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Ich heisse Adam.

Monika musterte die giftgrünen Buchstaben. Sie war im Bus, die leuchtende Schrift draussen. Die unzähligen Spuren der frischen Regentropfen verschleierten ihre Sicht, doch es war nicht unmöglich, die Wörter hinter dem Fenster zu entziffern. Sie biss sich auf die vollen Lippen. Auf die Scheibe blickend, versuchte sie einen logischen Hintergrund für den Satz zu finden.

Lee hatte früher Schulschluss. Er war endlos verwirrt, als er die grüne Schrift bemerkt hatte.
Aus welchem Grund her sollte jemand etwas so dermassen überflüssiges schreiben?
Er runzelte die Stirn.

Shaileen hatte definitiv besseres zu tun, als diesen schlichten Satz anzustarren. Trotzdem stand sie hier nun seit einer geschlagenen sieben Minuten und ihr Blick wollte immer noch an den Wörtern kleben. Verärgert über diese Situation, sich selbst und auch dem Verantwortlichen dafür, schnaubte sie auf.

Brook erinnerte sich an den Satz. Er erinnerte sich, wie er sich desinteressiert umgewandt hatte, der leuchtenden Farbe keine Beachtung geschenkt hatte.
Verständlich.
Warum, sollte er auch?

Adam war verwirrt.
Warum musste denn alles einen Grund haben?
Er sass im verlassenen Wald, der prächtigen Baum, den er hochgeklettert war, schien von hier oben um ein Vielfaches grösser zu sein. Es war beinahe gefährlich, seine jetzige Lage, ein bewusstes Risiko. Adam schüttelte den Kopf.

Angst ist wie eine grosse Mauer, es versperrt dir die Sicht vor dem eigentlichen Leben, so fand er es.

Seine Gedanken spielten verrückt- jeder einzelne wollte zuerst beantwortet werden, wodurch ein unvermeidliches Chaos in seinem Kopf die Oberhand gewann. Das passierte ihm öfters. Manchmal brach etwas verräterisches in ihn zusammen und die ganzen Tatsachen stürzten sich erbarmungslos auf ihn.  Adam war es aber gewohnt, solche Kurzschlüsse zu haben.

Seine geschürfte und von Farbe befleckte, rechte Hand, den er für sein Sprayen benutzte, hatte sich eisenfest an einen einsamen Ast geklammert.

Warum tat er das überhaupt?
Warum war er so einsam?
Warum konnte er sich nicht normal benehmen?
Warum muss alles logisch sein- und weshalb brauchte er eine Antwort? Würde die Antwort des Lebens ihm guttun- oder gar zerstören?

Fragen, die er weder beantworten konnte, noch wollte. Was würde ihm das auch bringen? Nichts und wieder nichts. Zumindest war es das, was er sich überlegt hatte, um nicht vollkommen den Überblick zu verlieren.

Denn falls er alles beantworten könnte, dachte er sich, dann hätte er eine Antwort und eine Frage.
Das wären zwei Dinge.
Eins ist besser als zwei, oder?

Er war entsetzt, überrumpelt verwirrt und überfordert zugleich. Nichts ergab Sinn, die plötzlichen Fragen ergaben keinen Sinn, seine Existenz ergab keinen Sinn und das frass ihn innerlich auf.  Adam wollte Klarheit, er wollte vergessen, seine Sorgen und Wünsche, all seine vielen Enttäuschungen.

Ein Jemand, der vergesslich sein will, aber nicht der Vergessene, ist ein Niemand.

Sie stachen, stachen wie hauchfeine Nädel.
Adam fürchtete sich vor Erinnerungen, vor seiner Vergangenheit und Zukunft. In eine erstickende Masse aus schwerer Trauer versinkend und wahrhaftig miserabel, so kam er sich vor.

Und irgendwann, wenn die Vögel ihr traurigstes Lied sangen, machte Adam einen Fehler: Er ließ es zu. Ließ dem Dunklen un ihm die Kontrolle über, betrachtete die große weite Welt unter seinen Füßen, den Grauen über sich ergehen lassend. Die Erinnerungen prasselten auf ihn, ja, sie frassen ihn auf lebendigem Leibe auf.

Was war bloss geschehen?

Adam stiess hörbar Luft aus, ob aus Verzweiflung oder Belustigung wusste er nicht. Er schüttelte zerstreut den Kopf, konnte dem Ganzen allmählich nicht mehr standhalten.  Aber vielleicht, war das eins dieser seltenen Dinge, die keinen Grund brauchten:

Hass.

Sein Vater mochte Adam nicht, hatte ihn nie gemocht und wird ihn auch niemals mögen, eine Tatsache, die ihm mit jeder weiteren leeren Alkoholflasche intensiver verfolgte, mit jedem Wutausbruch zerstörte und mit jedem folgendem Schlag bewusster wurde. Sein Vater war doch gar kein schlechter Kerl, oder?
Der Satz, der Adam die nötige Hoffnung gab und gleichzeitig seine Seele zersplitterte. Er hatte das alles nie gewollt. Er wollte eine Familie. Er wollte eine gesunde und lebendige Mutter, er wollte einen Helden als Vater, einen Vorbild. 
Gott, wie sehr er das wollte.

