Zwölf - Das Treffen

Diesen Teil widmen wir Vineta4Ly, da sie momentan unser größter Fan ist.
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Ihre ersten Schritte auf dem Gelände der Freyer Akademie führten sie auf direktem Wege zum Wohnheim. Sie hoffte, dass Cara in ihrem Zimmer auf sie warten oder dort sicher und wohlbehalten schlafen würde. Mit einem flauen Gefühl im Magen lief sie den langen Flur entlang. Leises Gemurmel drang hin und wieder aus den Zimmern zu ihr. Kein Wunder, da die Prüfungen kurz bevor standen und die letzten Vorlesungen bekanntermaßen die bestbesuchtesten sind.

Als sie die Türklinke herunterdrückte hörte sie eine weibliche und eine männliche Stimme. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Milan, grummelte sie innerlich. Was machte er denn noch immer in ihrem Zimmer? Schön, wenn er Cara Beistand leistete, dann würde sie seine Anwesenheit weniger stören, doch eigentlich wollte sie ihm nicht begegnen. Die Art wie sie auseinander gegangen waren, gefiel ihr nicht. Er ließ sie stehen und sie tat es ihm gleich. Allerdings fand sie auch nicht den Mut, ihn anzusprechen. Und was sollte sie ihn fragen? Was wollte sie wissen und worüber mit ihn sprechen?

Ihre Entscheidung war mehr oder minder gefallen. Milan sollte, sofern er immer noch in ihrem Zimmer herumlungerte, sich gefälligst verziehen.

»Was machst du noch hier?«, maulte sie laut und stürmte ins Zimmer. »Ich dachte, du wärst endlich-.«

Der Anblick der Beiden verschlug ihr regelrecht die Sprache und sie verschluckte sich. Eilig hielt sie sich eine Hand vor den Mund, spürte wie ihre Wangen sich röteten. Cara saß ihren Erwartungen entsprechend in ihrem Himmelbett mit einem Handy in der Hand, doch ihr gegenüber hockte ein fremder Mann auf ihrem Schreibtischstuhl. Seine langen Rasterlocken hingen ihm ins Gesicht und er schaute Heather etwas argwöhnisch an.

»Upps«, presste Heather zwischen den Lippen heraus und schloss die Tür hinter sich. »Ich ähm ... wusste nicht, dass ...«

Cara sprang auf und umarmte Heather freudig. Etwas überrumpelt erwiderte die Blondine die Umarmung. Sie musste die Tränen wegblinzeln, die sich anbahnten und benötigte gerade ein wenig mehr Kontext, um die Situation nachvollziehen zu können.

»Ich wusste nicht genau, wann du zurückkommst. Milan ist gestern verschwunden, also keine Angst.«

»Ich habe keine Angst ihn zu sehen«, entgegnete Heather und erntete nur ein Achselzucken von Cara. »Was viel wichtiger ist, wer ist dieser Mann in meinem Zimmer?«

»Mein Name ist Linus Tebbe. Ich bin ein alter Freund von Cara«, antwortete er ihr.

»Ich bin Heather McCarthy, diejenige, der das Zimmer hier gehört.«

Obwohl Heather nicht schnippisch wirken wollte, schmiss sie den Kopf in den Nacken und verfehlte ihr eigentliches Vorhaben. Die lange Fahrt und der gestrige Tag kosteten sie viel Energie. Ginge es nach ihr, hätte sie diesen Typen raus geworfen, aber Cara zu Liebe hielt sie sich zurück. Stattdessen ließ sie sich auf ihren weichen Teppich plumpsen und musterte Linus, welcher sich unter ihren Blicken offensichtlich unwohl fühlte.

»Wie gesagt, er ist ein Freund von mir und wir brauchen deine Hilfe«, da Heather nur fragend guckte, erzählte Cara weiter. »Er besitzt auch so einen Anhänger wie du. Konntest du etwas über diese Steine in Erfahrung bringen? Hast du die Cordes gefunden?«

Die junge Frau fühlte sich kurz überrumpelt. Wie konnte Cara auf einmal so ruhig sein und das auch noch in Gegenwart von einem Mann? Dann holte Linus seine Kette hervor und ein bläulich schimmernder Achat kam zum Vorschein. An Heathers Brust erwärmte sich ihr Perlmutt, als würde er auf den anderen Edelstein reagieren. Also musste Linus ebenfalls zu diesen Wächtern gehören.

»Ja ich konnte sie finden«, erwiderte Heather. »Die Wächtersteine werden wie deine Eltern vermuteten, von Generation zu Generation weitergereicht. Nate Cordes hat mir einiges erklärt, aber es reicht noch nicht aus, um die Sache wirklich klar und verständlich zu beschreiben. Das Einzige, was ich mitgenommen habe, ist, dass diese Steine den Wächterfamilien gehören, die so gut wie ausgelöscht sind. Nur noch ein paar leben und diese verstecken sich, oder wissen nichts von ihrem Schicksal. So wie bei mir und wahrscheinlich bei dir, Linus.«

»Und wer kann mir dann mehr erzählen? Ich meine, dieser Stein könnte mich zu meinen Eltern führen. Das heißt, falls es ihnen nicht ähnlich ergangen ist.«

»Du glaubst mir das so einfach?«, hakte Heather nach.

»Nun ja, ich habe schon eine Reihe merkwürdiger Dinge auf meinen Reisen erlebt. Irgendwie ist das gar nicht so abwegig. Klar bleibe ich skeptisch, doch jeden Hinweis auf meine Abstammung nehme ich ernst.«

»Und um mehr zu erfahren«, mischte sich Cara ein und kletterte aus dem Bett. »kannst du diesen Nate erreichen?«

»Er wäre unsere beste Wahl, aber seine Familie versucht unauffällig und ohne Kontakt zur Außenwelt zu leben«, Heather kramte ihr Handy aus ihrer Jacke und suchte nach Nates Nummer. »Ich kann ihn anrufen, doch damit ist nicht sicher, dass er uns hilft. Es war schon schwierig, ihm meine jetzigen Informationen zu entlocken.«

Heather wählte die Nummer mit einem mulmigen Gefühl im Magen. Erst vor ein paar Stunden hatten sie sich noch gesehen und nun nervte sie ihn schon wieder. Doch sie besaß einen mehr oder weniger guten Grund dazu. Wen sollte sie auch sonst fragen? Ihre Eltern? Sie lachte in sich hinein. Weder ihr Vater noch ihre Mutter wussten etwas von ihrer Vergangenheit und den Gefahren, denen sie vielleicht ausgeliefert waren. Ein eiskalter Schauer lief ihren Rücken hinab, hangelte sich an ihrer Wirbelsäule entlang und endete im Steißbein.

