Kapitel V - Aussichten
Draven.
Jemand schüttelte mich. Ich schlug die Augen auf und wusste diesmal sofort wo ich war. Man hatte mich auf das Sofa gelegt, doch nur eine schwarze Figur stand über mir. Sie sah mich ohne jeden Ausdruck an, eine schwarze Maske, in deren Visier sich nur mein blasses Gesicht spiegelte. Ich wollte sie nicht länger ansehen und blickte mich im Raum um. Die anderen beiden - Gelb und Lila - waren noch im da, aber sie schenkten mir keinerlei Beachtung. Was geht denn hier nur vor?
Plötzlich zerrte mich die schwarze Figur an der Schulter hoch und fing an mich aus dem Raum zu führen. Beim Hinausgehen sah ich wie mich Gelb aus seinem Augenwinkel aus anstarrte. Ich dachte ich würde ausnahmsweise etwas in seinen Augen sehen. Angst? Mitleid?„Au, Sie tun mir weh", schrie ich die Figur an, aber ich stieß nur auf taube Ohren. Auch sonst reagierte niemand. Ich war noch immer wackelig auf den Beinen und ich musste mich ungewollt auf diese Figur stützen. Ich versuchte nicht einmal mich zu befreien, es hätte ohnehin keinen Sinn.
„Was ist denn mit dem Film, darf ich den jetzt etwa nicht sehen?" Noch immer keine Antwort.
„Wo gehen wir überhaupt hin?", „Wer waren die anderen?", „Wo sind wir überhaupt?"
Ich bombardierte sie mit Fragen, aber all das nützte nichts, sie blieb stumm. Dann sah ich, dass wir wieder einmal auf eine dieser silbernen Türen zusteuerten. Ich spannte unbewusst jede Faser meines Körpers an wodurch das Gehen noch schwieriger wurde. Mittlerweile wurde ich mehr mitgezogen als dass ich ging, jetzt verstummte auch ich.
Hinter den geschlossenen, silbernen Türen hielt ich mich wieder so gut wie möglich fest und doch wusste ich, dass ich wohl wieder nicht genug Kraft hatte. Die Figur schloss ihre Hände nicht um meine Taille, Verona half mir wenigstens zuvor. Beim Geräusch, das der Lift verursachte, bekam ich eine Gänsehaut, ich wollte nicht wieder nach oben geschleudert werden. Doch als sich das Ganze in Bewegung setzte, kam es mir irgendwie normaler vor. Die Geschwindigkeit machte mir nicht mehr so viel aus wie zuletzt, ich musste nicht einmal meine Beine gegen den Boden pressen, um Halt zu bewahren. Endlich hatte ich Zeit mich umzusehen, aber der Lift sah letztendlich doch nur wie jeder andere Raum aus, deshalb betrachtete ich die schwarze Figur näher. Ich konnte nicht ausnehmen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Die Figur war viel größer als ich und durch diese schwarze Maske und Rüstung konnte ich nichts erkennen. Kein Fleckchen Haut war an der Figur zu sehen, die Finger, der Hals, der gesamte Kopf und der restliche Körper waren in schwarz eingedeckt. Ich vermochte auch nicht zu sagen woraus diese Rüstung überhaupt bestand, sie glänzte wie Öl und hatte viele Ecken und Kanten. Die Figur sah fast aus wie ein Roboter und doch hatte sie etwas menschliches an sich.
Der Lift verlangsamte sich und die Türen schnellten zur Seiten. Zugleich ergriff die Figur meinen Oberarm und zerrte mich wieder vor sich hin, wobei ihre Bewegungen menschlich aussahen. Der Flur auf den wir traten, schien irgendwie heller zu sein als die anderen, die ich bisher gesehen hatte, das Licht blendete mich fast. Die Lichtquelle schien von der anderen Seite des Flurs zu kommen. Ich erkannte was da vor mir lag: Ein bodenlanges Fenster. Es hatte eine magische Anziehung auf mich und ich versuchte so schnell wie möglich dorthin zu gelangen. Aber plötzlich stolperte ich rückwärts. Die Figur war stehengeblieben und hielt meinen Arm mit eisernem Griff. Ich warf dem Fenster noch einen letzten sehnsuchtsvollen Blick nach, dann drehte ich mich zur Figur um. Wir standen nun vor einer blassgelben Tür. Warum war mir diese Farbe nicht schon vorher aufgefallen? Immerhin war es Farbe.
