.:03:. Launen und eine unerwartete Fähigkeit
Als Ria am nächsten Morgen blass und mit tiefen Augenringen am Frühstückstisch erschien, lächelte Aram sie mitleidig an. „Na, schlechte Nacht gehabt?"
Daraufhin warf sie ihm einen vernichtenden Blick zu. Eine solche Nachfrage verdiente in ihren Augen einfach keine Antwort. „Geht es Adele besser?"
Der Vampir nickte gelassen. Wäre das nicht der Fall, wäre er jetzt nicht hier. „Du weißt ja, sie mag keine Menschenmengen. Wo ist Eleasar?"
„Seine Leiche versinkt gerade im Moor." Finster dreinblickend griff sie nach einem Brötchen. „Ich habe ihn im Schlafzimmer eingeschlossen", seufzte sie zwischen zwei Bissen. „Damit ich wenigstens etwas Nahrung zu mir nehmen kann."
Aram versuchte gar nicht erst, sein wissendes Grinsen zu verbergen. „Du hast dich ja ganz schön an Lana rangeschmissen. Kein ungebundener Mann hätte da widerstehen können."
„Vorsicht." Warnend deutete sie mit ihrem Messer auf ihn. „Ich habe mich nicht an sie rangemacht. Sie hat versucht, Elea auf eine sehr billige Tour zu verführen. Was würdest du tun, wenn ein Kerl im String vor Adele mit seinem Hintern herum wackeln würde?"
Augenblicklich wurde er ernst. Besitzgier wallte in ihm auf. Seine Frau gehörte ihm und war ihm treu ergeben. „Adele würde sich niemals für ihn interessieren."
Ria lächelte schwach. „Es ist ja nicht so, dass ich Elea nicht vertraue. Nur würdest du diesen Kerl doch auch gerne abmurksen, oder?"
Dagegen konnte er nichts einwenden. Schweigend trank er sein Blut und fragte sich, ob sie wirklich noch das gleiche Mädchen war, das er vor etwas weniger als einem Jahr getroffen hatte. Der Bund mit Eleasar konnte sie nicht so vollkommen verändert haben. Sein Freund war ja auch noch derselbe. Mit dem Unterschied, dass er wieder aufrichtig lachte. Aber Ria, sie schien wie ausgewechselt.
Aufrichtige Überraschung zeigte sich auf ihren Zügen und sie sagte langsam: „Weil er mich wirklich berührt. Mit so starken Emotionen umzugehen ist nicht leicht, wenn man alle immer von sich geschoben hat."
Blasse grüne Augen sahen sie verwundert an. „Ich habe gar nichts gesagt."
Verwirrt musterte die junge Frau ihn. „Doch, du hast dich gefragt, warum ich wie ausgewechselt bin. Mal ganz davon abgesehen, dass ich nur privat ein wenig offener geworden bin." Unruhig zerrupfte sie das Brötchen in ihren Händen. Er musste das laut ausgesprochen haben, sonst hätte sie es ja nicht gehört. Oder?
Auch Aram schien nicht recht zu wissen, was geschehen war. „Ich schwöre dir, ich habe nichts gesagt."
Ria ließ ihr zerfleddertes Brötchen fallen, fuhr sich durch die langen Haare und sprang auf. „Ich habe mir das ganz sicher nicht eingebildet! Du hast das doch gedacht, oder?"
Seine Augen verengten sich, als ein Verdacht in ihm aufkeimte. „Ja, ich habe es gedacht. Und ihr beide seid wirklich erst ein halbes Jahr gebunden?"
Sie schien noch immer nicht ganz zu wissen, worauf er hinaus wollte. Ächzend setzte sie sich wieder auf ihren Stuhl. „Wäre das anders, wüsste ich davon." Forschend sah sie ihm in die Augen.
Aram wandte sich plötzlich ab, sprang auf und riss die Tür auf. „Eleasar!"
Ria erschrak, als der Vampir einfach so in den Flur rief. Brüllte traf es wohl eher. „Der ist oben eingesperrt", murrte sie ungehalten.
Aram ignorierte ihren Einwand und wartete angespannt, bis sein bester Freund im Flur erschien und ihn fragend ansah. Wortlos deutete er in den Raum.
