.:09:. Neuanfang

Kraftlos lag Ria auf diesem prächtigen Himmelbett und starrte den kostbaren Vorhang an. Es war jetzt fast eine Woche vergangen, seit sie Eleasar verlassen hatte. Aus ihrem ursprünglichen Vorhaben, nur für eine Nacht im Palast zu bleiben, waren nun schon Tage geworden. So bedauerlich es auch klang, sie hatte keinen Antrieb das Zimmer oder gar den Palast zu verlassen. Einfach nur hier vor sich hin zu vegetieren, klang sehr verlockend - wenngleich sie das nicht immer so betrachtete. Aber für jetzt war es ihr genug. Auf Drängen der Kaiserin hin hatte sie Adele geschrieben und ihr versichert, dass es ihr gut ging und sie wohlbehalten in der Hauptstadt angekommen war. Das war allerdings auch das einzig Produktive, das sie in dieser Zeit zustande gebracht hatte. Ragnarök hatte seit dem Zwischenfall im Garten seine eigentliche Gestalt nicht mehr annehmen können. Sie hegten den Verdacht, der Kaiser könnte das veranlasst haben. Schließlich hatte sie schon einmal unerlaubt die Hauptstadt verlassen.

Müde rappelte sie sich auf und trat ans Fenster. Selbst die schöne Aussicht auf das Meer und das dahinter liegende Land wollte ihr nicht gefallen. Das einzige, an das sie denken konnte war, wie sehr sie ihren Mann vermisste. Und das, obwohl sie sich alle Mühe gab, ihn sich aus dem Kopf zu schlagen. Sie wollte einfach nicht mit ihm zusammen sein. Nicht, wenn er sie so einengte.

Ein kleiner Schwarm Vögel zog vor ihrem Fenster vorbei. Sie beneidete die Tiere um ihre Freiheit. Es war, als wollten sie sie mit ihrem Zwitschern dazu überreden, doch nach draußen zu gehen. Aber wenn sie draußen war, wusste sie nicht, was sie an dem einladenden Garten oder der noch besseren Aussicht finden sollte. Alles war irgendwie fad. Und freudlos.

Auf dem Flur lief jemand entlang. Und noch jemand. Sie wusste nur zu gut, was dieses aufgeregte Herumgewusel im Gang zu bedeuten hatte. Besuch. Danach stand ihr noch weniger der Sinn als nach dem Park. Lustlos seufzend öffnete sie die Tür zum Balkon und kletterte über das Geländer auf einen nahestehenden Baum. Gerade rechtzeitig, denn kurz darauf trat die Kaiserin in das Zimmer. Möglichst unbemerkt kletterte sie einige Bäume weiter, bevor sie es sich dort, umgeben von dichtem, grünem Laub auf einem dicken Ast bequem machte. Lange hatte sie dort jedoch keine Ruhe. Irgendwelche Palastgäste fanden in der Nähe einen Platz, an dem sie ein angeregtes Pläuschchen begannen. Das war eindeutig nicht ihr Tag. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als tiefer in den Park zu flüchten. Ihr Ziel war eine kleine Lichtung, an der ein kleiner Fischteich angelegt worden war. Sie hatte diesen Platz bei ihrem ersten Fluchtversuch aus dem Palast entdeckt. Dort hatte man sie dann gefunden und irgendwie angenommen, sie hätte nur einen Spaziergang gemacht. Ihr war es ganz recht gewesen. Besser, als sich von dem Kaiser eine weitere Standpauke abzuholen.

Sie war so darauf fixiert, von der lauten Gruppe weg zu kommen, dass sie die Anwesenden auf der Lichtung erst bemerkte, als sie schon vom Baum gesprungen war und direkt vor ihnen auf dem Boden landete.

„Ria. Das ist eine Überraschung." Der Kaiser bot ihr lächelnd seine beringte Hand an.

Sie sprang ohne seine Hilfe auf. „Ich wollte nicht stören." Auch ohne sich umzudrehen wusste sie, wer hinter ihr stand und wortlos dem Geschehen folgte. Am liebsten wäre sie im Boden versunken.

