.:25:. Ratlosigkeit
Menschenwelt.
Rias Wohnung war genauso trostlos und leer wie ihre Besitzerin. Bei seinem letzten Aufenthalt vor Ort hatte sie ihm erklärt, wo er Adressen finden konnte. Er schnappte sich ihr Notizbuch und suchte nach einer ganz bestimmten Adresse. Nachdem er sie gefunden hatte, griff er nach der daneben liegenden Karte und suchte nach dem kürzesten Weg.
Ungeachtet der späten Stunde klopfte er kurz darauf an die gesuchte Haustür. Eine junge Frau in Tageskleidung öffnete. Sie schien noch nicht geschlafen zu haben. „Oh", meinte sie desinteressiert, bevor sie nach jemandem rief.
Aleix erschien im Flur. Es wäre untertrieben zu behaupten, er wäre überrascht. „Was verschafft mir die Ehre?", erkundigte er sich mit einer Mischung aus Unglauben und Skepsis.
„Einen Ausflug", entgegnete Eleasar schlicht.
Obwohl der Jäger seinem Gegenüber nicht traute, nahm er seinen Mantel vom Haken und steckte seine Schlüssel ein. „Lass die Wohnung stehen", sagte er zu der jungen Frau und zog die Tür hinter sich zu. „Worum geht es?"
Der Andere warf ihm einen finsteren Blick zu. „Du triffst gleich den Kaiser. Er hat Fragen an dich."
Aleix wollte ihn noch fragen, was er damit meinte, als Eleasar auch schon in Richtung eines Parks ging. „Ich habe hier mein eigenes Leben und kein Interesse daran, nach Sídhe zu gehen."
Der Prinz drehte sich leicht um und sah ihn arrogant an. „Du hast keine Wahl. Entweder du folgst mir freiwillig oder ich zwinge dich dazu."
Seufzend überlegte Aleix, ob es die Sache wert war, ihn zu verärgern. Er wirkte schon angespannt genug. Vermutlich würde er eine Provokation nicht überleben. Zwar war er schon Ewigkeiten nicht mehr drüben gewesen, doch wusste er ganz genau, dass sich niemand mit Mitgliedern der herrschenden Familien anlegte. „Und wie willst du nach drüben gelangen? Hier ist nichts. Kein Portal."
Jetzt sah Eleasar ihn abfällig an. „Ich brauche kein Portal."
Sie hatten den Park erreicht. In einem abgeschiedenen Teil hockte er sich hin und begann, mit leichtem Druck Zeichen in den Sand zu zeichnen. Anschließend packte er Aleix erbarmungslos am Arm und trat in sein Wohnzimmer.
Anderswelt.
Aleix hatte das Gefühl, die Welt würde sich einmal um sich selbst drehen, dann hatte er wieder festen Boden unter den Füßen. Orientierungslos sah er sich in einem elegant eingerichteten Wohnzimmer um. Sofas standen hier einander zugewandt, in der Mitte ein schöner und zugleich schlichter Wohnzimmertisch. Wer hier wohnte, hatte Geschmack. „Wo sind wir?"
„Bei mir Zuhause", lautete die knappte Antwort. Eleasar hielt ihm ein Glas Wasser unter die Nase. „Trinken."
Der Jäger zögerte, folgte dann jedoch der Anweisung. Erstaunlicherweise fühlte er sich nach den ersten paar Schlucken schon wesentlich besser. „Warum bin ich jetzt hier?"
„Schattenseele." Raphael trat von hinten an Aleix heran, der große Mühe hatte, nicht sofort instinktiv zurückzuweichen. Ein grausames Lächeln umspielte die Lippen des Kaisers. „Ja, du weißt, wer dein Herrscher ist. Ich habe ein paar Fragen."
Eine junge Frau mit langem braunem Haar erschien in der Tür. Eleasar sah sie angespannt und abwartend an. Als sie beruhigend ihren Kopf schüttelte, setzte er sich. „Schlaf ist die beste Medizin."
Der Prinz setzte sich mit verschränkten Armen aufs Sofa und starrte Aleix finster an. Der wiederrum war maßlos verwirrt. Er wusste weder, warum er hier war, noch was sie von ihm erwarteten.
„Ria hat dir vertraut", begann Eleasar schließlich schleppend.
„Hat?" Die Augen der männlichen Schattenseele verengten sich. „Was hast du mit ihr gemacht?"
