.:20:. Ein Stich ins Herz

Ria stand an der Reling und starrte ins klare Wasser, das sich am Bug teilte. Geräuschlos trat Eleasar hinter sie und strich ihr zärtlich das Haar aus dem Nacken, um ihr einen Kuss auf die entblößte Stelle zu drücken. „Ich wollte keine dunklen Erinnerungen heraufbeschwören."

Traurig lehnte sie sich an ihn. „Du hast deine eigenen Schatten, die du mit dir herumträgst."

„Meine Wunden sind älter", erklärte er ruhig. „Es ist jetzt gut hundertfünfzig Jahre her." Er umfasste das Geländer neben ihr. „Was bedrückt dich wirklich?"

„Was wird von mir erwartet?" Gequält sah sie ihn an. „Bitte, verschweig es mir nicht."

Er schwieg. Erst ihr zutiefst flehender Blick veranlasste ihn dazu, etwas zu sagen. „Was wird in der Menschenwelt von frisch verheirateten königlichen Paaren erwartet?", lautete schließlich seine zögerliche Gegenfrage. Er wollte nicht, dass sie ihre Einzigartigkeit und ihre selbstbewusste, energiegeladene Art aufgab, nur um den Ansprüchen anderer zu genügen. Allerdings kursierten die schädlichen Gerüchte schon viel zu lange.

Seine ausweichende Art bestätigte ihre Befürchtung. „Also doch. Wieso hast du es mir nicht gesagt?"

Er küsste sie ordentlich, bevor er an ihren Lippen flüsterte: „Weil es eine Sache zwischen uns beiden sein sollte."

„Gibt es deshalb so viele Gerüchte?"

„Nein." Entschieden sah er ihr in die Augen. „Die gibt es, weil Camille damit angefangen hat, sie in die Welt zu setzen. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn Paare eine ganze Weile kinderlos bleiben."

„Seelengebunden?"

„Die Wenigsten."

„Königlich?"

Zögerlich schüttelte er den Kopf. „Ria. Mach dir keinen Druck, das bringt nichts."

Niedergeschlagen sah sie ihn an. „Bringt das die Gerüchte zum verstummen?"

Sie eng an sich drückend gestand er: „Raphael und Isla sind der Meinung, das sei die einzige unblutige Möglichkeit."

Mit großen, dunkelorangenen Augen sah sie zu ihm auf. Abgrundtiefe Verzweiflung spiegelte sich in ihrem Blick wieder. „Schlaf mit mir."

„Nein." Seine Anspannung war zum Greifen. „Solange du in dieser Stimmung bist, rühre ich dich nicht an."

„Aber wenn es die einzige Möglichkeit ist!"

Entschieden schnappte er sich ihre Hand, um zu verhindern, dass sie sein Hemd aufknöpfte. Sie so zu erleben, brach ihm das Herz. „Ria. Komm zu dir."

„Ich bin bei mir", fauchte sie ihn ungehalten und mit wässrigen Augen an.

Er hielt sie zwischen sich und der Reling gefangen. „Selbst wenn ich mit dir schlafe, bringt es nichts. Nicht, wenn ich nicht will." Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie leidenschaftlich. „Ich liebe dich und werde ganz sicher nicht zulassen, dass du dich in etwas verrennst, was du gar nichts willst."

„Aber ich kann das nicht mehr", flehte sie ihn unter Tränen an. „Elea, ich kann das Gerede nicht mehr ertragen. Sogar der kleine Junge dachte, ich betrüge dich nach Strich und Faden."

Zorn kochte in ihm hoch. Zorn auf diejenigen, die diese Gerüchte in die Welt gesetzt hatten und auf die, die sie glaubten und weitererzählten. „Wenn wir von dem Ausflug wieder da sind, bringe ich dich zu Adele." Er küsste sie erneut, dieses Mal sehr besitzergreifend. „Ich erlaube dir nicht, dich deinen Zweifeln hinzugeben."

Kraftlos sank sie an ihn. „Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll." Wie Sturzbäche flossen die Tränen über ihre Wangen und färbten den Stoff ihres dunkelroten Oberteils eine Nuance dunkler.

Beruhigend strich er ihr übers Haar. „Nichts überstürzen. Wir haben vorerst drei Monate Zeit, um abzuwarten wie sich die Lage entwickelt, bevor wir eine Entscheidung treffen müssen. Bis dahin kannst du dir ansehen, wie es mit einem kleinen Kind ist und selbst entscheiden, ob du noch warten willst."

Eine Weile schauten beide in die Wellen. Ria mit tränenden Augen, Eleasar mit finsterem Blick. „Du hast recht", flüsterte sie schließlich mit belegter Stimme. „Warten wir erst mal ab."

