Vier - Begegnung
Draußen auf dem Hof der Universität suchte Heather nach dem braunhaarigen Mädchen, das weinend die Cafeteria verlassen hatte. Gleich vor ihr baute sich das Bibliotheksgebäude auf, dessen Fensterfronten im Inneren für ausreichend Licht sorgen mussten. Sie lief ein bisschen an der Mauer her und lauschte in die Stille. Nach einigen Metern vernahm sie ein zierliches Wimmern, das aus einer kleinen Nische des Gebäudes drang und lugte um die Ecke.
»Hey, alles in Ordnung bei dir?«, fragte sie vorsichtig. »Ähm, das ist wahrscheinlich nach alldem gerade die falsche Formulierung. Es tut mir schrecklich Leid, dass Bianca so mit dir umgegangen ist. Sie ist im Moment sehr gestresst, aber das rechtfertigt ihr Verhalten keinesfalls.«
»Ja, ist egal«, antwortete das Mädchen und wand ihr Gesicht zur Wand ab. »Du kannst ruhig wieder gehen.«
Seufzend ließ Heather sich neben ihr nieder und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Mauer, deren Kälte ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Die Brünette entspannte sich allmählich und die Tränen versiegten.
»Es ist reichlich spät, aber wie heißt du?«, hakte Heather nach, als sie bemerkte, dass sich die andere beruhigte. »Ich bin Heather McCarthy.«
»Cara ... Cara Jackson. Muss ich dich irgendwie anders anreden, weil du aus gutem Hause kommst?«
»Ach quatsch«, Heather stand auf und reichte Cara ihre Hand. »Begleitest du mich in die Bibliothek? Ich bin bis jetzt noch nicht dazu gekommen, mich dort umzusehen.«
Cara wirkte zögernd, war sie sich doch vermutlich nicht sicher, ob es eine gute Idee war, sich mit Heather sehen zu lassen. Vor allem nicht, weil ihre Freundin Bianca sie ganz offensichtlich nicht mochte. Cara wollte eben widersprechen, da trafen sich ihre Blicke. Heathers Lächeln schien ihre Angst aufzulockern, als würde eine warme Brise über ihre Haut streichen und diese ergriff die noch immer nach ihr ausgestreckte Hand. Auch Heather spürte ihr Herz einen kleinen Sprung machen, als sich die beiden Mädchen berührten. Es glich einem Gefühl von Vertrautheit, obgleich sie sich gar nicht kannten.
Gemeinsam setzten sie sich, jeder ein Buch in der Hand, in einen Kreis aus brauen Ledersesseln, die sich in einer von Paravents abgetrennten Ecke befanden. Einige Minuten sagte keiner ein Wort. Beide schienen in ihre Lektüre vertieft zu sein, doch es lag eine gewisse Spannung in der Luft, die sie nicht totschweigen konnten, das wusste Heather. Der Schmerz und die Scham, die Cara durch Bianca ertragen musste, galt es zu vernichten.
»Wegen vorhin«, setzte Heather kleinlaut an. »Verzeih, dass ich nichts gesagt habe. Bianca ist meine Freundin, auch wenn sie sich daneben benimmt, deshalb entschuldige ich mich nochmals für sie.«
»Dir ist klar, dass du das nicht musst, oder?« Cara legte den Kopf schief und musterte die Blondine, deren Haare in ihr Gesicht fielen. »Wenn sich jemand entschuldigen sollte, dann deine Freundin. Ich will nicht aufmüpfig wirken, doch sollte jemand aus ihrem Hause nicht wissen, was Benehmen bedeutet?«
»Sie ist einfach verwöhnt und ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass ich es nicht sei.«
»Wenigstens siehst du es ein.«
Heather fing an zu Lachen und einen Tisch weiter, wo drei Jungen versuchten sich auf ihre Bücher zu konzentrieren, wurde sich beschwerend geräuspert. Cara hingegen schien verwirrt, denn das reiche Mädchen vor ihr benahm sich so anders, so normal.