Überrascht sah Ria ihren Mann an. „Wie bist du denn aus dem Zimmer gekommen?"
Eleasar grinste und schnappte sich ihr Glas. „Jeder Mann braucht so seine Geheimnisse." Er bemerkte das in Mitleidenschaft gezogene Brötchen auf ihrem Teller und sah sie aufmerksam, wenn auch verhalten grinsend an. „Das ist nicht wegen letzter Nacht, oder?"
Ria schnaubte. „Ab sofort teile ich mir mit Adele ein Zimmer." Dann funkelte sie Aram an, der mit dem Rücken an der mittlerweile geschlossenen Tür lehnte. „Und jetzt sag doch endlich, warum du den Idioten herbestellt hast."
Ein Lächeln unterdrückend setzte Eleasar sich auf den Stuhl hinter Ria und sah den Vampir ebenfalls abwartend an. Der schüttelte noch immer fassungslos den Kopf. „Ria hat meine Gedanken gelesen."
„Ich habe dir doch gesagt, dass das unmöglich ist", fauchte sie und sprang auf. „Du musst das laut ausgesprochen haben! Schließlich kann ich kein Gedanken-Voodoo."
Wortlos ließ Aram seinen Blick von ihr zu Eleasar gleiten. „Adele kann noch nicht einmal ansatzweise meine Gedanken lesen und Ria benutzt deine Fähigkeiten?"
Grübelnd musterte der Prinz seine Gemahlin. „Hast du dich gefragt, was Aram denkt?"
Ria nickte verwirrt. „Ich werde doch nicht verrückt, oder?"
Ihr Mann lächelte schwach. „Nein. Nur solltest du das noch nicht können." Zu Aram sagte er schlicht: „Sie liest meine Gedanken nicht. Hast du dich abgeschirmt?"
Der andere verneinte. „Ich hielt es nicht für nötig, weil Ria nicht auf den Geist zugreifen kann."
„Das ändert sich offensichtlich gerade", seufzte Eleasar leise. Er stand auf und zog seine überforderte junge Frau in seine Arme. „Mit dir ist alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen." Beruhigend strich er ihr durchs Haar.
Aram warf seinem Freund einen verständnislosen Blick zu. Er vertraute darauf, dass er den Gedanken hörte, den er jetzt bewusst für ihn formulierte: Du bist damals fast verrückt geworden, bevor du das beherrschen konntest.
Eleasars Blick wurde vernichtend. Eine klare Botschaft, dass das Thema Ria gegenüber niemals angesprochen werden sollte. Nachdem Aram seine Einwilligung verkündet hatte, drückte er seine Frau auf ihren Stuhl und überredete sie dazu, noch etwas zu essen.
Stillschweigend verließ der Vampir den Raum. Das würden aufreibende Tage werden. Besser, er genoss die wenigen verbleibenden ruhigen Minuten mit Adele, bevor sie aufbrechen würden.
.
Verwundert sah Adele Ria beim Einsteigen zu. Es war nicht das Verhalten ihrer Freundin, die irgendwie blass und unausgeschlafen wirkte, das sie wunderte, sondern das ihres Mannes. Eleasar schien sie vor jedem abschirmen zu wollen. Keiner der Angestellten konnte sich ihr auf weniger als fünf Meter nähern, geschweige denn sie ansprechen. Fragend wandte sie sich an ihren eigenen Mann. „Weißt du, was da los ist? Ria scheint sein Verhalten nicht zu bemerken..."
Fürsorglich legte Aram einen Arm um sie. „Ich habe dir von den Folgen des Seelenbundes erzählt." Seine Frau nickte abwartend. Verglichen mit Rias Temperament war ihm die ruhige Zurückhaltung seiner eigenen Frau wesentlich lieber. „Heute Morgen hat Ria unbewusst auf Eleasars Fähigkeiten zugegriffen und meine Gedanken gelesen. Wenn ich dir jetzt mehr erzähle, lyncht er mich." Entschuldigend lächelte er sie an. „Sobald wir an unserer ersten Station angekommen sind, kann ich dir mehr erzählen. Dann ist er außer Hörweite."