Stunden später kehrten sie ins Schiffsinnere zurück. Ria zitterte gelegentlich. Sie hatten die Zeit vergessen und jetzt war ihr eiskalt. Eleasar hatte deswegen ein schlechtes Gewissen und brachte ihr schnellstmöglich einen heißen Tee.

Ihre Mitreisenden tauchten auf und fragten sie, ob sie Lust hätten, ein paar Gesellschaftsspiele mit ihnen zu spielen. Da Ria die meisten Spiele nicht kannte, bildeten sie und Eleasar ein Team, wobei er sich darauf beschränkte, ihr Ratschläge zu geben.

Wesentlich schneller als die anderen ermüdete sie. Da sie keine Lust hatte, alleine ins Bett zu gehen, machte sie es sich auf Eleasars Schoß bequem. Er selbst unterhielt sich bis zum Morgengrauen mit den beiden Herrschern. Dann brachte er seine unruhig träumende Frau zu Bett und legte sich nachdenklich neben sie. Ihr aktueller Zustand gefiel ihm ganz und gar nicht. Leider konnte er vorerst nichts anderes tun als bei ihr zu sein und sie zu beruhigen.

Früh am nächsten Morgen wachte Ria auf. Ragnarök war so unruhig, dass sie einfach nicht mehr schlafen konnte. Ihr Drache spürte die Nähe seiner Artgenossen und konnte es kaum erwarten, sie endlich zu treffen. Wie ein verspielter Welpe tollte er in ihrem Geist umher.

Soweit es eben ging, schob sie ihn aus ihrem Bewusstsein und kletterte vorsichtig aus dem Bett. Sie wollte Eleasar auf keinen Fall wecken. Auch wenn er angeblich nicht so viel Schlaf brauchte, musste sie ihn ja nicht unbedingt davon abhalten. Barfuß schlich sie aufs Deck, um die Ruhe der Welt zu bewundern, bevor alles zum hektischen Leben erwachte. Draußen traf sie auf den Kaiser. „Schläfst du überhaupt?", begrüßte sie ihn verwundert.

Freundlich lächelte Raphael sie an. „Gelegentlich. Bist du auch hier, um den Sonnenaufgang zu bewundern?"

Zögerlich trat sie neben ihm an die Reling. „Es ist schön, wenn die Welt noch schläft. Früher bin ich gerne durch die Nacht gewandert. Wenn ich erwischt wurde, habe ich immer ordentlich Ärger bekommen, aber ich konnte es einfach nicht lassen. Auch wenn es nur eine Illusion ist, hat die Nacht für mich immer so etwas wie Frieden bedeutet." Sehnsüchtig sah sie der schwindenden Dunkelheit hinterher.

Er stellte sich dicht hinter sie und umfasste das Geländer zu ihren Seiten. „Fühlst du dich immer noch so einsam?"

Ria wusste nicht recht, wie sie sich verhalten sollte. Seine Nähe war kein Vergleich zu Eleasars. Sie hinterließ in ihr ein eher tröstendes Gefühl. „Nein. Auch wenn ich ihn in den Wahnsinn treibe, ist Elea immer für mich da."

„Er versteht dich vermutlich besser als du denkst."

Gedankenversunken starrte sie aufs bunte Wasser. „Soweit ein Mann eine Frau verstehen kann."

Der Kaiser lachte leise. „Eure Verbindung geht über eure natürliche Veranlagung hinaus. Ein Menschenleben ist vielleicht zu kurz, um das zu begreifen, aber wir leben länger."

Unsicher drehte sie sich zu ihm um. „Warum soll ich ein Kind kriegen?"

„Dann hat Eleasar es dir also doch gesagt." Es war eine wertungsfreie Feststellung. „Nun", ein verschmitztes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, „vielleicht hätte ich ja gerne Enkel."

Die Augen verdrehend schüttelte Ria ihre langen Haare. „Dann musst du das deinem Sohn sagen."

Ernst fing er ihren Blick ein. „Du bist wie eine Tochter für mich. Isla und ich, wir hatten von Anfang an das Bedürfnis, dich zu beschützen."

Gerührt umarmte sie ihn. „Danke."

Schwarzer Rauch bildete sich um sie herum. Dann sprang Ragna vom Schiff und segelte an ihnen vorbei. Seine Aufregung wirbelte durch ihren Geist und lenkte sie kurzweilig von ihren Sorgen ab. Ria, spürst du sie?

Irritiert sah sie ihm nach und horchte sie in sich hinein. Da war etwas. Etwas, das sie stark an ihren treuen Geist erinnerte. Ja. Es sind nicht besonders viele. Sie löste sich aus Raphaels Armen, sah ihn entschuldigend an und kletterte geschickt auf die Reling. Als Ragnarök wieder in der Nähe war, sprang sie hinunter.