»Aber sie wird sich wohl nicht bei mir entschuldigen«, erklärte Cara. »Dazu ist sie schließlich nicht verpflichtet und ich glaube, es wäre für alle besser, wenn wir das in der Mensa vergessen.«
»Ich für meinen Teil werde es nicht einfach vergessen. Bianca ist zu weit gegangen und sollte sich langsam ihrem Alter entsprechend benehmen. Natürlich ist es schwer, sich in der neuen Situation einzufinden, aber ihren Frust an dir auszulassen, ist alles andere als gerecht.«
Cara erwiderte nichts, sondern schaute Heather etwas unsicher an. Sie spielte mit dem Saum ihres Oberteils und biss sich auf die Lippe, während die andere Studentin die Bücher zurück ins Regal legte. Als die zwei die Bibliothek verließen, fiel Heathers Blick auf das hohe Institutsgebäude, an dessen Fenstern sich die Sonne reflektierte.
»Cara«, begann sie. »Weißt du zufällig etwas über das Haus da?«, Cara folgte Heathers Finger, doch musste verneinend den Kopf schütteln. »Wollen wir uns das mal näher anschauen?«
Nie hätte sie ihre Freundin Bianca so etwas fragen können, denn diese war nicht nur eine Gerüchteküche, sondern auch ein solches Plappermaul, dass sie jedem von diesem kleinen, unerlaubten Ausflug erzählen würde. Vielleicht war auch Caras Interesse an dem Institut so groß, dass sie sich darauf einließ.
»Aber wir sollen uns doch von dort fernhalten«, erwiderte sie skeptisch.
»Ja, das stimmt, doch niemand sagt uns den Grund dafür. Bist du denn gar nicht neugierig?«
»Hm ...«, machte das brünette Mädchen. »Na schön, solange uns keiner sieht, komme ich mit.«
Am langen Zaun, der das gesamte Universitätsgelände absteckte, schlichen die beiden jungen Frauen entlang, zuckten bei jedem Geräusch zusammen. Schon von Weitem erkannte Heather die Überwachungskameras, aber sie erwähnte es Cara gegenüber nicht, da diese sonst wahrscheinlich nicht weitergehen würde. Und allein traute sich auch Heather nicht an diese Einrichtung, deren Inhalt ein Mysterium war. Vor dem Eingang, der höher gelegen war, standen keine Wachen, lediglich die gläserne Schiebetüren öffneten sich lautlos als die Studentinnen davor traten. Es schien totenstill im Inneren, als würden die schneeweißen Wände und Möbel jeden Mucks verschlucken, bevor er ihre Ohren erreichen konnte. Links und rechts von ihnen befand sich je ein Tisch, die wie Rezeptionen wirkten, jedoch gab es keine Empfangsdamen oder ähnliches. Hier war niemand. Sofort beugte sich Heather über einen der Tische und suchte nach einem Hinweis für das, was hier vor sich ging. Allerdings fand sie nur eine Liste mit Namen. Wofür sich die Leute eintrugen, konnte sie nicht in Erfahrung bringen.
»Bestimmt sind das die Namen der Angestellten hier«, äußerte sich Cara zu den Zetteln, die Heather noch immer fragend in die Höhe hielt. »Sollten wir nicht besser wieder verschwinden? Wenn uns doch jemand erwischt, sind wir dran und zumindest ich kann mir keinen Ärger leisten. Dieses Studium bedeutet mir so viel.«
»Warte noch einen Augenblick«, Heather legte die Papiere bei Seite und ließ ihre Finger über das Eingabefeld des Fahrstuhles gleiten. »Schau mal her. Man kann nur über den Fahrstuhl zu den anderen Etagen gelangen und dafür braucht man scheinbar eine ID-Karte oder so ... ist das nicht seltsam?«
»Ja und jetzt komm endlich«, nervös zerrte Cara an Heathers Ärmel als sie bemerkte, was sie tat, ließ sie schnellstens los. »Entschuldige.«
»Macht nichts. Du musst dich bei mir nicht verstellen.« Cara zappelte immer noch herum. Ganz offensichtlich wollte sie keine Sekunde länger hier verbringen. »Okay, wir gehen. Aber wir kommen wieder«, verkündete Heather.
»Sehr gut«, stimmte Cara ein und stürmte zum Ausgang.
Draußen verabschiedeten sich die Beiden. Heather war froh, mit Cara gesprochen zu haben, obwohl das die Problematik mit ihrer Freundin Bianca nur oberflächlich gelöst hatte. Es war so schade, dass die Studenten aus reichem Haus unter sich blieben, wenn man doch einiges mit den Stipendiaten gemein haben konnte. Zumindest Heather entschied sich dafür, öfter mit Cara zu reden und wenn sie es zuließ, könnten die zwei Freunde werden. Oder war das zu optimistisch gedacht?