„Sie lebt", entgegnete der Prinz fest. „Wir haben Fragen bezüglich der Verträge."
Aleixs Geist Storm materialisierte sich und brauste auf. „Mein nichtsnutziger Sohn hat sie verlassen?"
„Um seine Art zu retten", warf der Kaiser erklärend ein.
„Wo ist er?", knurrte der Schattendrache. „Es ist eine Schande, einen Vertrag aufzulösen. Oder ging es von der Kleinen aus?"
„Wohl kaum", fauchte Eleasar ungehalten. „Halte dich in meinem Haus mit deinen Anschuldigungen zurück!"
Jetzt war Aleix klar, was den Prinzen umtrieb. Ria ging es schlecht. „Ich möchte sie sehen."
„Nein." Die beiden anderen Wesen lehnten es rundweg ab.
„Sie ist meine Freundin", entrüstete Aleix sich.
„Und meine Gemahlin."
„Eleasar." Die zierliche Frau legte eine Hand auf seinen Arm. „Raphael." Vorwurfsvoll sah sie den Kaiser an. „Ihr beide habt absolut keine Ahnung, was eine Frau in einer solchen Situation braucht." Sie lächelte Aleix aufmunternd an. „Sie schläft und ist ziemlich mitgenommen. Vielleicht sollten Sie bis morgen warten, bevor Sie sie treffen. Eleasar hat freie Gästezimmer."
Der Prinz sah sie so finster an, dass sie seufzend hinzufügte: „Das ist ein Befehl deiner Kaiserin. Ria hat einen Freund verloren. Jetzt braucht sie einen anderen."
„Sie hat mich", knurrte er.
„Ich verstehe deine Logik auch nicht ganz", warf ihr Mann ein. „Der einzige, den sie wirklich braucht, ist Eleasar."
Mit funkelnden Augen stemmte die einzige anwesende Frau die Hände in die Hüften. „Deshalb seid ihr Männer und keine Frauen. Ihr werdet nie verstehen, was in uns vorgeht."
Der Kaiser nickte plötzlich, als hätte er eine Eingebung. „Erklär es Eleasar. Ich kann es ihm nicht verübeln, dass er keinen anderen ungebundenen Mann in ihrer Gegenwart duldet."
„Wenn Isla es befiehlt, bleibt er hier. Er kann im Keller schlafen. Ich gehe nach oben." Eleasar verschwand schneller aus dem Raum als Aleix verfolgen konnte.
„Die beiden sind etwas angespannt", begann die Kaiserin freundlich und bedeutete dem Gast, sich zu setzen. „Ria ist uns allen sehr wichtig."
„Sie ist eine gute Freundin", sagte Aleix mit besorgter Miene. Dass Storm in seinem Kopf tobte, bedeutete, dass es schlimm aussehen musste. „Ich möchte helfen, soweit ich kann."
„Raphael?"
Der Kaiser sah seine Gemahlin fragend an.
Sie lächelte leicht. „Ria mag doch so gerne Eis, wie sie es nennt. Sei so gut und lass etwas herkommen. Eleasar wird nichts im Haus haben."
Der Kaiser nickte. „Sonst noch irgendwelche Botengänge, die ich erledigen soll?"
Seine Frau sah ihn tadelnd an, woraufhin er wortlos den Raum verließ. „Möchten Sie etwas essen? Oder noch etwas trinken?"
Aleix deutete auf den Wasserkrug, der auf dem Wohnzimmertisch stand. „Ich bin versorgt, danke."
Die hübsche Frau nickte leicht. „Mein Name ist Isla. Ich bin die Kaiserin, aber das ist in diesem Zusammenhang bedeutungslos. Ria ist für den Kaiser und mich wie eine Tochter, daher haben sie dich hergeholt. Ihre Art ist so selten, dass wir von keinem wissen, der alt genug ist, um uns Auskunft über die Verträge geben zu können."
„Mein Erfahrungsschatz diesbezüglich ist sehr begrenzt." Bedauernd schüttelte er seinen Kopf.
Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Was bedeuten euch die Verträge?"
Er überlegte eine Weile, bevor er zögernd begann: „In der Menschenwelt sind sie Gefährten, Ratgeber und Helfer. Sie können keine wirklich feste Gestalt annehmen, wenn wir es uns nicht ausdrücklich wünschen. Wie sich das hier verhält, weiß ich nicht. Ist ein Geist nicht mehr da, fühlt man sich einsam. Daher sind wir immer bestrebt, einen Vertrag zu haben, sobald wir einmal einen hatten." Traurig starrte er auf seine Hände. „Ria war fast ihr ganzes Leben mit ihm zusammen. Es muss ihr den Boden unter den Füßen weggerissen haben."