Kopfschüttelnd sah Raphael ihr hinterher. Jetzt verstand er nur zu gut, warum Eleasar kurz vor ihrer zeitweiligen Trennung durchgedreht war. Ihm war das Herz kurz stehen geblieben, als sie einfach so ins Nichts gesprungen war. Er hatte den Schattendrachen gar nicht bemerkt und schon befürchtet, sie würde unter das Schiff geraten. Jetzt glitt das Tier in Sichtweite durch die Luft. Ria lag entspannt auf seinem Rücken, ihr langes schwarzes Haar wehte wie eine Fahne im Wind.

Nach einem kleinen Sturzflug löste sich der Drachenkörper plötzlich in Luft auf und Ria fiel mit einem leisen Aufschrei ins Wasser. Als sie auftauchte, verfluchte sie den Drachen, begann dann aber herzhaft zu lachen und schwamm entspannt ein paar Züge.

„Das ist weniger lustig, wenn sie über einer Ebene von der Klippe springt." Eleasar trat neben Raphael, die Augen fest auf seine entspannte Frau gerichtet.

„Das lässt dich nicht los."

„Würde Isla das machen, wärst du bestimmt nicht mehr so gelassen", knurrte er und beobachtete Ria beim Tauchen. „Sie verändert sich."

„Die Haare und Augen." Der Ältere nickte.

Eleasar schüttelte nachdenklich seinen Kopf. „Das mit ihren Augen war schon, als ich sie traf. Aber ihre Haare wachsen jetzt viel schneller. Dabei hatten sie ihre natürliche Länge schon vor Jahren erreicht." Es gefiel ihm gar nicht, dass sie sich zu sehr veränderte. Er konnte ihre Veränderungen nicht einschätzen und das machte ihn wahnsinnig.

Beruhigend legte der Herrscher seinem Schützling eine Hand auf die Schulter. „Vielleicht ist das der Unterschied zwischen der Menschenwelt und unserer Welt."

„Hey", vergnügt winkte Ria von unten zu ihnen herauf. „Gibt's hier nen Rettungsring oder muss ich klettern? Ragna weigert sich mir zu helfen."

Mitleidslos sah Eleasar zu ihr hinunter. „Du musst klettern."

Sie warf ihm einen bösen Blick zu und tauchte unter. Kurz darauf tauchte sie weiter vorne wieder auf. „Ich schwimm dann vor."

Ihr Mann seufzte resignierend. „Manchmal könnte sie ruhig etwas weniger selbstständig und stur sein."

Lachend ging der Kaiser nach drinnen. „Das ist dein Problem. Gib ihr den Tag. Sie kommt zurück, wenn sie die Insel besichtigt hat."

Die Insel der Schattendrachen war tatsächlich nur eine halbe Schwimmstunde entfernt. Ria ließ sich von ihrem Geist leiten und genoss die Züge durch das stetig flacher werdende Meer. Weil das Wasser quasi durchsichtig war, konnte sie immer wieder kleine Lebewesen um sich herum schwimmen und vor ihr abtauchen sehen. Wenn sie Zeit hatte, nahm sie sich vor, würde sie wieder her kommen und die Wasserwelt gebührend bewundern. Das, was sie beim Vorbeischwimmen sah, gefiel ihr.

Am Strand zog sie ihr vollgesogenes Kleid aus. Sie würde es später wieder mitnehmen, denn hier konnte sie es nicht gebrauchen. Neugierig folgte sie dem erstaunlich weißen Sand bis zu den ersten Baumreihen. Es waren exotische Bäume - noch nie hatte sie solch eindrucksvolle Gewächse gesehen. Da bekam der Begriff Dschungel gleich eine ganz andere Bedeutung. Die vorherrschende Atmosphäre hatte etwas Schweres, Mystisches an sich. Ragnarök nahm seine normale Gestalt an und stürmte aufgeregt von dannen, während Ria sich Zeit ließ. Sie wollte ihm ein privates Treffen mit seinen Artgenossen ermöglichen, schließlich waren die so etwas wie seine Familie.

Als sie dann schließlich auf sie traf, musste sie mit Bestürzung feststellen, dass es erschreckend wenig waren. Lediglich ein halbes Dutzend. Sie bildeten einen ziemlich illustren Haufen. Kein Drache glich dem anderen, alle hatten sie ihre Eigenarten und Besonderheiten. Was sie ihr besonders sympathisch machte war, dass kein Einziger unter ihnen das Leben zu ernst zu nehmen schien - sie salzten alles mit einer Prise gewöhnungsbedürftigen Humors.

Lange lauschte sie ihren faszinierenden Geschichten aus vergangenen Zeiten. Es war erstaunlich, wie alt einige von ihnen waren. Sie konnte spüren, dass Ragnarök sich sehr stark mit ihnen verbunden fühlte und sah wie er ein paarungswilliges Weibchen anhimmelte. Es versetzte ihr einen Stich ins Herz.

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