Heather schlenderte gedankenverloren über den Campus und dachte über Biancas Reaktion nach. Ihre Freundin verhielt sich wirklich unter aller Sau, denn jemanden aufgrund seiner Herkunft derartig zu verurteilen, missfiel Heather sehr. Immerhin konnte man sich ja nicht aussuchen, was für einer Arbeit die eignen Eltern nachgingen und wenn diese eben nicht viel verdienten, konnte man doch niemanden deshalb weniger wertschätzen.
Schrille Schreie mit einem Hauch von Euphorie drangen zu Heather durch. Sie kamen aus der Richtung des Festsaales neben der Cafeteria und sie konnte nicht anders, als sich das Spektakel, bestehend aus vielen kreischenden Mädchen, anzuschauen. Eine Traube aus jungen Frauen hatte sich um jemanden gebildet, den Heather noch nicht ausmachen konnte, dennoch wurde auch ihre Neugierde geweckt. Von weitem beobachtete sie ihre weiblichen Kommilitonen, welche den Unbekannten wie einen Prominenten belagerten.
Da fiel ihr ein, dass so etwas wie ein waschechter Promi bei dieser highclass Schule nicht ungewöhnlich wäre. Auf jeden Fall schien er viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und wenn Heather nicht neu hier gewesen wäre, hätte sie sich bereits denken können, wer es war.
Wieder einmal scharrten sich viele Mädchen um ihn, während er eigentlich nur auf dem Weg ins Institut seines Vaters zu sein schien. Doch die weibliche Gesellschaft würde sich auch heute nicht allzu schnell abschütteln lassen, also spielte er ein wenig mit ihnen und ging auf die zahlreichen Fragen ein, wie Heather bemerkte. Sein Blick fiel dieses Mal allerdings schnell auf die blonde Studentin, die sich seit einigen Minuten nicht weiter heranwagte und ihre Distanz hielt. Ihre langen Haare umspielten durch die seichte Brise ihr Gesicht und sie verlagerte unsicher das Gewicht vom rechten aufs linke Bein.
Heather verspürte weiterhin nicht das Bedürfnis, dem Aufmarsch einige Meter vor ihr näher zu kommen, auch wenn der Blick des jungen Mannes sie fixierte. Ihr Interesse an dem Ganzen wollte sich aber nicht aus ihrem Kopf vertreiben lassen, also starrte sie weiter auf das Frauenknäul, welches sich in ihre Richtung bewegte.
»Hey, Prinzesschen!«, rief ihr der junge Mann, der die Masse wie ein Messer durchtrennte, zu und strich sich dabei die schokoladenbraunen Haare aus der Stirn. Sein Zeigefinger deutete auf Heather, worauf alle Augen der Frauen dieser Geste folgten und sie mit Blicken straften. »Gesell dich doch zu uns.«
Heather machte auf dem Absatz kehrt und wollte so schnell wie möglich verschwinden, doch der junge Mann war schneller und packte sie am Handgelenkt. Seine strahlend blauen Augen begutachteten sie innig, versuchten etwas in ihr zu finden, von dem sie selbst nichts wusste. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken herunter und darauf folgte ein Brennen in ihrem Magen.
»Es ist nicht sehr freundlich, wegzulaufen wenn dich jemand anspricht«, sagte er zuerst ernst, musste aber selbst lächeln.
»Pinzesschen ist ja auch keine sonderlich erwachsene Anrede für jemanden, den man nicht kennt«, konterte Heather und riss sich von ihm los. »Außerdem scheinen deine wohlerzogenen Schäfchen es gar nicht gern zu sehen, dass du mit mir redest.«
»Wie kannst du es wagen so mit ihm zu reden?!«, rief eine der anderen Studentinnen und holte zur Ohrfeige aus, die Heather galt, aber der junge Mann stoppte sie. »Milan? Was soll das? Wer ist sie schon, dass sie sich erlaubt, dich runterzumachen?«
Milan stieß die andere von sich und stellte sich genau vor Heather. Automatisch wich sie zurück und erntete ein breites Grinsen von dem Schönling. Mit einer einfachen Handbewegung scheuchte er die Schar Mädchen, die ihm folgte, fort und widmete seine verbleibende Zeit ganz der neuen Studentin.