„Sie steht unter Schock", bestätigte Isla leise. „Aber sie erholt sich. Eleasar mag zwar schroff wirken, aber er sorgt sich sehr um sie."
„Das ändert nichts daran, dass wir uns nicht mögen."
Fragend musterte sie ihn. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass er eifersüchtig auf Sie ist."
„Nein, das reicht weiter zurück." Er stellte das Glas auf den Tisch ab. „Mein Vater hat vor hundertfünfzig Jahren seine Freundin getötet."
Das Lächeln der Kaiserin gefror. „Ich denke, wir haben alles geklärt. Wenn Sie Ria gesehen haben, wird Eleasar Sie wieder zurück in Ihre Welt bringen."
Ratlos sah er der Frau hinterher. Was hatten alle mit diesem Ereignis von damals zu tun? Ein wenig verloren suchte er nach seinem Gästezimmer. Niemand war so freundlich ihm den Weg zu weisen.
.
Als er am nächsten Morgen endlich zu ihr durfte, lehnte Ria auf einem großen, einladend wirkenden Bett in einem Haufen Kissen. Er staunte nicht schlecht über ihre langen Haare und die jetzt orangene Augenfarbe. Sah er davon ab, dass sie furchtbar mitgenommen aussah, war sie nie hübscher gewesen.
„Aleix", begrüßte sie ihn freudig überrascht. Sie bemühte sich um ein freundliches Lächeln, konnte ihre Trauer jedoch nicht ganz verbergen, die wie ein Schatten über allem zu liegen schien, was sie tat. „Elea hat mir erzählt, dass er dich entführt hat." Ein liebevoller Ausdruck huschte über ihre schönen Züge.
Es versetzte ihm einen Stich, sie so verliebt zu sehen. In diesem Moment verfluchte er seine Tugendhaftigkeit. „Wo ist er?" Vorsichtig sah er sich nach Rias Mann um.
Lächelnd klopfte sie neben sich aufs Bett. „Die Kaiserin hat ihn rausgeschmissen. Vermutlich holt er mir jetzt endlich meinen Eis-Ersatz. Ich kann den Namen davon nicht aussprechen. Solange er weiß, was ich meine, ist alles in Ordnung."
Es tat ihm weh, sie so schwach zu sehen. „Du siehst schrecklich aus."
Überraschung zeichnete sich auf ihren erschöpften Zügen ab. „Tatsächlich? Dabei fühle ich mich wieder richtig gut. Wie geht es dir? Du siehst müde aus."
Leise lächelnd setzte er sich neben sie. „Dein Mann ist nicht besonders gastfreundlich."
Kichernd schüttelte sie ihren Kopf. „Ihm passt es gar nicht, dass er dich überhaupt her holen musste. Er ist so dickköpfig."
„Ich denke kaum, dass du ihm in Sturheit nachstehst."
„Schwer zu sagen", meinte sie schulterzuckend. „Bleibst du noch hier? Ich muss dir etwas erzählen, was dich garantiert umhauen wird."
Neugierig sah er sie an. „Ich muss irgendwann wieder arbeiten", erinnerte er sie an seine Pflichten in der anderen Welt.
Aufgeregt schlug sie ihre Decke beiseite und sprang auf. Schwankend setzte sie sich wieder hin. „Okay, dann eben so. Weil du keine Ahnung hast, wie sich das hier mit den Geistern auswirkt, hat Eleasar nach jemandem geschickt. Vor zwei Tagen schon. Wenn das alles nach Plan läuft, kommt sie heute Mittag an. Du musst sie unbedingt kennenlernen. Ihr Name ist Suzi. Mehr erzähle ich dir aber nicht. Da musst du selbst drauf kommen."
„Du musst nicht so tun, als wäre alles in Ordnung", kam es wenig begeistert vom Türrahmen. Eleasar stand dort, in der Hand eine Schale Eis. Ihm gefiel es nicht, dass sie versuchte, ihren schlechten Zustand zu überspielen. „Der Rest ist unten." Angesichts ihres leicht erholten Zustandes, lächelte er sie zurückhaltend an. „Von wegen Adele ist die einzige, die eine Obsession für lokale Süßigkeiten hat."