„Bleib doch", forderte er sie freundlich auf. „Wir haben uns gerade über dich unterhalten."

„Tatsächlich?", fragte sie betont desinteressiert. „Was für eine unerwartete Neuigkeit." Der Sarkasmus in ihrer Stimme war selbst für einen Tauben nicht zu überhören.

„Wieder auf einem Spaziergang durch den Park?"

Sie wusste ganz genau, worauf er anspielte. Auch wenn man es ihr nie hatte nachweisen können, war ihnen beiden klar, dass kein Zweifel daran bestand, dass ihr Fluchtversuch aufgeflogen war. „Auf der Flucht vor Ihrer Frau", antwortete sie wahrheitsgemäß.

Kaum wahrnehmbar umspielte ein seichtes Lächeln Raphaels Lippen. „Eine ebenso unerwartete Neuigkeit."

Sie antwortete mit einem knappen Nicken ihrerseits. „Da wir jetzt wieder auf dem neuesten Stand sind, kann ich ja gehen." Mit jeder Sekunde, die sie hier stand wurde seine Gegenwart unerträglicher.

„Der Park ist bald zu Ende. Du solltest den Rückweg einschlagen."

„Ich halte nicht viel von Gehwegen."

„Soll ich das als weiteren Fluchtversuch werten?" Es war eine klare Mahnung, dass er ihr Verhalten nicht länger lustig fand.

Aufgebracht fuhr sie ihn an. „Und was dann? Sie haben mich bereits in einen gläsernen Käfig gesteckt!"

„Du irrst dich", widersprach er ruhig. „Ich habe dich vor einer großen Dummheit bewahrt."

Ungehalten biss sie sich auf die Lippe. Sie hielt es hier langsam wirklich nicht mehr aus. Sie wusste nicht einmal, was für eine Dummheit das gewesen wäre. „Kann ich jetzt gehen?"

Der Kaiser verneinte. „Ihr solltet miteinander reden. Ich erwarte euch beide morgen um zehn." Mit einem letzten warnenden Blick in ihre Richtung ging er davon.

Tränen stiegen ihr in die Augen, sie konnte sie nicht länger zurückhalten. „Ich kann nicht", flüsterte sie erstickt. „Ich kann nicht schon wieder so tun, als wäre nichts gewesen."

Schweigend trat Eleasar neben sie. Gerne würde er sie in seine Arme schließen und sie trösten, doch wusste er nicht, ob sie es zulassen würde. Nach eigener Aussage wollte sie ja nicht einmal mit ihm reden.

„Ich kann nicht." Krampfhaft sich selbst umarmend sank sie zu Boden. „Ich verliere die Achtung vor mir selbst, wenn ich das tue." Sie begann unkontrolliert zu zittern und sich geradezu manisch vor und zurück zu bewegen.

Angesichts ihres Leids warf er alle Bedenken über Bord und zog sie in seine Arme. Sie sollte nicht leiden. Nicht seinetwegen. „Du sollst nicht vergessen", versuchte er ihr mit belegter Stimme begreiflich zu machen. Dabei strich er ihr immer wieder sanft über den Rücken. Sie so zu sehen, traf ihn tief. „Ich bin nicht sonderlich stolz auf mein Verhalten."

Es bedurfte einigen guten Zuredens, bis sie zu verstehen schien, was er ihr sagte. Allmählich löste sie ihre niedergeschlagene Haltung. In seinen Augen konnte sie das gleiche Leid sehen, das sie von innen heraus zerfraß. „Ich kann nicht mit dir mitgehen", erklärte sie ihm aufgelöst. „Nicht jetzt."

Er nickte betroffen. „Das weiß ich. Das verlange ich auch nicht von dir."

Vorsichtig, beinahe ängstlich ließ sie sich in seine Arme sinken. Warum fühlte es sich nur so unheimlich gut an, wieder bei ihm zu sein? „Ich wollte weggehen und in zwanzig Jahren oder so wieder kommen. Dann wäre ich älter und es gäbe diese Probleme nicht", brach es plötzlich aus ihr hervor.