»Darf ich mich vorstellen ... Milan Freyer«, entgegnete er mit einer kleinen Verbeugung. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Freyer?«, Heather klang entsetzter als sie es vorhatte.
»Ja, der einzige Sohn des Leiters dieser Akademie. Zu deinen Diensten«, er verbeugte sich ein Stückchen und schaute erwartungsvoll zu ihr hoch.
»Ja, danke, aber ich benötige deine Unterstützung nicht. In keinster Weise.«
Milan ergriff ein weiteres Mal die Hand des blonden Mädchens und küsste ihren Handrücken. Auffordernd trafen seine Blicke auf ihre, doch sie wand einerseits schüchtern, andererseits genervt das Gesicht ab. Wahrscheinlich wurde sie sogar rot, aber das sah sie selbst zum Glück nicht.
»Wie lautet denn nun dein Name?«
»Ich denke nicht, dass ich verpflichtet bin, jedem beliebigen Kerl meinen Namen zu verraten.«
Laut lachend ließ Milan Heathers Hand los und hielt sich den Bauch. Die Tränen stiegen ihm ins Gesicht und er dachte wohl, dass er mit ihr einen interessanten Fang gemacht hatte. Falls er sie denn von sich überzeugen konnte, doch Heather gab nicht viel auf seinen Charme und auch sonst fand sie nicht wirklich viel Gefallen an ihm.
»Dann nenne ich dich eben weiterhin Prinzesschen«, entschloss er und setzte sich in Bewegung. Perplex schaute Heather ihm hinterher, rannte ihm schließlich nach. »Hast du es dir doch anders überlegt, Prinzesschen?«, er amüsierte sich sehr über ihre wütende Gestikulation. »Prinzesschen ist bestimmt nicht weit hergeholt. Du gehörst auch zum höheren Stand, nicht wahr?«
»Lass endlich den Quatsch!«, zischte Heather und haschte nach seinem Anzugkragen, doch er entzog sich ihr mit einem raschen Schritt nach hinten. »Nenn mich nicht so ... Da du keine Ruhe gibt's ... mein Name ist Heather McCarthy. Ist ja fast so, als würde man mit einem Kleinkind diskutieren ...«
Über die Köpfe der Beiden rauschte ein Helikopter an, dessen Rotorblätter nahezu kreischend die Luft zerschnitten. Die Studentin musste ihre langen Haare zusammennehmen, damit diese ihr nicht ins Gesicht peitschten und auch Milan strich sich einige der Strähnen, die ihm bis über die Ohren reichten, aus der Stirn.
»Sieht so aus, als käme da gerade mein Abholdienst. Ich freue mich bereits jetzt auf unser Wiedersehen, Heather McCarthy.«
Nahe des Institutsgebäudes setzte der Helikopter zur Landung an. Bis jetzt war sich Heather noch nicht im Klaren darüber gewesen, dass die hiesigen Leute wirklich aus den besten und angesehensten Häusern stammten. Und in etwa so luxuriös und exotisch reisten sie auch. Milan schritt zu dem Hubschrauber, als sei es das Normalste der Welt, doch auch für Heather war dies etwas Außergewöhnliches. Kurz beobachtete sie noch, wie der Sohn des Leiters der Freyer Akademie in den kleinen Raum hinter dem Piloten kletterte, dann fiel ihr Blick auf die Uhr und sie erkannte, dass sie noch genau fünf Minuten bis zur nächsten Vorlesung hatte.
Nachdem Cara Heather verlassen hatte, suchte sie sich draußen ein ruhiges Plätzchen. Sie brauchte einige stille Minuten für sich, um den Tag Revue passieren zu lassen. Am hinteren Teil des Campus standen einige Bäume. Die Studentin lehnte sich an einen großen, sehr alten Baum, mit einer weiten Krone. Sie ließ sich am Stamm in das weiche, leicht feuchte Gras sinken. Im ersten Moment wurden ihre Beine kalt, doch ihr Körper wärmte sie schnell wieder auf. Ein leichter Wind raschelte durch die Blätter und das Rauschen hatte eine beruhigende Wirkung auf die junge Frau.
So wie sie da saß, konnte sie gut über alles nachdenken. Von Anfang an war ihr diese Bianca unsympathisch gewesen, da war es nur eine Frage der Zeit, bis sie unliebsam aufeinander trafen. Erneut.