„Ich wusste gar nicht, dass Eleasar Gedanken lesen kann", entgegnete Adele verwundert. „Meinst du, Ria kann das jetzt auch? Oder war das nur Zufall?"
Ratlos zuckte er mit den Schultern. „Du solltest Eleasar nach Rias Fähigkeiten fragen. Vielleicht sind sich ihre angeborenen Talente so ähnlich, dass es ihnen leichter fällt, die des anderen zu benutzen."
Nachdenklich kletterte nun auch Adele in die Kutsche. Sie fragte sich, wie Ria es nur aushielt, Zeit mit ihr zu verbringen, denn sie war schlichtweg unbegabt. Weder sprach sie die hier übliche Sprache, noch verfügte sie über sonstige übernatürliche Talente. Hatte Ria ihr deshalb so offenkundig verschwiegen, was sie alles konnte? Selbst die wenigen Techniken zur Selbstverteidigung, die einer von Rias Freunden in der Menschenwelt ihr beigebracht hatte, beherrschte sie nur mäßig. Kein Vergleich zu dem Können, das Ria hatte. Es war eine traurige Erkenntnis, dass sie nicht ansatzweise auf derselben Stufe stand wie ihre beste Freundin. Niedergeschlagen ließ sie ihren Blick von Ria, die fast schlafend im Sitz hing, zum Fenster gleiten. Auf dem Weg dahin blieb er an Eleasars hängen. Seine tiefblauen Augen funkelten eigenartig. Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ er ihren Blick los und betrachtete ein wenig besorgt seine Gemahlin.
Endlich rührte Ria sich. Sie lächelte Adele mit offenkundig schlechtem Gewissen an. „Hey. Wie geht es dir heute?"
Schwach erwiderte diese ihr Lächeln. „Besser. Und dir? Du siehst aus, als hättest du die Nacht über kein Auge zugetan."
Ihr entging der böse Blick nicht, den Ria Eleasar zuwarf, bevor sie mit unterdrücktem Gähnen antwortete: „Ja, das kann man so sagen." Schläfrig lehnte sie sich an ihn. „Weck mich, bevor ich zu lange schlafe." Es dauerte nicht lange, da schlief sie auch schon tief und fest.
„Was habt ihr bloß die ganze Nacht getrieben?" Fassungslos schüttelte Adele den Kopf.
„Wenn ich dir das sagen würde, müsste ich mich vor deinem Mann verantworten", entgegnete Eleasar trocken.
Adele schien erst jetzt bewusst zu werden, was Rias Blick eigentlich hatte bedeuten sollen und lief knallrot an. „Das will ich gar nicht wissen."
Beide Männer lachten und Aram zog sie eng an sich. „Liebste, wenn du meiner Ex-Freundin begegnen würdest, was würdest du dann tun?"
Adele schien zu überlegen. Arams Ex? Allein der Gedanke daran versetzte ihr einen schmerzhaften Stich ins Herz. „Ich weiß nicht. Ist Ria denn deiner Ex begegnet?" Neugierig sah sie zum Prinzen.
Spöttisch verzog Eleasar den Mund. „Nein."
Da er nichts mehr dazu sagte, sprang Aram erklärend ein. „Eleasar hatte vor Ria keine Freundin. Nur Liebschaften."
Nachdenklich sah sie den braunhaarigen Mann an, der ihr gegenüber saß. Sie erinnerte sich, dass Aram ihr von einer alten Liebe erzählt hatte. „Und was war mit Sayana?"
Augenblicklich schien die Luft aus allen Dingen gedrückt zu werden. Sogar Ria schien es zu bemerken. Unruhig zuckte sie im Schlaf zusammen. Dieses unheimliche Phänomen verflüchtigte sich, sobald Eleasar beruhigend Rias Schläfe berührte. „Sayana", sagte er gedehnt, „geht dich gar nichts an." Sein frostiger Ton jagte ihr eine Heidenangst ein.
Damit war das Thema für Adele erledigt. Nie wieder würde sie diesen Mann auf seine Vergangenheit ansprechen. Aram hingegen schien das anders zu sehen. „Weiß Ria von ihr?"
Wenn Blicke töten könnten... Irgendwann war das Blickduell zwischen den Freunden beendet. Seine schlafende Frau betrachtend antwortete Eleasar knapp: „Sie kennt die grobe Geschichte."