Ein monotoner Ton erklang an ihrem Ohr. Einmal, zweimal und nach dem fünften Mal nahm jemand am anderen Ende ihren Anruf entgegen. Aber es war nicht Nate, wie sie an der fröhliche und zuvorkommenden Stimme erkannte.

»Hallo! Patrick Long am Apparat. Nate kann leider gerade nicht mit Ihnen sprechen.«

»Ah, hallo«, erwiderte die Studentin perplex und räusperte sich. Die zwei Paar Augen, die auf ihr lagen, verringerten ihre Nervosität nicht wirklich. »Hier ist Heather McCarthy.«

»Die Schönheit von Neulich?«, erkundigte sich der andere.

»Nein, ich denke nicht. Jedenfalls wollte ich mit Nate sprechen, aber da er nicht da ist, kannst du ihm vielleicht sagen, dass er mich zurückrufen soll?«

Am anderen Ende der Leitung hörte man einen dumpfen Knall und jemanden schreien. Das andere Handy fiel zu Boden, jedenfalls hörte es sich so an. Dann wurde es still. Ein Rascheln erklang und Heather bemerkte, dass sie den Atem anhielt.

»Hallo?«, meldete sich nun eine bekannte Stimme.

»Nate«, erwiderte sie erleichtert. »Ich bin's, Heather«, er blieb still, also redete sie weiter. »Ich bräuchte deine Hilfe. Schon wieder und recht schnell. Ich weiß, dass du ungern dein Zuhause verlässt, aber es ist ein Notfall.«

»Nein.«

»Aber-.«

»Nein. Das ist zu gefährlich. Wer kann schon sicherstellen, dass sie dich noch nicht ins Visier genommen haben? Ich möchte weder mich und schon gar nicht meine Familie in Gefahr bringen. Und wo sollte ich, falls ich ja sagen würde, überhaupt hinkommen.«

Heather erklärte ihm, dass sie sich in der Freyer Akademie befindet und bot ihm sogar an, ein Taxi für ihn zu bestellen. Außerdem erzählte sie ihm den Grund für ihren Anruf, nämlich dass ein weiterer Wächter aufgetaucht ist und sie Nates Wissen wirklich dringend benötigten. Auch wenn er sich weiterhin sträubte, fühlte Heather nach und nach, dass er sich doch überzeugen ließe.

»Die Akademie ist gut abgesichert. Hier kommt normalerweise niemand ungesehen hinein und bestimmt keine Untergrundorganisation, die nach Wächtern sucht«, ein Grummeln war zu hören, als die junge Frau eine Pause machte. »Bitte Nate. Was soll ich denn sonst tun? Du bist der Einzige, der das Wächtersein kennt. Wir haben keine Ahnung.«

»Das ist ja das Problem«, stöhnte er. »Ihr kennt die Gefahren nicht, wisst sie nicht einzuschätzen, geschweige denn welche Aufgaben euch erwarten. Mensch, ich komme, aber nur dieses eine Mal.«

»Danke. Ich schicke dir die Adresse ... Nein, ich lass ein Taxi an dem Platz vorfahren, an dem sie mich abgeholt haben. Ruf mich dann an, wenn du beim Eingang der Akademie bist.«

Nate stimmte missmutig zu, aber Heather war froh, dass er ihr ein weiteres Mal seine Unterstützung zusicherte. Cara und Linus blieben über das gesamte Telefonat ruhig und beobachteten ihre Reaktionen gespannt. Immerhin bedeutete jede Information für sie alle, dass sie ihrem Ziel, mehr über die Reinkarnationen und Wächter zu erfahren, näher kamen.

Nachdem sie Nate die Adresse geschickt hat, verschwand sie in ihrem Bad und stieg in die Dusche. Das warme Wasser entspannte ihre Muskeln und ein wohliger Schauer überkam sie. Einen Schritt nach dem anderen, redete sie sich leise zu. Wenigstens schien Cara auf dem Weg der Besserung zu sein. Dafür, dass sie so viel durchgemacht hatte, wunderte sich Heather etwas, dass sie einen alten Freund eingeladen hatte. In Heathes Zimmer, was ihr leider gar nicht so gut gefiel. Natürlich dürfte Cara hier so lange bleiben, wie sie wollte, doch ein Fremder verletzte ihre Privatsphäre schon ein wenig.

Sie schlüpfte in einen rosafarbenen Pullover und zog sich eine ausgeblichene Jeans an. Plötzlich klopfte es an der Badezimmertür.

»Ja?«, erwiderte Heather.

»Kann ich rein kommen?«, noch während Cara das fragte, schloss Heather die Tür auf. »Danke. Es tut mir ja so leid, dass ich Linus in dein Zimmer mitgenommen habe und das auch noch ohne deine Erlaubnis, aber ich wusste nichts anders.«

»Schon okay. Solange er nicht auf ewig hierbleibt. Wir könnten echt in Schwierigkeiten geraten, wenn sie herausfinden, dass wir jemanden verstecken, der kein Student ist.«

»Klar, das habe ich mir schon gedacht«, Cara verlagerte ihr Gewicht von dem einen auf das andere Bein. »Es ist nur ...«, Heather schaute ihre Freundin neugierig und gleichzeitig besorgt an, was Cara zum Weiterreden veranlasste. »Ich bin immer noch nicht in Ordnung. Das, was passierte, macht mich wahnsinnig und mit Jade läuft auch alles in die falsche Bahn.«

Runde Tränen kullerten ihr über die Wangen und Heather schlang eilig ihre Arme um sie, aus Angst, Cara würde jeden Moment zusammenbrechen. Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Emotionen wieder unter Kontrolle hatte und ihre Stimme nicht länger zitterte.

»Es ist aus zwischen ihm und mir«, jammerte sie leise. »Dabei hatte es noch nicht einmal richtig angefangen. Es ging aber nicht anders. Zu viele Dinge sind geschehen, die ich ...«

»Was für Dinge?«, erkundigte sich Heather fürsorglich und strich Cara die langen, brauen Haarsträhnen aus dem geröteten Gesicht. »Möchtest du darüber sprechen?«

»Ja und nein. Von der Verletzung weißt du ja schon, aber mit mir ist etwas noch viel ... viel Schlimmeres gemacht worden. Allein die Erinnerung, sie bringt mich um, schnürt mir den Hals zu und mein Herz verkrampft sich.«

»Ist ja gut. Du musst nichts weiter erklären. Wenn dir das Weinen hilft, dann halte dich nicht zurück. Wir bleiben einfach hier, bis du dich beruhigt hast und ich verlasse dich nicht, also keine Angst.«

Zwei zitternde Hände krallten sich in Heathers frischen Pullover und die beiden Freundinnen verbrachten einige Stunden allein im Bad. Heather musste Linus zugestehen, dass er den Anstand besaß, sie gerade jetzt nicht zu stören, obgleich sie seine Anwesenheit missfiel. Als Cara wieder aufrecht stehen konnte und sich das Gesicht gewaschen hatte, gingen sie zurück ins Zimmer. Sie schien noch immer etwas unsicher auf den Beinen, doch sie ließ es sich nicht weiter anmerken.

