Siebzehn (1) - Die Wege kreuzen sich

Wieso war ihre Freundin in das verbotene Gebäude getreten? Sie hatte so unbekümmert gewirkt und keine Miene verzogen. Cara wollte sich nicht vorstellen, dass Heather die Seiten gewechselt hatte, mit dem Feind zusammen arbeitete und somit Verrat begangen hatte. Für die blonde Studentin war es doch genauso gefährlich an diesem Ort, wie für sie auch. Aber Heather war jetzt mit Milan zusammen, dass hatte sie von einigen Kommilitonen gehört, die dem beliebten Sohn des Akademiedirektors hinterher trauerten. War es möglich, dass sein Zustand sich wieder verschlechtert hatte und sie deswegen das Institut betrat? Doch in ihrem Blick war keine Sorge zu erkennen gewesen.

Cara beschloss, dass sie sich auf die Lauer legen würde, bis die blonde Studentin wieder herauskommen würde. Es war nun an der Zeit ein ernstes Gespräch mit ihr zu führen. In der Nähe des Institutes standen einige Bäume, zu denen sie nun ging. Sie lehnte sich an einen der Stämme und hielt ihren Blick stetig auf den Eingang gerichtet. Sie wartete die ganze Zeit, der Abend brach langsam herein und ein kühler Wind frischte auf. Als der Himmel sich rot färbte, verließ Heather das Gebäude. Sofort stieß Cara sich von dem Baum ab und rannte zu ihr hinüber.

»Heather, warte bitte!«

Schockiert wirbelte die Blonde herum und schaute sie mit weit geöffneten Augen an. Dennoch blieb sie stehen und fing an, an ihrer Umhängetasche zu nesteln. »Was gibt's?«, hauchte sie.

»Du gehst mir seit Längerem aus dem Weg! Was ist passiert?«

Heather antwortete ihr nicht, schaute nur stumm zur Seite.

»Dann sag mir wenigstens, warum du im Institut warst?«

Immer noch hielt die Stille seitens Heather weiter an.

»Geht es um Milan?«

Wieder bekam sie keine Antwort. Cara wurde immer unruhiger und ungeduldiger. Ihr Gewicht verlagerte sie mit jeder verstrichenen Minute von einem Bein auf das andere. Sie ertrug das Schweigen nicht, dass ihre Freundin ihr entgegen warf. Einen weiteren Versuch unternehmend trat sie noch einige Schritte auf Heather zu, sodass sie fasst Fußspitze an Fußspitze standen. »Du weißt, dass du mir vertrauen kannst! Wir brauchen keine Geheimnisse voreinander zu haben.«

Die junge Frau hatte ihr nicht ein einziges Mal in die Augen geschaut und in diesem Moment wand sie ihr nun den Rücken zu. Sie ging nicht, blieb einfach wie angewurzelt stehen und wartete, bis Cara endlich aufgab. Doch die Stipendiatin wollte Antworten, sie wollte nicht weiterhin im Dunkeln bleiben. Ihr Gesicht glühte vor Wut und sie explodierte förmlich. »Wir stecken da beide drin! Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, was du mit dem Institut zu schaffen hast! Wenn du mir nichts sagst, finde ich es halt alleine heraus.«

Wutentbrannt stapfte Cara davon und ließ Heather stehen. Sie wusste auch schon ganz genau, wo sie nach Antworten suchen konnte. Bisher hatte sie nur in dem einen Tagebuch von Aarón gelesen. Die anderen hatte sie bisher noch nicht angerührt. Vielleicht hatte Re ja etwas Nützliches zusammen getragen über die Tore und die Wächter. Schnurstracks betrat sie das Wohnheim und rannte fast auf ihr Zimmer. Ihre beiden Mitbewohnerinnen waren bereits da und machten sich für die Nacht fertig. Während Ingrid im Bad verschwand, lag Anna auf ihrem Bett mit Kopfhörern auf den Ohren und blätternd in einer Zeitschrift. Cara nickte ihr kurz zur Begrüßung zu und ging dann in ihren Bereich des Raumes. Sie zog eine kleine Kiste unter ihrem Bett hervor, in der sie die Tagebücher aufbewahrte. Sie legte den Stapel aufs Bett und zog sich dann etwas Gemütlicheres an. Ingrid hatte mittlerweile das Bad verlassen und Anna hatte sich dort drin eingeschlossen.