„Grob wie: Ich hatte einmal eine sehr gute Freundin, die jetzt tot ist?" Aram schüttelte resignierend den Kopf. „Du solltest es ihr erzählen."
„Das ist hundertfünfzig Jahre her", entgegnete Eleasar eisern. Er wollte nicht darüber reden. Ebenso wenig wollte er, dass Ria jemals davon erfuhr. Selbst wenn er wusste, dass sie irgendwann uneingeschränkten Zugang zu seinen Erinnerungen haben würde. Doch bis dahin dauerte es hoffentlich noch einige Jahrzehnte. „Niemand erwähnt diesen Namen in Rias Gegenwart."
Aram zeigte sich unbeeindruckt. „Das ist eine Sache zwischen euch. Irgendwann wird sie dir ebenbürtig sein, was den Nahkampf angeht. Du solltest vielleicht die Zeit davor nutzen, es ihr zu sagen."
Jetzt lächelte er leicht. „Ich bin in der Tat sehr gut davongekommen." Damit bezog er sich auf die Zeit, in der er sie für ein gutes halbes Jahr verlassen hatte, direkt nachdem sie den Seelenbund eingegangen waren. Es war eine schlimme Zeit gewesen, doch hatte er sie in ihrem damaligen Zustand nicht in seiner Welt, der Anderswelt, wissen wollen. Vor zwei Wochen hatte er sie unfreiwillig zu sich geholt, um einen unnötigen Krieg zu verhindern. Bis dahin hatte Ria so schlechte Laune gehabt, dass ihm prophezeit worden war, auseinander genommen zu werden, sobald sie ihn auch nur erblickte. Doch nichts dergleichen war geschehen. Sie hatte sich in seine Arme geworfen und ängstlich an ihn geklammert. Da war ihm klar geworden, dass sie nicht sauer, sondern nur unheimlich einsam und verletzt gewesen war. Er hatte die trotz allem unglaubliche Tiefe ihrer Liebe gespürt und sich geschworen, sie nie wieder derartig zu verletzten. Wenn sie die Geschichte mit Sayana erfuhr, würde sie unweigerlich verletzt werden.
Jetzt starrte Adele ihn finster an. „Sehr gut ist gar kein Ausdruck. Du musstest ihre Launen ja nicht jeden Tag ertragen..."
Aram erstickte ihre weiteren Worte in der Hand, die er ihr vor den Mund hielt. „Adele, bitte. Eleasar ist nicht gerade gut gelaunt." Er wusste, dass sein Freund in dieser Stimmung keinen Unterschied machte, ob sie nun die Frau seines besten Freundes war oder nicht.
Eleasar wandte seinen Blick von den beiden Liebenden ab und strich seiner Geliebten zärtlich über den Arm. „Wenn ihr so aneinander hängt, warum redet ihr dann nicht über eure Bedenken?"
Überrascht sahen ihn seine Mitreisenden an. „Was meinst du?" Aram sah von Ria und Adele und dann zu seinem Freund.
Der schüttelte verständnislos den Kopf, anschließend fixierte er Adele mit seinen dunkelblauen Augen. „Das sind eure Frauenprobleme. Du solltest dir darüber im Klaren sein, dass Ria als Wesen geboren wurde und ihr Leben lang trainiert hat, um besser zu sein als die Menschen in ihrer Umgebung. Du warst ein Mensch. Da ist es nur natürlich, dass sie dir in vielen Dingen überlegen ist."
Adele verstand nicht ganz, was er ihr sagen wollte. „Ich bin immer noch ein Mensch."
Eleasar schwieg. Er sah es nicht als seine Aufgabe an, Adele über die Folgen ihrer Verbindung mit Aram in Kenntnis zu setzen.
Aram seinerseits warf ihm einen undankbaren Blick zu. „Wenn du schon Dinge andeutest, solltest du auch erklären, was du damit meinst." Er zog seine Frau auf seinen Schoß, bevor er sie daran erinnerte ihr erzählt zu haben, dass ihr Leben nun an seines gebunden war und sie so lange leben würde, bis er starb. Bis dahin war sie kein Mensch mehr, aber auch kein vollständiges Wesen.
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