Die Stipendiatin setzte sich auf Heathers Bett und sprach ein paar Worte mit Linus. Sie verstanden sich augenscheinlich gut und so konnte Heather die Beiden bedenkenlos in ihrem Zimmer allein lassen. Allerdings sagte sie ihnen noch, dass sie sich ruhig verhalten sollten. Sie hatte nämlich noch etwas zu erledigen und würde später zurückkommen, im besten Falle mit Nate Cordes. Bei diesem Namen blitzten Linus Augen voller Erwartung, während die junge Frau nur hoffte, dass Nate diese auch erfüllen konnte.

Eine kühle, erfrischende Brise wehte über das Gelände vor dem Wohnheim. Hinter Heather schlossen sich die Schiebetüren aus Glas und sie schlenderte eine Weile über die gesäuberten Wege. Der geschmolzene Schnee bildete keinen schönen Anblick, passte aber ironischer Weise zur momentanen Situation. Sie fühlte sich ähnlich hilflos. Ihre beste Freundin litt und sie konnte nur dabei zusehen, wie die Hitze der Geschehnisse ihre Seele zum Schmelzen brachte. Vielleicht würde Linus ihr tatsächlich ein wenig Abkühlung bringen und sobald sie die ganze Sache mit den Wächtern aus dem Weg war, könnten sie sich weiter mit dem Institut auseinandersetzte.

Das Institut, wiederholte sie in Gedanken vertieft und musste sofort an Milan denken. Er hatte sich um Cara gekümmert, oder? Sie konnte es natürlich nicht mit Sicherheit sagen, aber ausschließen ebenso wenig. Einen Augenblick haderte sie mit sich. Ihm unter die Augen zu treten, verursachte ihr bereits jetzt Magenschmerzen, aber irgendwann würden sie ohnehin aufeinander treffen. Doch wo würde sie ihn finden? Milan studierte an einer anderen Uni und kam nur hierher, um sich im Institut behandeln zu lassen. Dorthin sollte sie nicht gehen, das versprach sie ihm mehr oder weniger, also wo sollte sie nach ihm suchen?

Plötzlich kamen ihr Elias und Julie entgegen. Sie konnte es kaum fassen, die Zwillinge wiederzusehen, gerade weil sie für eine Weile wie vom Erdboden verschluckt schienen. Auch die Studentin wurde fröhlich begrüßt. Eines störte sie an dem Auftreten der Beiden. Vor allem Julie wirkte geschwächt und sah blass aus. Sie stützte sich hin und wieder bei ihrem Bruder ab, der einen gesünderen Eindruck machte. Als Heather ihre Bedenken aussprach, wunderten sie sich nur und meinten, dass sie in letzter Zeit wenig Schlaf gefunden hätten, oder krank würden. Sie beließ es dabei, da es sinnlos war, gegen die Geschwister anzureden. Momentan fiel alles in sich zusammen, dachte sie bei sich und kratzte mit der Hake auf dem Asphalt.

Gemeinsam gingen sie in einen der Lernräume im obersten Geschoss der Bibliothek, weil bald die ersten Klausuren anstanden und Heather gestehen musste, dass sie noch nichts gelernt oder wiederholt hatte. Die Stunden vergingen und die blonde Frau verabschiedete sich von den Zwillingen, die noch immer vertieft in den Unterlagen eines ihrer Kommilitonen waren.

Die abendliche Stimmung auf dem Campus war heute besonders schön, stellte sie draußen fest. Niemand in Sichtweite und das schummrige Licht genügte, dass man sich unbehelligt bewegen konnte. Eine Wohltat, wenn sie sich daran erinnerte, dass die Überwachungskameras überall herum hingen und jeden Schritt dokumentierten. Fast jeden Schritt.

»Heather!«, rief sie Bianca, die ebenfalls aus der Richtung der Mensa kam. »Ich habe mich schon gefragt, wo du steckst. Ich muss dir was Wichtiges erzählen! Du wirst es nicht glauben, aber-.«

Das laute Klingeln von Heathers Handy unterbrach Bianca und deren freudige Stimmung war wie weggeblasen. Heather kramte das Telefon mühsam hervor, denn in der dicken Winterjacke verschwanden nahezu stündlich irgendwelche Gegenstände.

»Hast du mir zugehört?«, quengelte Bianca ungeduldig. »Hey.«

»Einen Moment«, Heather nahm das Gespräch an. »Hallo? Nate«, sie pausierte kurz, da am anderen Ende energisch auf sie eingeredet wurde. Beinahe so schlimm wie Bianca, dachte sie für zwei Sekunden. »Alles in Ordnung. Ich hole dich gleich am Eingang ab. Ja, das riesige Tor, was aussieht wie der Pfad in eine andere Welt«, sie bemerkte die argwöhnischen Blicke ihrer Freundin. »Mhm. Bis gleich.«

»Wer ist denn Nate?«, hakte Bianca nach.

»Ein Freund«, erwiderte Heather wenig überzeugt und ließ sie stehen. »Wir sprechen später, okay?«

Sich jetzt mit Bianca auseinandersetzten zu müssen, konnte sie sich sparen. Ihre Gesprächsthemen drehten sich eh immer um dasselbe. Außerdem würde sie nun nur noch Fragen bezüglich Nate stellen und Heather konnte diese Art jetzt nicht aushalten. Zu viel schwirrte in ihrem Kopf herum.

Um dem Tag noch die verdiente Krone auf zu setzten, prasselte auch noch ein sintflutartiger Regenguss auf Heather nieder. Ihre blöde Designerjacke besaß keine Kapuze, um die einzigartige Schönheit nicht zu ruinieren oder so. Das war zumindest die Beschreibung der Verkäuferin. Mit den Händen über dem Kopf rannte sie zum Eingangstor, wo sie aus der Ferne die beiden leuchtenden Punkte der Scheinwerfer des Taxis erspähte.

Aus einem ihr unbekannten Grund fühlte sie sich sicherer und eine Last fiel von ihren Schultern. Nate bei sich zu wissen, wirkte beruhigend auf sie, obwohl sie sich noch nicht lange kannten. Etwas mehr als einen Tag, berichtigte sie sich selbst und doch hatte er eine Ausstrahlung, die sie so noch bei keinem anderen Menschen wahrnehmen konnte.

»Der Weg hierher war schaurig«, entgegnete er, als Heather zur Tür gelaufen kam. »Vor allem die letzten Meter. Was ist das hier? Eine Reichenschule?«

»So in der Art«, bestätigte sie ihn nickend.

