.:29:. In puncto Fähigkeiten


Nach Anbruch der Nacht kehrte Eleasar zurück. Er hatte einen langen Tag hinter sich und freute sich nun auf eine ruhige Nacht mit seiner Angetrauten. Er fand sie auf der Terrasse, gedankenverloren in den Sternenhimmel starrend. „Was hältst du davon, draußen zu schlafen? Die Nacht ist heute so schön." Ihre Stimme klang herrlich verträumt.

Langsam ließ er sich neben sie sinken. „Ich hatte anderes geplant."

Wissend funkelten ihn ihre einzigartigen Augen an. „Ich habe nachgedacht. Du und Raphael, ihr seid ja der Meinung, ich entwickle die Fähigkeit Gedanken zu hören. Heute hast du mich davor bewahrt. Aber ist es nicht eigentlich eine gute Möglichkeit, um gegen diese Gerüchte vorzugehen? Ich meine, wenn ich die Gedanken der Leute um mich herum hören kann, kann ich das doch zu meinem Vorteil nutzen."

Seufzend strich er ihr übers Haar. Seine mutige kleine Kriegerin. Immerzu darauf bedacht, mögliche Schwächen in Stärken zu verwandeln und sie als Waffen einzusetzen. „Ich wünschte, du hättest meine Fähigkeit adaptiert, Gedanken auf Wunsch lesen zu können."

„Glaube mir", antwortete sie schwach, „das wäre mir auch lieber." Andächtig lehnte sie sich an ihn. „Woher kommt das?"

„Du bist noch jung." Er zog sie auf seinen Schoß, wartete, bis sie sich angekuschelt hatte und legte dann sein Kinn auf ihrem Kopf ab. „In deinem Alter - plus/minus zehn Jahre - entwickeln wir einen Großteil unserer Fähigkeiten. Im Laufe der Zeit kommt dann vielleicht noch die eine oder andere dazu. Es gibt verschiedene Auslöser."

„Warum gerade jetzt?"

Es fiel ihm schwer, sein leises Lachen zu unterdrücken. Das waren Fragen, die kein Wesen dieser Welt stellen musste. „Du hast zu dir gefunden. Das kann man dir sogar ansehen. Deine orangenen Augen, die viel längeren Haare."

Missfallend zog sie an einer ihrer langen Strähnen. „Die sind unpraktisch. Meine alte Länge war schon problematisch genug. Aber das hier", verärgert fuhrt sie sich durchs Haar, „ist nicht zu bändigen."

„Ich mag deine Haare." Gedankenverloren strich er durch ihre Mähne hindurch. Sie fühlte sich so herrlich weich an und hatte einen wunderbaren Geruch an sich. Nach Zuhause.

„Warum Gedankenlesen? Ich meine, Emotionen sind oft schon aussagekräftig genug."

Kopfschüttelnd sah er ihr in die Augen. „Wenn ich das wüsste. Gut möglich, dass es daran liegt, dass ich es kann und du eine ähnliche Veranlagung hast."

Langsam schlug sie ihre Augen nieder, legte den Kopf leicht schief und blinzelte ihn dann frech von unten herauf an. „Dann habe ich das also dir zu verdanken."

Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen stand er auf und zog sie mit sich. Vorsichtig stellte er sie auf ihre eigenen Füße. „Willst du dich etwa beschweren? Wenn du es genau wissen willst, begleite ich dich in die Hohe Schule, damit du deine Fragen den richtigen Leuten stellen kannst."

„Schule?" Überrascht sah sie ihn an.

„Denkst du, wir hätten kein Wissen, das weitergegeben werden muss?" Er tat beleidigt.

Verlegen biss sie sich auf die Lippe. „Ich habe bislang noch keinen Gedanken an so etwas wie ein Bildungssystem verschwendet."

Lachend zog er sie ein wenig damit auf. „Wenn du willst, kannst du es dir ansehen. Vermutlich wäre es ganz gut, wenn du dort von Zeit zu Zeit hingehen würdest. Für Grundlagenwissen. Dann kommst du ein wenig raus und musst nicht meine Bücher auswendig lernen."

„Schule." Sie schnitt ihm eine Grimasse. „Ich war schon in der Menschenwelt zu alt."

„Schule", wiederholte er schmunzelnd, „geht hier bis fünfundzwanzig."

Das machte sie einen Augenblick lang sprachlos. „Macht Sinn. Längeres Leben und so." Sie gähnte herzhaft. „Mal sehen. Bei dem Terminplan wird das aber schlecht möglich sein."

Zärtlich drückte er sie an sich. „Niemand wird dir einen Vorwurf machen, wenn du dich dagegen entscheidest. An erster Stelle bist und bleibst du meine Frau."