Ich überlegte kurz die Figur zu fragen, wo wir nun waren, doch ich ließ den Gedanken gleich wieder fallen, da mir wahrscheinlich ohnehin keine Antworten gegeben werden würden. Plötzlich ließ mich die Figur los. Zuerst deutete sie auf das Schild neben der Tür. „Kunis Margo, Willkommensdirektorin" stand dort. Ich wusste nichts damit anzufangen. Dann zeigte die Figur auf ein paar gemütliche Sessel, die in der Nähe aufgestellt waren, was wohl soviel hieß wie „Warte dort." Noch immer fragte ich mich, warum die Figur nicht sprach. Dann machte sie diese seltsame Begrüßung und ging davon. Mein erster Gedanke war klar: Ich wollte mich nicht hinsetzen, ich wollte zum Fenster. Wie ferngesteuert machte ich mich auf den Weg.
Am boden- und wandlangen Fenster angekommen bot sich mir ein unglaublicher Ausblick. Türme, die, wie es schien, bis in den Himmel hinaufragten. Ich wusste nicht in welchem Stockwerk ich mich befand, aber in der Nähe sah ich das Dach eines anderen Gebäudes. Es war leicht bewölkt und am Horizont fing es an zu dämmern, aber dennoch glaubte man, die Wolkenkratzer würden leuchten. Weiße und Graue Giganten erhoben sich und vereinzelt konnte man schon Lichter in den dunkelblauen und grauen Fenstern sehen. Leichter Dunst zog sich durch die ganze Stadt und sie schien schier unendlich zu sein. Es gab viele Türme, die nah bei einander standen und durch Brücken verbunden waren. Manche waren verschachtelt wie Burgen gebaut, andere schwangen sich stilvoll auf ihre eigene Weise und andere streckten sich gerade aus in die Wolken. Vereinzelt waren so etwas wie Zeppeline zu sehen, die überall herumflogen. Weiter rechts wand sich etwas spiralförmig nach oben, doch es war ein Fleck in der sonst einheitlichen Farbgestaltung, es hatte viel weniger Fenster und außerdem schien es schwarz zu sein. Links endete die Stadt doch noch, denn es war eindeutig dort Wasser zu erkennen, wo sonst Gebäude stehen würden. Aber das Fenster erlaubte es nicht mehr zu zeigen wie weit sich der Fluss oder das Meer erstreckte. Direkt vor mir war eine Art Kuppel zu sehen, die überhaupt nur aus riesigen Hexagonen aus Glas bestand und bereits von allen Seiten beleuchtet wurde. Kurz dachte ich, dass das blaugrüne Gewirr unter der Kuppel wie Wasser aussah, doch es war zu weit weg, um es genau sagen zu können. Und als ich weiter nach unten sehen wollte, wurde mir die Sicht versperrt. Das untere Drittel des Fensters war wie Milchglas gestaltet und man konnte nur ein blaugraues Wirrwarr erkennen. Ich inspizierte das Fenster genauer. Es war ein schöner Übergang zwischen normalen Glas und Milchglas, kein gerader Schnitt, der das Fenster in zwei Teile trennen würde. Ich tastete vorsichtig den Rahmen ab, der eindeutig mit Silikon abgedichtet war. Dabei wagte ich es nicht viel Druck auf das Glas auszuüben und achtete darauf, dass ich keine Fingerabdrücke hinterließ.
Eigentlich wunderte ich mich, dass ich zuvor nicht die Nase gegen das Fenster gedrückt hatte. Als ich mit den Fingern die Fugen entlang fuhr, drehte ich auch langsam die Hand und dann sah ich etwas an der Innenseite meines Handgelenks. Es erinnerte mich an ein Tattoo, doch war es nicht so kräftig und diesmal wusste ich genau, dass es so etwas in meiner Erinnerung nicht gab. Ich tastete diese Art grauer Malerei mit dem Daumen ab, doch konnte ich keinerlei Erhebungen spüren. Ich öffnete meine Handfläche und dachte an meine Erinnerung zurück. Meine Hände waren dort eindeutig voller Blut und vom Glas zerschnitten, aber jetzt waren nicht einmal Anzeichen von Narben zu sehen. Seltsam.
„Ein wunderschöner Ausblick, oder?"
Ich erschrak bei der plötzlichen Stimme in der Stille. Ich drehte nur den Kopf und sah eine große, schlanke Frau mit engem, grauem Mantel und aschblonden Haar, das wie gebügelt aussah. Sie war mir anscheinend lautlos nahe gekommen und ich konnte ihr Gesicht sehen. Obwohl ihre Augenbrauen geschwungen waren, wirkte ihre ganze Augenpartie streng, aber irgendwie hatte ihr Gesicht mehr Leben als die der anderen Personen, die ich bisher gesehen hatte. Nachdem ich zu lange nichts gesagt hatte, kamen wieder Worte von ihren schmalen Lippen: „Sie müssen Miss Grey sein." Sie kam langsam näher und ich richtete mich aus der Hocke auf. Aus Reflex reichte ich ihr die Hand zum Gruß, doch sie rührte ihre vor sich übereinander gelegten Hände nicht und starrte nur auf die meinen. Schnell schloss ich meine Hand und zog sie zurück. Da sie noch immer auf eine Antwort zu warten schien, sagte ich: „Und Sie müssen Kunis Margo sein."