Er musterte sie von oben bis unten und stöhnte dann genervt auf. Diese Fahrt musste ihn sehr gestört haben, denn heute schien er noch schlechter gelaunt, als bei ihrem unangekündigten Besuch. Nachdem er ausgestiegen war, zog er seine Jacke weiter und Heather sah nur eine dunkelbraune Wand, die sich um sie schloss. Nate hüllte sie in seiner großen Jacke mit ein, damit sie nicht noch nasser wurde.

»Dankeschön«, erklang ihre Stimme und sie wrang ihre langen Haare aus.

»Das wurde wohl nötig.«

Er schob sie lachend zum Eingang und seine finstere Miene hellte sich auf. Das Taxi rauschte durch den Regen davon und nahm etwas von dem Licht mit sich. Die dichte Wolkendecke ließ keinen Sonnenstrahl mehr hindurch und recht schnell flackerten die Straßenlaternen auf.

»Dieser Anblick ist ja sehr fesselnd«, brummte eine männliche Stimme. Vor ihnen tauchte Milan auf, der wenig begeistert aussah. »Im wahrsten Sinne des Wortes«, er stürmte auf Nate zu und riss an dessen Jacke. »Lass sie lieber los.«

»Sonst was?«, erkundigte sich Nate belustigt. Er überragte Milan einige Zentimeter, war auch in seiner ganzen Erscheinung viel muskulöser gebaut. »Bevor man jemandem droht, sollte man sich vorstellen. Zumal ich mir von dir nichts sagen lassen muss.«

Milan knurrte etwas, das sie nicht verstand und die ersten, kugelrunden Tropfen fielen von seinen langen Strähnen herab. Heather konnte nicht zulassen, dass die Zwei andere auf sich aufmerksam machten oder gar das Wachpersonal. Eilig drängte sie sich an Milan vorbei und zerrte an Nates Arm, damit er ihr folgte.

»Heather!«, rief Milan ihr nach und hastete hinter ihnen her. »Was soll das?«

»Hey«, Nate wirbelte herum, nahm den zierliche Köper der jungen Frau mit sich. Sie quiekte vor Schreck auf, wodurch sich Milan nur noch mehr aufregte.

»Lass sie endlich los«, befahl Milan.

Ihre Gesichter waren sich unheimlich nahe und in einem Wink der Panik zwängte sich Heather zwischen sie. Beide schreckten zurück, während die kalten Regentropfen sich auf Heathers Haut niederließen. Der Atem entfloh ihrer Kehle in weißen, bauschigen Wolken und stieg zum Himmel empor. Mit ihren Händen drückte sie die Männer auseinander und holte tief Luft.

»Milan, was soll der Quatsch?«, fragte sie ihn ärgerlich.

»Das möchte ich auch gerne wissen. Wer ist der Kerl?«

»Wirklich«, schnaubte das Mädchen und platzierte ihre Hände auf Nates Rücken, um diesen vor sich herzuschieben, aber Milan schlang seine Arme um ihre Taille. »Wir sind doch nicht im Kindergarten.«

Mit einem Ruck trennte er die zwei Wächter voneinander und war im Begriff, Heather wegzutragen. Wohin war ihm selbst scheinbar unklar, aber Hauptsache weit weg von diesem Nate. Als dieser sich umdrehte und die kämpfende Heather sah, brummte er dunkel und dann passierte alles sehr schnell. Die junge Frau landete im Dreck, als die Männer aufeinander stürmten. Sich jetzt einzumischen, würde einzig zu Verletzungen führen.

Nate erlangte die Oberhand und pinnte Milan auf den nassen Boden fest. Dieser schlug um sich, traf seinen Gegner sogar. Wütendes Aufstöhnen und das Geräusch von Tritten, die auf Körper prallten, bescherten Heather eine Gänsehaut. Unschlüssig hockte sie auf ihrem Hinterteil und betrachtete das Bündel aus Händen und Füßen, das sich über den Boden wälzte. So würden sie in wenigen Sekunden die Aufmerksamkeit eines jeden Studenten und Wachpersonals auf sich gezogen haben. Und damit wäre Nate schneller aus dem Spiel, als sie reagieren konnte.

»Schluss jetzt!«, kreischte sie heiser und von der Kälte, die sich auf ihre Lungen gelegt hatte, bekam sie kaum noch Luft. »Kein Kindergartenverhalten!«

Die beiden Streitenden blickten auf. Sie hatten sich ineinander verheddert und wirkten für den Augenblick unbeweglich. Heather richtete ihre Kleidung und trat dann gegen Milan, der zum ersten Mal über Nate ragte. Mit einem platschenden Knall fiel er zur Seite und in die weiche Erde. Überrascht richtete sich Nate auf und betrachtete seine schmutzigen Klamotten. Er murmelte etwas vor sich hin und deutete an, dass er ihr nun seine Jacke nicht mehr anbieten bräuchte. Dabei fiel ihm auf, dass auch Heather voller Schlamm war. Er schluckte hörbar und entschuldigte sich. Milan blieb stumm liegen, die Augen auf nichts bestimmtes fixiert.

Nate ging zu ihm und bot ihm die Hand an, um ihn auf die Füße zu ziehen. Milan nahm die Geste an, rappelte sich auf und trat vor Heather.

»Das war jetzt ... wenig geschickt«, brummte er.

»Das ist übrigens Nate Cordes«, erklärte Heather. »Wie schon angedeutet, ein Freund von mir.«

»Und was will er hier?«, blaffte Milan gleich wieder. »Du hast ihn angerufen, oder? Bianca sagte mir sowas und nun muss ich dich hier mit ihm finden?«

»Was zum«, Nate versuchte seine Fassung zu wahren und räusperte sich, was Heather leider nicht gelingen wollte. »Wer bist du, dass du ihr nachspionierst?«

»Ihr Stalker«, erwiderte Milan sarkastisch. »Und lass die Pfoten von ihr.«

Wieder drohte die Situation zu eskalieren und Heather musste sich zwischen die Streithähne platzieren. Wobei diese Bezeichnung nicht zu Nate passte, der sich lediglich verteidigte und sich scheinbar um ihre Sicherheit sorgte.

»Wie oft noch? Er ist nur ein Freund, also hab dich nicht so.«

»Sag mal«, wandte sich Nate an sie und flüsterte ihr die Worte ins Ohr. »Seid ihr etwa zusammen? Benimmt er sich deshalb so seltsam und sprüht nahezu wie ein Feuerwerk aus Eifersucht?«

Heather schüttelte langsam den Kopf, was keine Lüge war und trotzdem zog sich ihr Herz zusammen. Dass sie Milan Freyer eifersüchtig machen konnte, grenzte an ein Wunder. Er war derjenige, der jede haben konnte und musste sich niemals zuvor darum kümmern, dass die Mädchen auf ihn flogen. Bis er und Heather aufeinander trafen.

