mal, nah genug ran zu kommen.
Misstrauisch beobachtete Eleasar seine Frau. Er konnte nicht glauben, dass sie wirklich so schnell aufgab. Dummerweise konnte er nicht ausmachen, wann sie mit ihrem Geist sprach und wann nicht.
Isla schloss ihn mitfühlend in ihre Arme. „Es wird nicht für allzu lange sein. Wir finden die Verantwortlichen."
Sogar Nathan sah ihn mitleidig an. „Ich würde meine Seelenpartnerin auch nicht hier wissen wollen."
Sie diskutierten eine Weile darüber, wo Ria am sichersten wäre. Es war schwer zu sagen, da sie nicht wussten, über welche Kontakte und Informationen diese Gruppe verfügte. „Wo ist deine Frau?" Nathans Frage versetzte alle in hellen Aufruhr.
Ria dachte nicht einen Moment daran, einfach so kleinbeizugeben. Ihrem Geist war es gelungen, eine Spur aufzunehmen. Eine Spur, der sie nachgehen musste. Sie hörte, wie die anderen ihr folgten, doch es war ihr egal. Alles, was sie interessierte, war diese Note aus Genugtuung und perverser Freude, der sie unbedingt folgen musste. Sie wollte, dass diese Person dafür bezahlte, das Leben dieser armen Frau beendet zu haben.
Ihr blieb fast das Herz stehen, als sie bemerkte, wohin die Spur sie führte. Tiefer ins Schloss, zu Raphaels und Islas privaten Räumen. Sie spürte, wie Eleasar versuchte, mit ihr zu reden. Ragnarök tat sein Bestes, sie vor ihm abzuschirmen. Auch er wollte verhindern, dass sie fort musste.
Die Spur machte einen Knick. Ohne nachzudenken sprang Ria über das Geländer in den unteren Stock und hetzte der immer frischer werdenden Fährte hinterher. Eine abschließende Note mischte sich darunter. Verzweifelt schrie sie auf, als Eleasar sie zu Boden rang. „Er bringt sich um!"
Jemand rannte an ihr vorbei in den Raum, den sie nicht mehr hatte erreichen können und kam kurz darauf mit einer jungen Frau zurück, die schon blau angelaufen war. „Bring sie zu Isla", knurrte Raphael hinter ihnen und übergab die Gefangene an Nathan. „Sie soll sie zusammenflicken, bis sie wieder reden kann."
Ria atmete schwer, als ihr Mann sie mit sich auf die Beine zog. „Was fällt dir ein?", fuhr er sie ungehalten an. „Du hättest dabei draufgehen können!"
Mindestens ebenso wütend schubste sie ihn von sich. „Ich weiß, was ich tue!"
„Eleasar." Raphael trat zwischen sie. Auch er sah nicht besonders glücklich aus. „Es ist ihre Natur."
„Das war ihr Dickkopf", brummte er.
Ria schnaubte verächtlich. „Dickkopf, ja? Ihr hättet jetzt keine mögliche Spur, wenn ich ihr nicht hinterher gerannt wäre."
„Es reicht." Raphael sah Ria böse an. „Akzeptier seine Sorge einfach."
Erschöpft fuhr Eleasar sich durch die Haare. Er war es leid, an mehreren Fronten gleichzeitig kämpfen zu müssen, wenn seine Sorge um seine Frau ihn schon halb wahnsinnig machte. „Ich weiß, wo sie hin kann."
„Vergiss es", fauchte Ria. Sie würde nicht von hier fort gehen. „Du kannst dich nicht einfach über meinen Kopf hinwegsetzen."
Er trat um den zwischen ihnen stehenden Kaiser herum und zog sie liebevoll an sich. „Wenn du in Gefahr bist, ist mir alles egal." Ihr Widerstand brach augenblicklich zusammen, als seine Lippen die ihren streiften. „Verstehst du nicht, dass ich dich dieser Gefahr nicht aussetzen kann?"
Niedergeschlagen blickte sie ihm in die Augen. „Doch. Aber du solltest langsam einsehen, dass ich nicht das hilflose kleine Mädchen bin, für das du mich zu halten scheinst." Liebevoll fuhr sie ihm über die Wange. Er hatte seine Haare zu einem losen Zopf zusammengebunden, was selten vorkam. „Ich kann jetzt nichts mehr tun. Ihr seid besser darin, die Gedanken anderer zu erforschen."
„Er wird es nie ganz akzeptieren", meinte Raphael und deutete in die Richtung der Gästezimmer. „Das kann er gar nicht. Dafür bist du ihm zu wichtig."
In gemäßigtem Tempo gingen sie zurück in den öffentlichen Teil des Palastes. Raphael riet ihnen, sich bis zum Abendessen zurückzuziehen. Er wollte sich die Attentäterin vorknöpfen, sobald Isla sie hinreichend stabilisiert hatte. Eleasar ließ es sich nicht zweimal sagen, warf sich Ria über die Schulter und brachte sie in einen ihr unbekannten Raum. „Meine Räume", erklärte er kurz.
Neugierig nahm sie die kleine, sporadisch eingerichtete Wohnung in Augenschein. „Offenbar bist du nie lange hier."
„Früher war ich es gelegentlich. Mittlerweile gibt es ein durchaus gutes Argument, meine Nächte in meinem eigenen Haus zu verbringen." Seine Stimme wurde rauer, als er hinter sie trat und sie zärtlich in seine Arme schloss. „Ich möchte nicht von dir getrennt sein."
Mit schmerzendem Herzen drehte sie sich zu ihm um und legte ihm sacht einen Finger auf die Lippen. „Ich weiß. Wenn du dich dann besser auf die Suche konzentrieren kannst, nehme ich die Trennung in Kauf." Schließlich konnte sie jetzt wirklich nichts mehr tun.
Bestimmt schob er sie in Richtung Schlafzimmer. „Lassuns die verbleibende Zeit nutzen."
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