„Suzi würde sich bestimmt freuen, wenn sie mir Nachhilfe geben könnte", murmelte Ria müde. „Ich glaube, sie will mich unbedingt besser kennenlernen."

Ihm war klar, dass sie den Wunsch ihrer Schwester nicht ganz teilen wollte. Sie misstraute Suzi, weil sie mit seiner Tante befreundet war. Er konnte es ihr keineswegs verübeln, schließlich traute er seinen Geschwistern auch nur bedingt.

Als Rias Kopf auf seine Brust sackte, trug er sie vorsichtig nach oben. Dabei fragte er sich, ob ihre persönliche Krise sich damit erledigt hatte. Er hoffte inständig, dass es so war. Im Schlaf seufzte sie wohlig. Er kam nicht umhin, noch einmal zu überprüfen, ob der Schatten um ihre Seele wieder da war. Er war es. Sogar stärker als zuvor. Zu gerne hätte er den genauen Wortlaut des Vertrages gekannt, allerdings war das eine Sache zwischen Ria und ihrem Geist. Ein leises Lachen wehte durch seine Gedanken. Besser als vorher. Ragnaröks Gedanken verschwanden. Offensichtlich hatten sie eine Formulierung gefunden, die es ihnen ermöglichte, zusammen und doch getrennt zu sein. Was für eine Erleichterung.

Nachdem er seine Frau zurück ins Bett gesteckt hatte, machte er sich daran, Vorbereitungen für die nächsten Tage zu treffen. Ria einem der Professoren der Hohen Schule vorzustellen, erschien ihm eine gute Idee. Vielleicht konnte er ihnen helfen, ihre Entwicklung zu erklären. Zwar hatte er so seine Vermutungen, doch wenn es seine Gemahlin betraf, wollte er gesicherte Informationen.

.

Zu behaupten sie wäre nervös, wäre untertrieben. Das imposante Gebäude, durch dessen Hallen sie gerade an Eleasars Seite ging, flößte ihr einen Heidenrespekt ein. Zwar war das hier kein Vergleich zum kaiserlichen Palast, doch allein die hier vorherrschende Atmosphäre reichte aus, um sich eingeschüchtert zu fühlen. Irgendwann gab sie es auf, würdevoll neben ihrem Mann herzugehen und klammerte sich an seine Hand. Er kommentierte das belustigt, woraufhin sie ihn anfuhr, er an ihrer Stelle würde es genauso tun.

Amüsiert führte er sie durch einen langen Gang, der vollgestellt war mit Vitrinen voller Auszeichnungen von Schülern. Die dunkle Atmosphäre schien Ria gar nicht zu gefallen. Er konnte es ihr auch nicht verübeln. Als er hier Schüler gewesen war, war es ihm genauso ergangen. Vor einer dunklen Holztür hielt er an, drückte aufmunternd ihre Hand und klopfte.

Ria versteifte sich kurz, als die Tür vor ihnen geöffnet wurde.

„Hoheit." Ehrfurchtsvoll verneigte sich der Professor vor Eleasar. Ria musste mehrmals auf das Schild sehen, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich vor einem Lehrer stand. Er wirkte keinen Tag älter als dreißig. Professoren waren doch meist alt und schrumpelig. Dieser hier sah aus wie aus dem Ei gepellt. Glatte, beinahe glänzende Haut, kräftiges dunkelgraues Haar und eine schmächtige Figur.

Bilde ich es mir nur ein oder riecht er nach Meer? Sie unterdrückte den Impuls, sich noch einmal zu vergewissern. Das wäre unhöflich gewesen.

„Professor Logan. Meine Gemahlin Ria." Sanft schob er sie vor sich. Er ist ein Selkie. Die leben im Wasser.

Unruhig nickte Ria dem großen, schlanken Mann zu.

„Eine Ehre. Bitte eintreten." Logan trat zur Seite und öffnete die Tür weiter, damit sie in sein mit Büchern und Regalen vollgestopftes Büro treten konnten.

Bestimmt schob Eleasar seine eingeschüchterte Frau weiter ins Zimmer und bedeutete ihr, sich zu setzen. Er nahm neben ihr Platz und wartete, bis der Gelehrte sich gesetzt hatte, ehe er ihm sein Anliegen schilderte.

Logan nickte nachdenklich. „Sie sind recht jung." Mit erschreckend alten Augen fixierte er Ria. „Und doch sind sie erwachsener als viele meiner älteren Schüler."

Ria schwieg. Selbst wenn sie nicht den Eindruck gehabt hätte, dass er das nur feststellte, hätte sie nicht gewusst, was für eine Antwort sie geben sollte.

Ein interessiertes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Professors aus. „Jetzt weiß ich, warum er Sie zu mir bringt. Sie haben einige interessante Fähigkeiten, wissen aber nicht, sie einzusetzen."