Sie richtete ihre Augen wieder auf mein Gesicht und ihr schmaler Mund lächelte kurz. „Sehr aufmerksam, Miss Grey." Sie pausierte kurz und fing wieder an: „Mir ist zu Ohren gekommen, dass es ihnen unten nicht so gut ging. Was ist denn passiert?"
Ich brauchte nicht lange für meine Antwort. „Ich weiß es nicht", log ich, „vielleicht sind es Nachwirkungen des... des Tiefschlafes?"
„Unsinn", erwiderte die Direktorin, „so etwas gibt es bei uns nicht."
Was hatte denn das schon wieder zu bedeuten? Warum war es den Leuten hier nicht möglich, klar und deutlich auszusprechen, was sie meinten?
„Sehen Sie, Miss Grey", riss sie mich aus meinen Gedanken und fing an sich anmutig und geschmeidig durch den Raum zu bewegen, „es gab noch nie eine Reise mit Komplikationen und das war auch bei Ihnen der Fall." Sie blieb neben mir beim Fenster stehen und blickte hinaus.
„Aber Fehler passieren doch im-"
„Nein", unterbrach sie mich, „in unserer Welt gibt es das Wort Fehler nicht." Ihre Stimme und ihre Mimik veränderten sich nicht und gerade das jagte mir Angst ein. „Ich weiß, Sie sind noch nicht lange ein Teil davon, aber gerade darum ist es umso wichtiger, dass Sie sich schnellstmöglich integrieren. Meine Aufgabe ist es, dies zu bewerkstelligen. Ich weiß auch, dass das alles neu für Sie ist und ich kann mir auch nicht vorstellen aus welcher Welt Sie kommen, aber sehen Sie es doch mal positiv: Ihre Amnesie hat eine wunderbare Seite - Sie müssen nichts hinter sich lassen und können von ganz vorne beginnen."
Ich habe jetzt schon mehr aus der Vergangenheit zu verarbeiten als aus der Gegenwart, dachte ich.
Mit einer Bewegung drehte sie sich zu mir und brachte mir ein Lächeln entgegen, ein Lächeln, das, verglichen mit denen aus meinen Erinnerungen, so viel weniger Emotion ausstrahlte. Erst jetzt fiel mir mein Blackout von vorhin ein. All diese Menschen, die ich eigentlich nicht kannte, aber für die ich trotzdem so viele Gefühle hatte. Draven. Ich hörte Kunis Margo reden, aber ich nahm nicht wahr, was sie sagte. Ich war plötzlich so durcheinander, zwischen zwei Welten hin und her gerissen. Die Realität jetzt, die mir so viele neue Dinge aufdrängte und die Vergangenheit, die mir ebenfalls neu, aber dennoch so vertraut war.
„Was ist mit Draven", platzte ich heraus.
Kunis Margo verstummte. Auf einmal wirkte sie völlig perplex und verlor ihre Ruhe, wobei ich das nicht einmal annähernd vermutet hatte. Sie gab mir noch immer keine Antwort, also wiederholte ich meine Frage, diesmal klarer: „Was ist mit Draven?"
„Ich... ähm...", stotterte sie und suchte eindeutig nach den richtigen Worten. Was war an meiner Frage so ungewöhnlich? Dann fielen mir die Worte „nahestehender Ihrer bisherigen Existenz" wieder ein und Aufregung machte sich in meinem ganzen Körper breit. Vielleicht war ja von Draven die Rede. Am liebsten wollte ich sofort gehen und sehen, wer dort unten wirklich auf mich wartete.
Dann dachte ich an die Stimme von meiner ersten Erinnerung. Es war nicht Dravens Stimme...
„Miss Grey, ich weiß nicht wovon Sie reden." Die Direktorin schien ihre Fassung wieder gefunden zu haben und holte mich aus meinen Tagträumen. „Wer denken Sie denn, dass dieser Draven ist?"
Wie ein Hammer trafen mich diese Worte und ich dachte, ich höre nicht richtig. Jetzt war ich diejenige, die fassungslos war.