Auch machte sie sich Gedanken über den Studenten vom Empfangsessen. Cara hatte ihn einige Male auf dem Campus gesehen und auch in den Vorlesungssälen. Jade schien wie sie im ersten Semester zu sein und auch Geschichtswissenschaften zu studieren. Doch saß er immer alleine da und Cara hatte noch nie gesehen, dass er sich mit jemanden unterhielt, bis auf Milan, aber dieser war nur selten da. So wie sie es mitbekommen hatte, studierte der Sohn des Gründers außerhalb. Die Studentin fragte sich, ob Jade alleine sein wollte oder ob es einen anderen Grund dafür gab, dass er keinen Kontakt zu anderen suchte. Sie wusste nicht warum, doch irgendwie fühlte sie sich zu diesem Studenten hingezogen, obwohl sie ihn kaum kannte und die erste Begegnung mit ihm nicht gerade positiv war. Da war der Sohn von Professor Freyer freundlicher gewesen. Cara nahm sich vor, Jade bei der nächsten Gelegenheit anzusprechen. Aber sie fragte sich, ob sie den Mut aufbringen würde, denn sein finsterer und eiskalter Blick bereitete ihr Angst. Vielleicht war dies mit ein Grund, dass er ein Einzelgänger war.
Plötzlich wurde die Studentin aus ihren Gedanken gerissen. Ein leises, hohes Miauen ließ sie in die Baumkrone schauen. Zwei gelbe, knopfartige Augen funkelten sie durch das Blättergewirr an. Langsam erhob sich Cara und fing an das Kätzchen vom Baum zu locken. Sie beobachtete, wie die Augen sich hin und her bewegten, bis eine kleine, schwarze Katze zum Vorschein kam und unbeholfen den dicken Stamm hinunter kletterte. Die Kleine blieb auf einem der untersten Äste hocken. Die junge Frau seufzte und hob ihre Arme, damit sie die Katze auffangen konnte. Zum Glück verstand diese den Wink und sprang in ihre Arme. Cara hatte gewusst, dass ihr das Kätzchen soweit vertrauen würde, denn sie hatte schon immer einen guten Draht zu diesen kleinen Raubtieren gehabt. Noch nie hatte sie die Krallen oder Fänge zu spüren bekommen, egal wie viele Katzen sie umgaben. Sie hatte anscheinend eine beruhigende Wirkung auf Katzen, genau wie diese auf sie.
Die kleine Schwarze hatte sich in Caras Armbeuge gekuschelt und schnurrte laut, während die Studentin ihr weiches Fell kraulte. Cara fand, dass diese Katze so klein und zierlich war, ihr Herz erwärmte sich sogleich.
Es wurde langsam kühl um sie herum, also beschloss die junge Frau zurück ins Wohnheim zu gehen. Vorsichtig setzte sie die Kleine ab, die daraufhin protestierend zu Miauen anfing.
»Ich habe keine Zeit mehr, es ist schon spät.« Cara lief los in Richtung Wohnheim. Doch die Katze dachte nicht daran alleine zu bleiben und stiefelte ihr hinterher. »Du musst hier bleiben, ich kann dich nicht mitnehmen. Im Wohnheim sind Haustiere mit Sicherheit verboten.«
Wieder ertönte ein Miauen von der kleinen Katze. Cara kicherte, die Kleine war einfach zu niedlich. Alle Versuche, sie wegzuschicken, scheiterten. Also hatte sie keine andere Wahl, die Katze ihren Willen zu lassen. Sollte sie ihr doch weiter hinterher laufen. Spätestens an der Tür des Wohnheims würde sie sehen, dass sie nicht mitkommen konnte. Sobald Cara das Gebäude erreicht hatte, öffnete sie eine der beiden gläsernen Eingangstüren und schloss diese schnell, bevor die Katze hinein huschen konnte. Beleidigt patschte sie mit ihren Samtpfoten gegen die Scheibe und jaulte laut los. Die Studentin winkte ihr noch kurz zu und verschwand dann die Treppe hoch.
