.:27:. Aufbruch

Begeistert sprang Ria am nächsten Morgen die Treppe hinunter. Islas Behandlung hatte sehr schnell ihre Wirkung gezeigt und Raphael hatte ihr gestern einen kleinen Trick beigebracht, wie sie sich vor dem alles überschwemmenden Schwall an Stimmen, der sie gestern in Eleas Arbeitszimmer so plötzlich überfallen hatte, schützen konnte. Es ging ihr also wieder blendend. Vor allem da sie sich sicher war, draußen keine unangenehme Überraschung zu erleben, denn vor wenigen Minuten hatte Eleasar die Stimmen mit einer stärkeren Barriere von ihr weggesperrt. Er meinte, die Stadt sei ein ungeeigneter Ort, um mit ihrer anscheinend vollständig erwachenden Kraft zu üben.

„Ria." Suzis spitzer Schrei ließ sie erschrocken zusammenfahren. „Ria, was machst du da? Du verletzt dich nur unnötig."

„Ach was." Mit einer abwertenden Handbewegung streckte sie sich. „Was für ein schöner Tag."

Aleix trat zu ihnen. Er wirkte ebenso unausgeschlafen, wie ihre Schwester. Ria konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Sagt mir bloß nicht, ihr hättet die ganze Nacht geredet."

„Das haben wir tatsächlich", meinte Suzi unschuldig.

„Ja, Aleix ist ein echter Gentleman. Er würde niemals eine Situation ausnutzen."

„Jetzt machst du dich über ihn lustig", klagte ihre Schwester vorwurfsvoll.

Überrascht sah Ria sie an. „Nein, das war mein voller Ernst. Wäre er nicht so rücksichtsvoll, hätte ich Eli vermutlich einen Korb..." Hustend unterbrach sie sich selbst und wandte sich um. „Elea, guten Morgen."

Skeptisch musterte Eleasar vom oberen Treppenabsatz aus ihre Unschuldsmiene. „Den hast du mir schon vor einer Stunde gewünscht."

„Nein", zwitscherte sie fröhlich, „da habe ich dich zur Hölle gewünscht, weil du mich geweckt hast."

„Gut zu wissen, dass das nicht das gleiche ist." Seine trockene Entgegnung ließ ihre Gäste daran zweifeln, ob er seiner Frau wirklich zugehört hatte.

Munter breitete Ria ihre Arme aus und drehte sich um ihre eigene Achse. Sie trug ein cremefarbenes weit geschnittenes Kleid, das wunderbar verspielt um ihren Körper schwang. „Na, wie gefällt dir mein Kleid?" Sie schien sich nicht im Geringsten an der schroffen Art ihres Mannes zu stören.

„Ich habe es dir ausgesucht", lautete die kühle Antwort, als er langsam die Stufen hinab schritt. „Wir müssen gleich los."

Ria verdrehte ihre Augen. „Wenn du dich so um Aram sorgst, dann besuch ihn doch. Oder hast du Angst, deine Mutter könnte dich wieder festhalten und dazu zwingen, ihr den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Hauptstadt mitzuteilen?" Sie wusste nicht wirklich, was in Arams Schreiben gestanden hatte, das er in aller Frühe im Bett gelesen hatte. Eleasars Miene nach zu urteilen, hatte sein Freund ihm nichts Erfreuliches zu berichten gehabt.

„Das macht Talisha regelmäßig."

„Sorge dich nicht um mein Patenkind. Cian hält die beiden auf Trapp. Er versucht Laufen zu lernen und verschwindet immer mal wieder. Gut, dass Aram ein Vampir ist, der findet ihn überall."

„Vampire sind keine Spürhunde."

„Nein", entgegnete sie gelassen. „Aber er kann ihn riechen."

„Du glaubst immer noch den Blödsinn aus der Menschenwelt?"

Drohend bohrte sie ihm ihren Zeigefinger in die Brust. „Wie soll dein Mädchen-Bruder mich denn sonst gefunden haben?"

Endlich sah er ihr in die Augen. „Sie hören besser."

Ein siegessicheres Lächeln malte sich auf Rias Zügen ab. „Na, da hab ich doch endlich deine komplette Aufmerksamkeit."

Die hattest du die ganze Zeit. Nur finde ich es unangemessen, meine Frau vor unseren Gästen mit Blicken auszuziehen. Bist du sicher, dass es dir gut genug geht?

Beschwichtigend legte sie ihm eine Hand auf die Brust. Ja. Mir geht es besser als gut. Isla ist eine hervorragende Heilerin.

Erleichtert zog er sie an sich. Dann sollten wir keine Zeit verlieren und dir deinen Geist zurückholen.

Manchmal ist die Natur echt blöde. Als ob ich ohne ihn unselbstständig wäre.

Deine Seele ist es. Ich spüre es überdeutlich.

Wird ja immer blöder.

Er lachte leise und schob sie in Richtung Tür. „Los jetzt."

Suzi und Aleix tauschten verwirrte Blicke, während Ria lachend zur Tür lief. „Was weißt du über diese Seelengeschichte?", fragte er beiläufig die ältere Schwester.

„Nicht besonders viel. Nur, dass man es angeblich wüsste, wenn man seinem Gegenstück gegenüber steht. Ich wüsste wirklich zu gerne, wie er um meine Schwester geworben hat."

„Gar nicht." Eleasar sah sie finster an. „Wollt ihr noch mit oder war das bloß Gerede?"

„Würdet Ihr mir etwas über den Seelenbund erzählen?", wagte Suzi sich zaghaft zu fragen.

Er musterte sie einen Augenblick. Ria hatte ihm angedroht, sich an ihm zu vergreifen, sollte er auch nur ein Wort zu den beiden sagen. „Im Allgemeinen."