»Wir gehen dann«, entschied Nate. »Ich schnapp sie dir schon nicht weg, also beruhige dich.«

»Stopp, ich komme mit.«

»Wie bitte? Keiner hat dich eingeladen«, murrte Heather, die allerdings alle Ambitionen, ihn aufzuhalten, verworfen hatte. Sein eiserner Blick sprach dafür, ihn seinen Willen durchsetzten zu lassen.

»Wenn du nichts dagegen hast, lade ich mich eben selbst ein. Zur Not kann ich auch das Wachpersonal davon überzeugen, dass dein Gast hier studiert. Du weißt, dass ich dazu sehr wohl fähig bin.«

»Schön, dann komm eben mit«, sie winkte ihn zu sich.

»Heather, bevor ich dich getroffen habe, konnte ich mir nicht vorstellen, wie kompliziert ein Leben sein kann«, lachte Nate. »Ein bisschen mehr als vierundzwanzig Stunden und mein Leben hast du schon mal auf den Kopf gestellt.«

»Da kann ich nur zustimmen«, entgegnete Milan, der sich an Heathers rechte Seite geheftet hat. Einen Moment streifte sein Handrücken ihren. »Sei froh, dass sie nur dein Leben durcheinander und sich bisher noch nicht in Schwierigkeiten gebracht hat.«

Ihre Äußerungen interessierten die junge Studentin wenig, solange sie sich nicht wieder prügelten, war ihr alles recht. Der restliche Weg zurück zum Wohnheim gestaltete sich sehr still. Milan schien zufrieden damit, Nate auf Abstand halten zu können und hielt sich nun mit seinen Kommentaren zurück. Nate blieb, so weit Heather das beurteilen konnte, skeptisch. Einerseits, weil er wohl noch dabei war, Milan einzuschätzen und andererseits, da ihn diese protzige Akademie überwältigte.

Es tat so gut Zeit mit Linus zu verbringen. Es war so, als ob die vergangenen Jahre, in denen sie sich nicht gesehen hatten, gar nicht existierten. Ihr schien es so, als hätten sie bei ihrem Abschied einfach eine Pausetaste gedrückt und nun wieder auf Play. Zuerst hatte es Cara etwas enttäuscht, dass auch er ein Teil der momentanen Probleme war, doch erleichterte sie diese Tatsache. So musste sie nichts vor ihm geheim halten. Zwar gab es ein paar Dinge, die sie ihm im Augenblick nicht erzählen konnte, aber vielleicht würde sie ihm das auch irgendwann anvertrauen können.

Plötzlich öffnete sich die Tür und drei Gestalten traten ein. Sofort musste Cara losprusten. Sie konnte sich vor Lachen kaum noch auf dem Bett halten. Heather, Milan und ein weiterer junger Mann, vermutlich Nate, strotzten von oben bis unten vor Dreck.

»Was ist denn mit euch passiert?«, kicherte die Stipendiatin vergnügt.

Die blonde Studentin warf ihr einen bösen Blick zu und verdrehte dann die blau-grauen Augen. »Frag die beiden Herren hier. Sie haben sich geprügelt, dabei wurde ich auch in den Dreck gestoßen.« Sie ging direkt an allen Anwesenden vorbei und verschwand im Bad.

Der Fremde trat auf Cara zu und stellte sich als Nate Cordes vor. Er war dreiundzwanzig Jahre alt und kam aus einem Dorf, von dem sie noch nie gehört hatte. Sein blonder Militärhaarschnitt ließ ihn älter wirken als er wirklich war. Ihr fiel auf, wie Nate immer wieder kurze Blicke zu Milan warf. Sie vermutete, dass es wegen der Prügelei war. Vielleicht bestand sogar die Möglichkeit, dass er ihre beste Freundin mochte und den reichen Playboy als Rivalen ansah.

Cara ging zum Bad hinüber und klopfte an die Tür. Nicht lange musste sie warten, bis Heather sie einließ.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte sie, während sie beobachtete, wie die blonde Studentin sich das Gesicht wusch, welches ebenfalls Schlammspritzer abbekommen hatte.

»Wieso müssen Kerle nur immer Probleme machen?«, bemerkte Heather.

»Keine Ahnung, sie bereiten wirklich nur Scherereien!«

Die Mädchen lachten, beide waren einer Meinung: Kerle nerven tierisch. Milan war ein Playboy, Jade war ein großer Idiot, Linus ließ ihre Gefühle in einen Strudel der Verwirrung fallen und über Nate wussten sie noch nicht genug. Wer weiß, welche Geheimnisse er vor ihnen verbarg.

Gemeinsam gingen sie wieder zurück ins Zimmer, wo sich die Jungs bereits angeregt unterhielten. Heather hatte beschlossen, sie alle sobald wie möglich wegzuschicken, denn sie wollte in Ruhe duschen und dann schlafen. Cara hielt dies für eine gute Entscheidung, schließlich war morgen auch noch ein Tag, an dem sie über alles reden konnten. An diesem Abend würde sie das erste Mal seit jener Nacht wieder in ihrem eigenen Zimmer schlafen. Ihren Mitbewohnerinnen hatte man mittlerweile mitgeteilt, dass sie erkrankt war und sich in einem Krankenhaus befand.

Heather erklärte den jungen Männern die Planänderung. Alle waren damit einverstanden, bis auf Nate. Er beschwerte sich darüber, dass er nun extra angereist war und sich nicht zulange von seinem Zuhause fernbleiben wollte. Außerdem wusste er nicht, wo er schlafen sollte.

Linus räusperte sich. »Wenn du willst, kannst du mit mir kommen. Ich wohne in einem Hotel in der Stadt.«

Nate gab sich damit zufrieden, da er bezweifelte, dass um diese späte Zeit noch öffentliche Verkehrsmittel bis zu seinem abgelegenen Zuhause fahren. Gemeinsam verließen die beiden das Zimmer, doch vorher machten sie noch eine Uhrzeit für das morgige Treffen ab. Nun schaute Cara zwischen Heather und Milan hin und her. Ihre Freundin stand am Fenster und beobachtete, wie Linus und Nate das Wohnheim verließen. Der Sohn des Gründers stand einfach nur da und schaute zu Heather. Die Stipendiatin fühlte sich wie das fünfte Rad am Wagen, also entschied sie, die beiden alleine zu lassen. Sie hatten sicher viel miteinander zu bereden.

»Also...«, fing sie an. »Ich gehe dann mal auf mein Zimmer. Wir sehen uns dann morgen!«

Heather schreckte aus ihrer Starre hoch. Sie schien zu realisieren, dass, wenn Cara jetzt ging, sie mit Milan ganz alleine wäre. Schnell eilte sie zu ihr hinüber. »Wie du gehst jetzt?«, flüsterte sie, sodass der junge Mann sie nicht hörte. »Du kannst mich doch nicht mit ihm alleine lassen.«

»Und wie ich das kann!« Mit diesen Worten drehte sie sich um und schritt durch die Tür. Sie war leicht von sich selbst beeindruckt, wie selbstbewusst sie sich auf einmal gab.