Gleichzeitig kam er sich egoistisch vor: Er hatte doch einen Vater.

Weshalb ersehnte er sich nach etwas, was er bereits besass?

Adam hatte gar nicht bemerkt, dass er geweint hatte. Energisch schüttelte er den Kopf. Ein verächtliches Schnauben verliess seine schmerzende Kehle.

So ein Weichei.

Sein Herz hatte sich beschleunigt, seine verschmutzte Hand hatte sich fester als zuvor um den Ast gekrallt. Er bemerkte, wie sein Atem stossweise ging und wie seine Augen eine weit aufgerissene Stellung angenommen hatten.
Er massierte sich die Stirn und stöhnte müde auf.
Frustriert, über den Schwall an Erinnerungen, lösten sich seine Hände vom Ast.
Er erschrak, sein Halt war weg, er verlor das Gleichgewicht.

Und er fiel.

Heilige Scheisse, er fiel.

Adam schrie nicht, er lauschte dem blitzschnell vorbeiziehenden Wind, der seinen gesamten Körper umfasste. Er sah den alten Riesenbaum, auf den er sich mit grosser Anstrengung hinaufgezerrt hatte. Sah seine salzigen Tränen leise in der Luft fliegen. Blickte diese mit offener Verwirrung an.
Schwerelosigkeit.

Er fiel, fiel im unendlichen Nichts.

Und dann traf der harte Aufprall ein.

Seltsames Stechen ging von seinem Oberschenkel aus. Langsam setzte Adam sich auf. Das Stechen war intensiv, es schmerzte, pochte und stach dann erneut mit voller Kraft zu.  Adam keuchte auf. Als er seinen rechten Arm zu bewegen versuchte, um die Ursache des Schmerzes zu berühren, durchströmte ihn das Pochen wie ein Stromschlag. Sein rechter Arm war aufgeschürft, er blutete etwas. Sein Oberschenkel sah dagegen gar nicht gut aus. Tiefrote grosse Flecken bildeten sich zu einem Riesigen und der alleinige Anblick liess ihm die Galle hochsteigen.

Adam wusste nicht ob er angeekelt, oder entsetzt sein sollte.

Er entschied sich für den Schmerz.
Es war unerträglich, das Stechen wurde immer aggressiver, fast so, als ob ein wildes und unglaublich wütendes Monster darin sein Unwesen treiben würde. Adam wimmerte auf.

Obwohl jede Bewegung die reinste Folter war, versuchte er sich auf den Rücken zu legen. Die linke Hand war im Vergleich zu der anderen unversehrt, vereinzelte Schürfwunden waren im Handballen zu sehen. Schlagartiger und starker Zorn stieg in ihm auf. Er war wütend.

Wütend auf das alles. Wütend auf seinen Vater, wütend auf den alten Baum, auf seine jämmerlichen Hoffnungen und kläglichen Versuche sich mit Graffitis zu erklären-einfach alles. Doch sein unermesslichster Hass galt sich selber, denn Adam selbst war es, der stumm damit lebte. Der Schmerz schien der Auslöser für seine momentane Gefühlswelt zu sein und kontrollierte ihn mittlerweile vollständig.

Mit energischen Bewegungen versuchte er sich sein Liegen halbwegs ertragbar zu gestalten.
Mit dem Rücken auf dem belaubten Boden, blickte er hoch.

Als er den Himmel entdeckte, war sämtlicher Schmerz wie betäubt, sein inneres Feuer wurde gestillt. Rottöne vermischten sich mit blauen, allmählich, wurde es Abend. Orange, rot, violett, es war die reinste Medizin. Adams Wangen waren unangenehm steif und trotz dem brennenden Ziehen auf ihnen wollten seine Tränen nicht versiegen.

Mit einer verschleierten Sicht beobachtete Adam die Farben, wie Aquarellfarbe vereinten sich die bunten Eindrücke, zogen eigene Wege oder kombinierten gemeinsam eine völlig neue Farbe.
Gemeinsam.

Adam blinzelte auf.
Er fragte sich, ob das an der untergehende Sonne lag, dieses wunderschöne Bild. Mit geröteten Wangen, und tränenüberströmten Gesicht lachte er vor Freude auf.
Wunderbar.

Tatsächlich hasste er das Leben, liebte es jedoch wiederum für seine Wunder.

Adam lachte, vor Freude, vor Glück und vor der Erleichterung, es nicht verlernt zu haben.
Sein Lachen, wurde mit jeder Sekunde lauter, mit jedem Luftschnappen herzlicher und mit jeder Regung sorgloser.
Seine Schmerzen, mit jeder Bewegung heftiger.

Adam, der Junge, der vor Freude weinte, vor Schmerz wimmerte und vor Erleichterung schrie.

Adam, der traurige Junge, der trotzdem aus dem nichts lachen konnte.

Adam, der aus dem Leben lernte und anderen davor warnte.

Er war Adam, der Junge, der für viele lebte.

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