„Halt die Klappe und gib her." Ungeduldig streckte sie die Hand nach ihrer Lieblingsspeise aus. „Eis ist saisonal begrenzt. Kekse nicht. Ich muss die letzten warmen Tage doch ausnutzen."
Kopfschüttelnd reichte er ihr ihren Nachtisch. „Das ersetzt keine Mahlzeit."
„Aber jede Menge Wasser." Begeistert schaufelte sie sich die ersten Löffel in den Mund. „Willst du auch?", fragte sie Aleix.
„Der kann sich selbst was holen", murrte ihr Mann, woraufhin er sich einen vorwurfsvollen Blick einfing.
„Musst du nicht arbeiten?"
„Solange du keinen Geist hast, bleibe ich in deiner Nähe."
Beide tauschten entschlossene Blicke aus. Aleix sah sich in seiner Vermutung, sie beiden seien in etwa gleich stur, bestätigt.
„Alles, was nicht mir gehört betrittst du nicht."
Nach einem kurzen bösen Blick grinste Ria ihn zufrieden an. „Dir gehört der halbe Südhafen."
„Untersteh dich", knurrte der Prinz. „Ich kette dich ans Bett, solltest du versuchen, dieses Grundstück zu verlassen." Sein Blick wanderte zu Aleix. „Wenn du schon hier bist, sorg dafür, dass sie nichts Dummes anstellt. Darin ist sie Meisterin." Mit einem letzten warnenden Blick auf Ria verschwand er aus der Tür.
„Blödmann", rief sie ihm hinterher. Kopfschüttelnd wandte sie sich wieder ihrem Eis zu. „Das kriegt der zurück."
Die andere Schattenseele beobachtete sie zufrieden. Sollte ihnen auch kein gemeinsames Glück vergönnt sein, so war er froh, dass es wenigstens ihr gut ging. Sie hatte es verdient, glücklich zu sein. „Ich hatte Sorge, du würdest dich hier nicht wohlfühlen oder zurechtfinden, aber anscheinend geht es dir gut."
Eis fiel zurück in die Schale, als sie den Löffel sinken ließ. „Solange ich nicht raus gehe, ist alles in Ordnung." Ein finsterer Schatten huschte über ihr Gesicht. „Aber es gibt so Vieles zu erzählen. Also, fang an. Ich bin gerade am essen. Hast du Hunger? Ich kann Elea schicken."
Fassungslos schüttelte er den Kopf. „Ich kann noch immer kaum glauben, dass der kaiserliche Prinz persönlich dein Essen kocht."
Bei ihrem belustigten Schnauben verschluckte sie sich. „Der und kochen? Im Leben nicht. Aber der Koch hier ist wirklich gut", prustete sie mit Lachtränen in den Augen. Allein die Vorstellung von Elea als braven Hausmann und begeisterten Koch war beinahe zu viel für sie. In ihren Augen passte das nicht zusammen.
Die Zeit bis zum Mittagessen verbrachten sie damit, sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen. Zu Rias ehrlicher Überraschung tauchte Eleasar beim Mittagessen nicht auf, dafür erwartete sie ein Brief von Adele. Sie überflog ihn kurz und musste zwischendurch grinsen. Cian hielt sie anscheinend ganz schön auf Trapp.
Sie waren gerade mit dem Essen fertig, da wurde es in der Eingangshalle laut. „Ich glaube, unser Besuch ist da." Vorsichtig stand sie auf und ging zur Tür. So richtig fit war sie noch nicht. Immer wieder musste sie ihre Schritte leicht ausbalancieren, um nicht umzukippen.
Sie öffnete gerade die Tür, da wurde diese von außen auf und Ria zu Boden gerissen. „Schwesterchen. Wie geht es dir? Ich habe gehört, du bist krank? Wem muss ich dafür in den Hintern treten?"
Ria stöhnte gequält auf. „Suzi, bitte lass mich aufstehen. Mir wird schlecht."
Das rothaarige Mädchen sprang auf und zog ihre kleine Schwester mit sich. „Also, wer ist der Schuldige? Wieder dieses dumme Gerede von wegen du hättest eine Affäre?"
Seufzend deutete Ria auf Aleix. „Ich möchte dir einen Freund vorstellen. Aleix, das ist Suzi. Suzi, Aleix."
Beide starrten sich verwundert an - und froren in ihren Bewegungen ein.
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