Langsam ging sie den langen Flur entlang, hin zu der Wendeltreppe, die einen Stock hinunter führte. Niemand war mehr auf den Gängen. Entweder waren die Studenten schon in ihre Zimmer verschwunden oder verbrachten die Nacht in der Bibliothek. Sie verlangsamte ihre Schritte noch weiter und blieb vor ihrer Zimmertür stehen. Ihre Mitbewohner hatte sie die ganze Zeit über nicht gesehen, selbst auf dem Campus nicht. Sie hoffte inständig, dass die drei Mädchen entweder nicht da waren oder schon schliefen. Wenn sie da waren, würden sie sie mit Fragen bombardieren. Ganz vorsichtig drückte sie die Klinke runter und öffnete die Zimmertür lautlos. Der Raum lag dunkel und still vor ihr. Die Stipendiatin machte das Licht nicht an, sondern tastete sich im Dunklen zu ihrem Bett. An den Umrissen erkannte sie, dass Susan und Ingrid in ihren Betten lagen, aber Anna war nicht da. Wahrscheinlich war sie noch am Lernen.

Sanftes Mondlicht fiel durch das Fenster auf ihr Bett. Da das Fenster fest verschlossen war, vermutete Cara, dass Chione nicht hier war. Morgen würde sie die kleine Katze suchen und sie richtig knuddeln. In letzter Zeit wurde das Fellknäul etwas von ihr vernachlässigt, dass wollte sie nun ändern.

Sie zog sich so leise wie möglich um und kroch dann unter ihre Decke. Mit geschlossenen Augen lag sie da, konnte jedoch nicht einschlafen. Die Erinnerungen holten sie wieder ein, das Gefühl, wie ihr Blut ihre Matratze tränkte. Warum konnten diese Gedanken nicht einfach aus ihrem Gedächtnis verschwinden. Sie wollte damit abschließen, doch irgendetwas tief in ihr ließ es nicht zu. Immer wieder holte ihr Unterbewusstsein diese Qualen hoch. Cara rollte sich auf die Seite und kugelte sich zusammen. Der Schlaf sollte sie einfach nur noch überkommen.

Das Gefühl der Schwerelosigkeit über kam sie und es schien so, als ob sie fallen würde. Cara öffnete die Augen und fand sich nicht in ihrem Zimmer in der Akademie vor. Nicht schon wieder, dachte sie. Sie setzte sich auf und bemerkte, dass der Raum hell erleuchtet war. Es war anders als letztes Mal, alles schien von Reinheit durchflutet zu sein. Man sah im Schein des Lichtes keinen Staub umher wirbeln. Alles war still, so als ob die Zeit still stand. Erst jetzt erkannte die junge Frau, dass sie nicht alleine war. Am Fenster stand eine Gestalt, welche hinaus auf den Nil schaute. Die Person war ihr mit dem Rücken zugewandt, doch sie sah, dass sie ein prächtiges Gewand trug. Cara hob ihre Beine von dem Bett und stellte ihre nackten Füße auf den kalten Steinboden.

»Du bist endlich wach«, sprach die Frau am Fenster. Sie hatte sich umgedreht und Cara stellte mit Erstaunen fest, dass sie ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war.

»Bastet«, hauchte die Stipendiatin.

Die gewandete Frau kam auf sie zu und legte ihre Hände auf Caras Wangen. »Es ist an der Zeit!«

Cara verstand nicht was sie meinte. Verwirrt blickte sie die Göttin an, doch sie schaute sie nur durchdringend mit ihren grünen Augen an.

Plötzlich stellte sie erschreckender Weise fest, dass sich etwas an der Frau vor ihr verändert hatte. Ihr Unterleib war dick. Bastet war schwanger. Und sofort wusste sie, wessen Kind es war. Seth'. Traurig und mit Mitleid schaute sie die Göttin an, aber diese lächelte nur.

»Bereue nicht das, was geschehen ist. Was passiert ist, ist passiert. Dieses Kind wird eine bedeutende Rolle spielen.«

»Was meinst du damit?«

Nun trübte sich Bastets Miene. »In diesem Moment stecken wir nicht in einer Erinnerung von mir. Ich weiß, was war, was ist und was sein wird. So wird dieses Kind zweier Götter ohne Leben auf die Welt kommen. Doch es wird noch immer die himmlische Essenz in sich tragen. Aus dieser werde ich die Wächtersteine erschaffen. So kann mein Kind auf ewig weiter existieren.«

»Die Wächterstein!«, rief Cara aufgeregt. »Was hat es mit denen auf sich? Wofür sind sie?«

»Nur die Wächter können mit Hilfe der Steine die Weltentore öffnen.«

Die junge Frau wurde energischer. »Aber was befindet sich hinter den Toren?«

Bastet seufze. »Cara, du musst deine göttliche Seite akzeptieren. Erkenne an, dass du die wiedergeborene Katzengöttin bist.«

»Die göttliche Seite annehmen? Ich weiß nicht ob ich das kann. Es ist so viel passiert. Was geschieht wenn ich es tue?«

»Du wirst dich an alles erinnern können. Mein ganzes Leben wird dir offen liegen. Dann wirst du auch verstehen, was es mit den Wächtern auf sich hat und wie sie zu den Reinkarnationen stehen.« Die Göttin legte ihre Hände auf die Schultern der Studentin.

Cara wollte den Worten von Bastet Glauben schenken, doch sie hatte Angst. Allein der Gedanke daran alle Erinnerungen zu erhalten, war erschreckend. Wer wusste schon, ob es noch mehr solcher Begegnungen mit Seth gegeben hatte.

»Du musst aufhören zu zweifeln. Nimm mich an!«

»Ich kann nicht«, sagte Cara und löste sich von Bastet. Sie wand ihr den Rücken zu und schwieg weiterhin.

»Mit der Zeit wirst du es!«

Die Stipendiatin erwachte. Draußen wurde es bereits hell und auch ihre Mitbewohnerinnen waren auf den Beinen.

»Hey, wie geht es dir?«, fragte Susan.

Cara setzte sich auf und schaute sich um, Anna fehlte immer noch. »Ganz gut wieder. Alles ist beim Alten. Wo ist Anna?«

Ingrid kicherte vergnügt. »Die ist wahrscheinlich im Jungentrackt. Sie hat an Silvester einen Kerl kennen gelernt, den sie seitdem regelmäßig datet. Hin und wieder übernachtet sie bei ihm, du weißt ja schon weswegen«, sagte sie mit einem Schmunzeln auf den Lippen.