Genervt sprang sie auf. „Ich bin zu jung, ich weiß. Das habe ich jetzt mehr als genug gehört, dafür brauchte ich nicht extra her zu kommen."

Eleasar zog sie auf seinen Schoß. „Das hat er nicht gemeint." Aufmerksam wandte er sich wieder an den Lehrenden. „Was meinen Sie?"

Logan lächelte leicht. „Eine selten gewordene Schattenseele - und dazu noch aus der kaiserlichen Familie. Es ist lange her, dass es jemanden gab, der beides in sich vereinte. Der letzte war Kaiser Haru."

Ria verstand kein Wort, hielt sich jedoch davon ab, jetzt zu fragen. Sie wollte nicht, dass ihr Unwissen in irgendeiner Art und Weise auf ihren Mann zurückfiel.

Eleasar hingegen musterte seinen Gegenüber mit gerunzelter Stirn. „Das ist über dreitausend Jahre her." Haru war vor zwei Generationen Kaiser, erklärte er Ria schnell. Das machte Haru zum Vorgänger von Raphaels Vorgänger.

Der Professor nickte nachdenklich. „Ihr solltet König Marjan fragen, was genau für Kräfte Kaiser Haru besaß. Die beiden waren sehr eng befreundet." Dann wanderte sein Blick zurück zu Ria. „Ich würde Sie gerne in meinem Unterricht begrüßen. Um Ihren Kräften auf den Grund zu gehen, bevor Sie von ihnen überwältigt werden."

Mit hochgezogener Augenbraue stand Ria auf. „Kein Bedarf, besten Dank." Sie hatte keine Lust, noch mehr Dinge aus der Versenkung auszugraben. Sie wollte Ruhe. Und Ruhe bekam sie ganz sicher nicht in einem Haufen von Wesen, denen die Gerüchte garantiert zu Ohren gekommen waren.

Er ist kaiserlicher Berater in Sachen Fähigkeitsentwicklung, versuchte Eleasar sie zu beruhigen. Bei ihm bist du in guten Händen. Ich kann dir nicht viel helfen.

Ich will nicht mit unbekannten Leuten in einen Raum gesperrt sein, die garantiert anfangen werden zu tratschen. Das brauche ich im Moment wirklich nicht.

In diesem Punkt konnte er seiner Frau nicht widersprechen. „Was für Fähigkeiten können in den nächsten Monaten auftreten?", wandte er sich wieder an den Berater.

Nachdenklich legte Logan die Stirn in Falten. „Gedankenlesen. Aber das ist keine Neuigkeit. Sie hat eine starke Aura. Ich müsste sie häufiger sehen, um mehr darüber sagen zu können."

Das angespannte Nicken ihres Mannes brachte Ria zum Nachdenken. „Was hat das zu bedeuten?" Ihre Frage richtete sie direkt an den Gelehrten.

„Sie spüren Emotionen, nicht wahr?" Dass seine Frage nur rhetorischer Natur war, verriet sein wissender Blick. „Wie es aussieht, entwickeln Sie Ihre Fähigkeiten weiter. Dem Lesen von Emotionen folgt jetzt das Lesen von Gedanken. Je nachdem, welcher Theorie sie folgen, sind Emotionen Teil von Auren. Starke Auren können schwache beeinflussen. Sie könnten also eines Tages ihr Umfeld manipulieren."

Fassungslos schüttelte sie ihren Kopf. „Warum sollte ich das tun wollen? Ich bin vollkommen zufrieden mit dem, was ich kann."

„Das liegt an Ihrem Bund in diesen jungen Jahren. Seine Hoheit verfügt über ein größeres Ausmaß an Kraft und Energie. Ihre Seele versucht das auszugleichen, indem sie Ihre Entwicklung beschleunigt. Ich bezweifle jedoch, dass Sie ihm ebenbürtig werden oder ihn mit Ihren Fähigkeiten beeinflussen können." Andächtig erhob er sich. „Sollte etwas Unerwartetes auftreten, bitte ich Euch, mich aufzusuchen." Er reichte Eleasar die Hand. „Es war mir eine Ehre."

Eleasar verabschiedete sich höflich und begleitete seine Frau vor die Tür. Er hat dir quasi angeboten, dich zu fördern.

Ich will nicht unter Menschenmengen.

Hier sind keine Menschen, mahnte er sie streng. Wolltest du gestern Abend nicht noch den Tratschenden gegenübertreten?

Ungehalten fauchte sie ihn an. „Wenn Hoheit es so wünschen." Sie machte auf dem Absatz kehrt und trat nach kurzem Klopfen ins Büro. „Welche Kurse soll ich belegen?"

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top