Begeisterung funkelte in Suzis Augen. Es war die gleiche Begeisterung, die Ria zeigte, wenn sie sich auf etwas freute. „Gibt es auch etwas im Speziellen?"

„Ich häng an meinem Leben", brummte er und deutete auf die offene Haustür.

„Wusstet Ihr, dass Ria Euer Gegenstück ist, als Ihr sie das erste Mal getroffen habt?"

„Ich hatte die Befürchtung."

„Wann wart Ihr Euch sicher, dass sie es ist?"

„Solltest du das nicht lieber deine Schwester fragen?"

Sie schüttelte ihren Kopf. „Als ich sie danach gefragt habe, hatte ich das Gefühl, sie würde mir gleich an die Gurgel gehen."

Das konnte er nachvollziehen. „Sie war fast bewusstlos, als ich sie getroffen habe. Verfolgt von Sems Leuten. Kein besonders romantischer Moment", spottete er und stieg zu seiner Gemahlin in die Kutsche. „Deine Schwester möchte wissen, wann du gemerkt hast, dass du dich unsterblich in mich verliebt hast", informierte er sie knapp.

„Du machst Witze." Mit gespieltem Unmut starrte Ria ihn an. Dann lächelte sie Suzi warmherzig an. „Er hat mir weißmachen wollen, dass ich mir das nur eingebildet habe. Danach ist er mir aus dem Weg gegangen. Als ich mir eingestanden habe, mich in ihn verliebt zu haben, hat er mich zurück in die Menschenwelt gebracht und ist abgehauen." Die letzten Worte zog sie bewusst in die Länge. Ein eindeutiger Seitenhieb.

„Wir sind quit", entgegnete der Angesprochene schulterzuckend.

„Ich glaube, ich bitte Ragna, mich auf einen schönen langen Ausflug zu begleiten. In die Berge, du weißt schon."

Er ging nicht darauf ein. „Freust du dich nicht vielmehr auf den Hafen?"

„Ah, wie könnte ich den gemeinen Pöbel vergessen haben." Finster funkelte sie ihn an. „Was hast du vor?"

Dein Misstrauen ist dieses Mal vollkommen unberechtigt.

Ihr Blick besagte eindeutig, dass sie ihm nicht glaubte.

Ich bin froh, dass du versuchst, dich mit Ragnarök zu vertragen. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass du instabil wirst, wenn du zu lange keinen Geist hast.

Seine Erklärung beruhigte sie. Das war in der Tat plausibel. Sein Vorschlag, dass sie nur den Vertrag schließen und seine Dienste nicht fordern sollte, war eine Möglichkeit, mit der sie gut leben konnte. Sie hoffte, dass der Schattendrache das ebenso sah. Tief durchatmend sah sie zu ihrer Schwester. Meinst du, Suzi und Aleix werden es merken?

Keine Ahnung. Aram wusste auch schon lange vor uns, dass wir zusammengehören. Ganz zu schweigen von seinem Vater.

Vielleicht sind ja nur die Betroffenen selbst blind dafür. Schulterzuckend wandte sie ihren Blick nach draußen. „Das Meer sieht immer so ruhig aus."

„Ist es auch meistens."

„Gibt es eine Geschichte zu der Farbe? Es gibt doch für alles Mythen und Legenden."

„Sem hat mir mal eine erzählt, aber ich glaube nicht, dass sie wahr ist", warf Suzi ein und starrte ebenfalls nach draußen. „Es ist wirklich schön."

„Du scheinst ihn ja nicht sonderlich zu vermissen", bemerkte Ria spitz. „Das ist das erste Mal, dass du ihn erwähnst."

Suzi verdrehte die Augen. „Ich war nicht sonderlich begeistert von seiner Idee, meinen Geist zerlegen zu lassen."

„Wer ist das schon." Eindringlich sah Ria in die graublauen Augen ihrer Schwester. „Du hast keinen Schimmer, nicht wahr? Ihr beide habt keine Ahnung."

Aleix sah sie fragend an. „Wovon?"

Schnaubend schüttelte sie ihre lange schwarze Mähne. „Du bist im Opa-Alter und hast keine Ahnung davon, dass du dich gerade Hals über Kopf in meine Schwester verguckst?"

„Aber er hat Gefühle für dich", warf Suzi beinahe verzweifelt ein.

„Seit gestern nicht mehr", entgegnete die jüngere Schwester eisern. „Wenn ihr mir das nicht glauben wollt, euer Pech. Dann wünsche ich euch hier in der Stadt einen schönen Tag."

Die Kutsche hielt am Dock und Ria sprang heraus. Sie hatte es so satt zusehen zu müssen, wie die beiden sich immer wieder verstohlene Blicke zuwarfen, ohne es selbst zu registrieren. „So langsam kann ich nachvollziehen, was Aram durchmachen musste", murrte sie und ließ ihre Hand in Eleasars gleiten.

„Oh, das mit uns war etwas anderes. Du warst die meiste Zeit bewusstlos. Mir hat er andauernd in den Ohren gelegen." Liebevoll küsste er sie auf die Stirn.

„Ich bin froh, dass wir das hinter uns haben", seufzte sie ergeben. „Noch einmal würde ich das nicht mitmachen wollen. Außer vielleicht, wenn du es bist."

Gerührt streichelte er ihre zarte Wange. „Mein kleiner Wirbelwind."

Die anderen beiden kletterten ebenfalls heraus und sie machten sich auf den Weg zu einer kleinen Jacht. Dieses Schiff war Ria wesentlich lieber als das große von Raphael. Außerdem konnten sie hier möglichst unbehelligt auf Reisen gehen - soweit man mit ihrem Mann unbehelligt reisen konnte.

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