Cara wusste nur zu gut, was sie mit dieser Andeutung meinte. Sie wünschte Anna in Gedanken viel Glück, in der Hoffnung, dass es bei ihr besser lief als bei Jade und ihr.

Ingrid verabschiedete sich, denn sie wollte sich zum Lernen in die Bibliothek zurückziehen und auch Susan wollte noch weg, doch sie blieb noch einen Moment. Sie kam zu Caras Bett und setzte sich neben sie. »Entschuldigung, wenn ich dich nerve, aber ich mit total neugierig. Besonders wenn es um Liebesangelegenheiten geht. Wie sieht es mit dir und Jade aus? An Weihnachten habt ihr euch doch so gut verstanden. Habt ihr euch nochmal getroffen oder ging das nicht, wegen deiner Krankheit?«

Die Stipendiatin hatte bereits damit gerechnet, dass sie dieses Gespräch mit ihrer Mitbewohnerin führen würde. »Ähm... Wir haben uns in einer Vorlesung gesehen und haben danach geredet. Aus uns wird nichts.«

»Wie schade. Dabei ward ihr so ein schönes Pärchen. Ich hatte gedacht ihr würdet zusammenkommen, besonders nach dem super Date an Weihnachten und seinem wundervollen Geschenk.« Susan stand auf, nahm ihre Tasche und verließ das Zimmer.

Jades Geschenk. Seit jenem Abend lag es gut verstaut in ihrem Nachtisch. Sie öffnete die Schublade und holte die silberne Kette mit dem blauen Topas heraus. Sie beschloss die Halskette bei Gelegenheit Jade zurückzugeben. Schließlich war sie bestimmt sehr teuer gewesen und nun hatte sie nichts mehr mit ihm zu tun. Doch noch ein einziges Mal wollte sie sie tragen, also legte sie die silberne Kette um ihren Hals und machten den Verschluss zu. Dann zog Cara sich schnell an, denn viel Zeit hatte sie nicht mehr, bis sie sich mit den anderen traf. Das Frühstück würde sie auslassen, da sie keinerlei Hunger verspürte.

Auf direktem Weg ging sie zu Heathers Zimmer und klopfte an die Tür. Die Stimme ihrer Freundin rief sie herein. Heather saß an ihrem Schminktisch und machte sich fertig. Noch waren sie alleine, von den Jungs war noch keiner Anwesend.

»Guten Morgen, hast du gut geschlafen?«, fragte Heather.

»Es geht so. Ich hatte wieder einen dieser Träume.«

Die blonde Studentin legte die Haarbürste zur Seite und stand von dem Hocker auf. »Worum ging es dieses Mal. Ich hoffe dir geht es gut und du bist nicht verletzt.«

»Nein, dieses Mal bin ich heil geblieben.« Sie wollte es runterspielen, doch ihre Gesprächspartnerin ließ sich davon nicht beeindrucken. »Es ist wirklich nichts Schlimmes passiert. Die Frau aus meinen Träumen hat nur mit mir geredet.«

Heather wollte gerade etwas sagen, als es plötzlich an der Tür klopfte. Sie öffnete, sodass Milan, Nate und Linus eintreten konnten. Nun waren sie alle versammelt. Nate und Linus hatten sich in der Nacht anscheinend angefreundet. Sie unterhielten sich prächtig und scherzten miteinander. Es war so, als ob sie sich schon seit Jahren kannten. Cara war etwas betrübt darüber, dass sie nicht mehr mit Heather alleine war. Zu gerne hätte sie mit ihr in Ruhe gesprochen.

»Also, ein bisschen hat Nate mir schon von den Wächtern erzählt. Klingt alles sehr spannend«, begann Linus. Er war aufgedreht und zappelte die ganze Zeit mit seinen Beinen herum. Wer ihn nicht kannte, hielt dies vielleicht für merkwürdig oder ihn für hyperaktiv, doch Cara wusste es genau. Schon immer war er energiegeladen. Früher hatte er täglich Sport getrieben, um seiner Energie Luft zu machen, meistens war er Laufen gegangen. Einige Male begleitete sie ihn sogar , aber nachdem sie weggezogen war, hatte sie das Training eher vernachlässigt. Die Stipendiatin musste schmunzeln, als sie daran dachte, wie wenig er sich geändert hatte. Sein Charakter war noch immer der Gleiche.

Milan, der auf der Fensterbank saß, schaute verwirrt in die Runde. »Wächter?«

»Ähm ... Wächter sind Personen, die durch bestimmte Steine irgendeine Art von Magie besitzen«, erklärte Heather.

»Die Steine öffnen die Weltenportale«, stieß Cara energisch hervor.

Alle schauten sie an, besonders Nate und Heather machten große Augen. Dann blickte der Mann mit dem Militärhaarschnitt finster und enttäuscht zu der blonden Studentin. »Du hast ihr alles erzählt? Ich hatte dir doch gesagt, dass man niemanden trauen kann. Außerdem geht das die Beiden nichts an. Diese Sache betrifft nur dich, Linus und mich!« Als Nate von den Beiden sprach, zeigte er auf Milan und Cara. Natürlich hatte er solche Gedanken, denn er wusste ja nicht, wie sie da mit drin steckten. Noch nicht einmal Heather wusste das.

»Sie hat mir nichts erzählt«, verteidigte Cara ihre Freundin. »Ich habe es auf andere Weise erfahren.«

»Und die wäre?« Nate war skeptisch und zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.

»Nun ja, ich habe davon geträumt.« Cara machte sich kleiner, sie wusste, wie lächerlich es sich anhörte. Und der Mann vor ihr reagierte genau so, wie sie es vorgestellt hatte. Er lachte und tat dies als Unsinn ab. Für ihn war es plausibler, dass Heather ihr diese Information gegeben hatte.

Milan stand auf und trat neben die Stipendiatin. »Sie lügt nicht. Die Träume entsprechen der Wahrheit.«

Erneut schauten die Wächter verwirrt zu ihnen. Nun war es an der Zeit, alle Karten offen zu legen. Schließlich wussten Milan und sie auch über die anderen Bescheid, da war es nur fair, ihnen den Rest der Situation zu erklären.

»Es ist so ...«, begann sie. »Es gibt Leute, die haben spezielle Träume. Träume die echt wirken. So real, dass Verletzungen im Traum, in der realen Welt Wirklichkeit werden.«

Heather keuchte auf. Sie schien langsam zu begreifen und sie schloss die fehlende Verbindung zu den Geschehnissen in den Ferien.

Cara fuhr fort. »Heather, dir habe ich von der Frau im Nebel erzählt.« Die blonde Studentin nickte. »Auch davon, dass ich sie letzte Nacht wieder gesehen habe. Sie hat mir von den Wächtern erzählt, denn sie hat die Wächter und die Steine erschaffen.«

»Wer ist sie?«, fragte Nate. Sein Interesse war augenscheinlich geweckt. Er lechzte regelrecht danach, noch mehr zu erfahren.