„Das ist Unsinn", widersprach er leise, aber bestimmt. „Ich hätte dich gefunden - egal wo." Sie konnte doch nicht denken, dass er sie jemals gehen ließ.

Verzweifelt schüttelte sie ihren Kopf. „Nein, du verstehst das nicht. Ich werde immer etwas tun, das dich um mich fürchten lässt. Ich will das Leben spüren und das kann ich nur so."

Behutsam zog er sie ein wenig enger an sich. „Das verstehe ich besser als du denkst. Hör zu, es tut mir wirklich unendlich leid. Ich wollte dich nie wieder verletzen... und genau das habe ich getan." Es war unverzeihlich, dass er ihr das angetan hatte. Er war entschlossen, für seine Fehler zu büßen.

Ihr Zittern legte sich ein wenig. Mit geröteten Augen sah sie zu ihm auf. „Und weißt du, was das Schlimme daran ist?" Es gelang ihr nicht, ein schmerzerfülltes Schluchzen zu unterdrücken. „Dass ich dich so sehr liebe, dass ich es am liebsten vergessen würde."

Erleichterung durchflutete ihn und er schmiegte sich voller Liebe an sie. Das war ein Schritt in die richtige Richtung. Daran konnte er anknüpfen. „Bist du sauer, weil ich Raphael gebeten habe auf dich Acht zu geben?"

Langsam schüttelte sie ihren Kopf. „Nein. Zuerst war ich schon sauer, aber in der vergangenen Woche hatte ich viel Zeit zum Nachdenken", begann sie zögerlich. „Wäre ich in die Menschenwelt zurückgekehrt, hätte ich ein ziemliches Blutbad angerichtet." Verlegen spielte sie mit dem Saum seines Hemdes. „Er hatte recht als er mir sagte, ich würde vor meinen Gefühlen weglaufen. Du bist nicht alleine schuld."

Daraufhin wusste er nichts zu erwidern. Also hielt er sie bloß im Arm und lauschte ihrem immer ruhiger und stetiger werdenden Atem. Eine ganze Weile saßen sie stumm da, hingen ihren eigenen Gedanken nach und genossen die wohltuende Gegenwart des jeweils anderen. Wieder beieinander zu sein, war wie ein Schluck Wasser, wenn man kurz vorm Verdursten stand.

Schließlich kniete Ria sich vor ihn. „Kaum zu glauben, dass ich mich nur in deiner Nähe wirklich komplett fühle." Vorsichtig streckte sie eine Hand nach ihm aus, um sanft seine attraktiven Züge nachzufahren. „Fangen wir nochmal von vorne an?"

Er schenkte ihr ein liebevolles Lächeln. „Das wäre schön." Wobei das wohl die Untertreibung des Jahrhunderts war. Diese wenigen Worte bedeuteten ihm die Welt.

Sie nickte glücklich, wurde jedoch schnell wieder ernst. „Die Kaiserin hat mir angeboten bei ihr zu lernen, wie ich heilen kann. Ich möchte ihr Angebot annehmen."

Verwundert griff er nach ihrer Hand. Isla war nicht dafür bekannt, andere zu unterrichten. „Das ist großartig. Sie ist eine angesehene Heilerin."

Angespannt nickte Ria. Sie musste unbedingt diese schreckliche Bitte loswerden, die ihr auf der Seele brannte. „Ich weiß nicht, wie du dazu stehst, aber ich möchte erst einmal hier wohnen bleiben."

Auch wenn es ihn wurmte, hatte er mit nichts anderem gerechnet. Sie war bereit, sich erneut auf ihn einzulassen. Jetzt musste er ihr entgegen kommen. Wenn er sein Ziel, ihr Schritt für Schritt wieder näher zu kommen erreichen wollte, musste er sich damit abfinden. „Für einen Neuanfang vielleicht gar nicht so schlecht."

Erleichterung durchflutete sie. Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen, doch dieses Mal waren es Tränen unermesslichen Glücks. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er dafür Verständnis aufbringen würde. „Danke."


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