„Wie bitte? Zuerst stammeln Sie herum und dann wissen Sie plötzlich nicht wer mein Bruder ist?"
„Es tut mir leid, ich weiß wirklich nicht, wen Sie da meinen. Ich glaube Ihr Kopf spielt Ihnen einen Streich. Sie sollten nicht alles glauben."
„Blödsinn. Ich glaube Sie wollen mich verar-"
„Ich warne Sie, so sollten Sie nicht mit mir reden. So sollten Sie hier mit keinem reden", unterbrach sie mich und wieder zeigte weder ihre Stimme noch ihr Gesicht irgendeine Emotion.
„Ich weiß, Sie können sich nicht vorstellen aus welcher Welt ich komme und ich kann mir nicht vorstellen, aus welcher Welt SIE kommen, es muss eine Furchtbare sein-", auf einmal schloss sich eine Hand um meinen rechten Oberarm. Es war eine schwarze und ich wusste, dass meine Zeit mit Kunis Margo vorüber war. Verdammt, vielleicht hätte ich sie besser nutzen sollen.
„Leben ist gut", verabschiedete mich die Direktorin und machte diese seltsame Armbewegung. Ich starrte sie noch den ganzen Weg, den ich von der schwarzen Figur gezerrt wurde, unglaubwürdig an, aber sie starrte seelenruhig zurück, bis sie, leicht wie eine Feder, in ihr Büro ging.
Wieder einmal in diesem Lift. Wieder dieses Geräusch. Wieder dieses schweigende Geschöpf.
Aber diesmal machte mir die Bewegung der Maschine nichts aus. Und diesmal ging es wieder nach unten.
Unten angekommen, fand ich mich in einer riesigen, lichtdurchfluteten Halle wieder. In der Mitte waren große Tresen und dahinter Menschen, die wie Verona gekleidet waren. Die Höhe des Raumes war ebenso bemerkenswert. Drei Seiten der Halle waren verglast, nur die Wand die hinter mir war eine richtige Wand, sie sah fast so aus als wäre sie vertäfelt gewesen. Ich hatte nicht viel Zeit mich umzusehen, denn die Figur zerrte mich wieder nach vorne. Bald schon waren wir an einem der Tresen angekommen, die fast schon aussahen wie Kassen. Dahinter saß ein durchschnittlich aussehender Mann, der jedoch eine ganz außergewöhnliche Kurzhaarfrisur hatte, denn über seinen Kopf hatte er etwas einrasiert, ich konnte jedoch nicht erkennen was es war. Zu hektisch waren seine Bewegungen. Als er mir ohne Worte eine braune Tasche mit seltsamen Gurten gab und mich anlächelte, dachte ich, ich hätte das Wort „neu" erkennen können. Alle lächelten sie, aber alle spielten sie. Keine Wärme, kein Empfinden.
Endlich ließ mich die Figur los, gerade noch bevor mein Arm taub wurde. Sie deutete auf die Glasfassade geradeaus, machte die seltsame Armbewegung, drehte in einem Zug um und schritt davon. Gerade als ich in Richtung Freiheit gehen wollte, gab mir der Mann hinter der „Kasse" doch noch etwas, als hätte er es beinahe vergessen. Als Abschiedsgruß sagte er: „Leben ist gut, Elyona Grey". Wieder diese Armbewegung, aber er legte dabei den anderen Arm auf seinen Kopf.
Ich wollte mich nicht länger mit diesem seltsamen Verhalten aufhalten, ich freute mich (hoffentlich) auf jemand aus meiner Erinnerung. Woher er meinen Namen kannte, interessierte mich dennoch.
Ich sah auf das weiße Kärtchen, das er mir zum Schluss gegeben hatte. Es befand sich ein Symbol darauf, das wie eine sieben aussah.
Ich wollte nicht rennen und Aufmerksam erregen, daher ging ich so schnell es eben möglich war. Nicht, dass sie wieder auf die Idee kommen würden, mich noch einmal in einen dieser Räume zu schleppen. Dann entdeckte ich wofür das Kärtchen stand: Große Bögen waren das letzte Hindernis vor dem Ausgang und auf jedem war ein Symbol abgebildet, ich steuerte auf den meiner Meinung nach richtigen zu. Es erinnerte mich an eine Flughafenkontrolle, nur dass es keine Schlangen gab. Rechts und links standen je eine dieser schwarzen Figuren und bewachten das ganze anscheinend. Ich blickte nach vorn und erkannte jemand. Ein Schatten stand dort und schien auf mich zu warten. Ich schritt voran. Es war eine weibliche Figur. Ich schritt voran. Es war eine Langhaarige. Ich schritt voran.
Es war nicht Draven.
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