Bevor sie weitersprach, musste sie einmal fest schlucken und tief einatmen. Noch nie hatte sie einer Person gegenüber, die nicht wie sie war, über ihr wahres Ich geredet. »Sie ist die ägyptische Katzengöttin Bastet. Die Göttin der Freude und Beschützerin vor den bösen Mächten.«

»Eine ägyptische Gottheit? Was hat das zu bedeuten?«, fragte Linus.

Nun schritt Milan ein. »Wir sind Reinkarnationen der ägyptischen Götter. Cara trägt Bastet in sich und ich den Himmelsgott Horus.«

»Das war es also, was du mir verheimlicht hast. Warum bist du nicht zu mir gekommen?« Heather schien enttäuscht und leicht wütend zu sein. Cara hatte in der Zeit, in der ihre Freundschaft sich immer enger strickte, bereits festgestellt, dass sie nichts mehr hasste als Geheimnisse.

»Ich konnte noch nicht darüber reden. Soviel ist passiert, was mit all dem zu tun hat, wie meine Verletzung. Außerdem hatte Milan mir abgeraten jemandem davon zu erzählen, bis der richtige Zeitpunkt kommen würde.«

Finster funkelte Heather Milan an. Und dieser wusste, dass nun viel auf dem Spiel stand.

Nate ignorierte die Spannung zwischen den beiden Studenten und wand sich an Cara. »Was hat Bastet noch gesagt? Warum passiert das alles und wozu sind die Reinkarnationen und Wächter von Nutzen? Wo ist die Verbindung?«

»Ich weiß nicht, wo die Verbindung liegt. Bastet wollte es nicht sagen. Sie meinte, dass ich alles erfahren würde, wenn ich meine göttliche Seite akzeptiere. Doch ich kann das nicht! Es ist so viel passiert, was mich quält. Alle Erinnerungen von Bastets früherem Leben will ich nicht. Einige hab ich schon erlebt und bin im Institut gelandet, wo ich nie wieder hin will!«

Warme Arme umschlossen sie. Heather, die neben ihr auf dem Bett saß, umarmte sie tröstend. Auch ohne Worte wusste sie, was ihre Freundin ihr mitteilen wollte. Sie sollte nicht mehr an das Vergangene denken.

»Aber sollten wir nicht so viel wie möglich herausfinden wollen? Wenn es der Sache dient, solltest du dann nicht deine Belange zurückstellen und uns helfen, das alles hier zu verstehen?«, wand Nate ein. Nur er konnte so denken und reden, denn im Militär wurde ihm eine solche Denkweise eingebläut.

Cara ließ den Kopf hängen. Nate hatte Recht, mit dem was er sagte. Sie wusste das ganz genau. Aber die Angst vor den Erinnerungen übermannte sie einfach. Niemand konnte garantieren, dass sie daran nicht zerbrach. Schon jetzt hatten die Träume ihr schwer zugesetzt, was würde geschehen, wenn sie jede Erinnerung Bastets bekäme?

»Du weißt doch gar nicht, was Cara alles durchgemacht hat. Es war so schon schwer, sie aus dem Institut zu holen. Und danach war sie nicht sie selbst. Ich bin froh, dass sie jetzt wenigstens wieder etwas glücklich sein kann. So lethargisch und traurig will ich sie nie wieder sehen!« Heather war vom Bett aufgesprungen und hatte sich vor Nate gestellt. Mit lauter und bestimmender Stimme redete sie auf ihn ein. Dieser große Mann sah in diesem Augenblick ganz klein aus.

Cara war ihrer Freundin in diesem Moment so dankbar. Nie hätte sie erwarten, dass je jemand so für sie einstehen würde. In Heather hatte sie eine Gefährtin gefunden, die sie nie wieder verlieren würde. Mit ihr fand sie Stück für Stück aufs Neue heraus, was Freundschaft wirklich bedeutete.

»Was ist das Institut überhaupt?«, fragte Nate kleinlaut, er wollte die blonde Studentin nicht noch einmal in Aufregung versetzten.

»Es ist eine Art Klinik oder so etwas. Milan hat erzählt, sie arbeiten dort mit Hypnotherapien und meiner Ansicht nach tätigen sie dort irgendwelche ominösen Experimente. Vielleicht heilen sie ja auch tatsächlich Krankheiten, aber es fällt mir doch schwer, das zu glauben ohne es zu sehen. Jedenfalls sind die Sicherheitsmaßnahmen vor und in dem Gebäude sehr hoch. Wirklich ... Da drin kann es nicht mit rechten Dingen zugehen, dafür machen die Leute ein zu großes Geheimnis davon.«

Wie vom Blitz getroffen, stand Nate auf und schaute wütend in die Runde. »Und so eine Einrichtung befindet sich hier auf dem Campus? Was ist, wenn die mit unseren Feinden zusammen arbeiten? Wäre ich doch nur nie hierhergekommen. Man sieht sich.« Mit schweren, schnellen Schritten eilte der junge Mann aus dem Zimmer. Alle anderen starrten ihm erschrocken nach.

Nachdem die Tür laut zugeknallte, blieben sie im ersten Moment noch still. Milan war der Erste, der sich regte. Er kam vom Fenster zu Heather und schaute sie durchdringend an. »Bitte, ich sage es dir noch einmal: Halte dich aus der Sache mit dem Institut raus! Ich will nicht, dass dir etwas passiert.«

»Raushalten? Mittlerweile solltest du wissen, dass das nicht so einfach ist. Ich bin eine Wächterin und ihr seid Reinkarnationen! Wir hängen da alle mit drin«, sie stampfte wütend auf, um ihre Ernsthaftigkeit zu untermauern. »Außerdem hatten sie Cara in ihrer Gewalt. Was auch immer hinter diesen Mauern vorgeht, es kann einfach nichts Gutes bedeuten.«

Ein lautes Seufzen entrann Milan. Cara konnte ihn gut verstehen. Wenn Heather sich etwas vorgenommen hatte, dann war sie schwerlich davon abzubringen. So war es bereits in Ägypten gewesen, als sie sich in dem Tempel befanden hatten.

Milan verabschiedete sich, für ihn gab es fürs Erste nichts mehr zu sagen. Auch Linus wollte gehen, da er über alles nachdenken musste. Die Stipendiatin beschloss, mit ihm zu gehen, ihn wenigstens noch bis zum Tor zu begleiten. Bevor sie die Tür hinter sich schloss, sah sie, wie Heather sich an ihren Schreibtisch setzte. Sie hatte angekündigt, das Gehörte niederzuschreiben, um sich über alles einen Überblick zu verschaffen. Und das war eine gute Idee. Wenn sie erstmal alles verstanden, würde vielleicht alles besser werden. Doch die Frage war: wie viel Zeit blieb ihnen noch?

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