Die Gänge im ersten Stock waren menschenleer und auch ihr Zimmer fand sie verlassen vor. Die anderen hatten anscheinend noch Vorlesung. Cara wollte die momentane Ruhe nutzen, sie nahm sich eins ihrer Lehrbücher und setzte sich auf ihr Bett, welches hinten am Fenster stand. Das Studium hatte zwar erst angefangen, doch sie als Stipendiatin konnte es sich nicht erlauben mit dem Stoff hinterher zu hinken. Das Schöne war, dass das momentane Thema sehr interessant war. Sie behandelten das Alte Ägypten, von der Sprache bis hin zur Mythologie. Davon hatte sie schon etwas Ahnung, denn durch ihre zahlreichen Reisen in das alte Land am Nil hatte sie von ihren Eltern viel gelernt. Beide hatten das Alte Ägypten als Spezialgebiet, wobei ihr Vater sich genauer mit der Sprache und den Schriften beschäftigte und ihre Mutter mit der Kunst und Kultur. Vielleicht waren sie auch der Grund für ihren Ehrgeiz, denn eines Tages wollte sie in die Fußstapfen ihrer Eltern treten.
Ein leises Kratzen am Fenster lenkte sie vom Lernen ab. Neugierig zog Cara die langen Vorhänge zurück und konnte ihren Augen nicht trauen. Dort auf dem Fenstersims saß die kleine, schwarze Katze. Verwirrt öffnete sie das Fenster, sodass das Fellbündel hinein huschen konnte.
»Wie bist du hier hoch gekommen, wir sind im ersten Stock?« Ein kurzer Blick aus dem Fenster erbrachte sogleich die Antwort. Die Studentin hatte bis jetzt noch nicht bemerkt, dass die Rückseite des Wohnheims mit Efeu überwuchert war.
Cara schloss das Fenster wieder und setzte sich zu der Katze, die sich mittlerweile auf ihr Bett gekuschelt hatte. »Was soll ich nur mit dir machen? Ich kann dich ja schlecht hier behalten.«
Die Kleine schaute sie mit ihren goldenen Augen durchdringend an. Cara beschloss die Katze vorerst hier im Zimmer zu behalten, bis sie wusste, was endgültig mit ihr geschehen sollte. »Du musst aber ganz leise sein, sodass dich die anderen nicht bemerken. Und pass' auf, dass sie dich nicht sehen«, sagte sie zu ihr. Ein kleines Miauen ertönte, so als ob sie Cara zustimmte.
Die Studentin gab ihr den ägyptischen Namen »Chione«, was soviel bedeutete wie »Tochter des Nils«. Dann nahm sie die Tagesdecke vom Bett, faltete diese zusammen und legte sie unter das Bett, als Schlafplatz für die Katze. Chione schien dies sogleich zu verstehen, denn kaum lag die Decke, rollte sie sich dort zusammen und fing an zu dösen. Cara folgte ihrem Beispiel und kletterte in ihr Bett. Die junge Frau war eingeschlafen, noch bevor ihre Zimmergenossen zurück waren.
Es war kalt um Cara herum. Nebel umhüllte sie. In der Ferne war eine schemenhafte Gestalt zu erkennen. Cara lief auf diese zu, kam aber nicht voran. Doch sie wollte nicht nur zu dieser Gestalt, Gänsehaut und ein Schauer über ihrem Rücken trieben sie ebenfalls voran. Etwas schien sie zu verfolgen. Die Person im Nebel kam näher, sodass Cara nun eine Frau erkennen konnte. Das Merkwürdige an ihr war, dass sie der Studentin sehr ähnlich sah, nur war die Frau etwas älter als sie und trug antike Kleidung Ägyptens, sowie goldenen Schmuck. Plötzlich kratzte jemand oder etwas Cara von hinten am Oberarm. Ein kurzer Schmerz durchzuckte sie. In diesem Moment beobachtete sie, wie die Frau vor ihr sich in eine wunderschöne, große Katze, mit glänzendem, schwarzen Fell verwandelte. Um ihren Hals lag ein prachtvolles Halsband aus purem Gold, welches eine Anch-Symbol zierte. Das Zeichen für »Leben«.
Cara schreckte aus dem Schlaf hoch. Was für ein komischer Traum dies gewesen war. Seit Jahren verfolgte sie dieser Traum, doch mit jedem Mal wurde er intensiver und deutlicher. In dieser Nacht, hatte sie die Frau zum ersten Mal genau gesehen. Und es war auch das erste Mal, dass sie angegriffen wurde. Was hatte dies nur zu bedeuten? Was sollte sie nun tun?
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