»Was hast du da für Bücher?«, fragte die Theologiestudentin, während sie ihre tropfnassen Haare mit einem Handtuch frottierte.

Um eine Antwort ringend, erzählte Cara das erst Beste was ihr einfiel. »Ähm... Notizbücher von früher, von meinen Reisen.«

Ingrid trat näher und nahm sich eins der ledergebundenen Bücher. »Interessant. Darf ich sie mir mal durchlesen?«

»Nein!«, rief Cara und nahm es ihr wieder aus der Hand. Als ihre Zimmergenossin zusammenzuckte, bereute sie ihre überhastete Reaktion. »Ich meine: sie sind privat. Es sind auch eher Tagebücher als Notizen.«

Ingrid hob beide Hände nach oben, so als wolle sie kapitulieren und ging dann zu ihrem Bett hinüber. Cara warf sich auf ihres und nahm das erste Buch in die Hand. Es war das, welches sie bereits gelesen hatte. Sie blätterte durch die Seiten, um zu schauen, dass sie bloß nichts übersehen hatte. Doch alles was dort stand, wusste sie bereits. Re hatte von seiner Suche nach Anhängern begonnen und auch welche gefunden. Den ersten seiner Sucher fand er in Italien. Ein Mann namens Edoardo und er machte ihn zu seiner Rechten Hand. Gemeinsam mit den bisherigen Suchern reiste Re durch die ganze Welt und durchsuchte diese nach neuen Anhängern und den Wächtern. Nach einigen Jahren ließ er sich mit seiner Organisation in Rom nieder. Der Studentin hatte dies etwas erstaunt. Rom war mit dem Vatikan der Sitz katholischen Kirche. Man hätte meinen können, dass Re sich lieber als altägyptischer Gott einen Ort aussuchen würde, der nicht gerade im Zentrum einer anderen Glaubensgemeinschaft wäre. Die Gründe, die ihn dazu bewogen hatten, hatte er nie niedergeschrieben.

Als sie mit allen Seiten durch war griff sie nach dem nächsten. Schon im Vorfeld hatte sie die Tagebücher anhand der innen stehenden Jahreszahlen chronologisch geordnet. Mit weiten Augen las sie über die Hieroglyphen. Re hatte nie aufgehört diese zu verwenden. Doch zum Glück konnte sie diese perfekt lesen. Cara stockte bei circa der Hälfte dieses Buches. Zum ersten Mal schrieb Re genaueres über die Tore: »Die Suche dauert nun bereits zehn Jahre an und noch immer haben wir keinen der Wächter oder deren Steine gefunden. Es würde allein schon reichen die Steine zu finden und die drei Wächter, die von den Priestern abstammen. Alle drei zusammen können die Tore öffnen. Für einen alleine wäre die Kraft zu stark und dieser könnte in ernste Lebensgefahr geraten.«

Ernste Lebensgefahr? Diese Aussage fiel der Studentin immer wieder ins Auge. Sollte es wirklich passieren, dass Freyer alle Steine in die Hände bekam und er verlangen würde ein Tor zu öffnen, so müssten Nate, Linus und Heather – die drei Nachfahren der Priester – es gemeinsam tun. Ansonsten würde der Einzelne, der das Tor öffnete, sterben.

Sie musste sie warnen! Das Leben ihrer Freunde stand auf dem Spiel. Doch würde Heather ihr überhaupt zuhören? Sie musste es einfach versuchen. Cara legte das Tagebuch zur Seite und griff nach ihrem Handy, welches auf dem Nachttisch lag. Sie tippte geschwind die Bitte um ein Treffen ein und verschickte die SMS an Heather und Linus. Es war zwar Mitten in der Nacht, aber die Beiden würden die Nachricht bestimmt am nächsten Morgen lesen.

Die Informationen aus dem Buch beschäftigten die Studentin sehr. Sie fand einfach keine Ruhe, Res Worte kreisten in ihrem Kopf umher. Als nicht mehr an Schlaf zu denken war, krabbelte sie aus dem Bett und aus ihrem Schrank eine Taschenlampe. Das Licht war sanfter als das der Nachttischlampe, so würden Anna und Ingrid, falls einer von ihnen aufwachte, nicht gestört werden.

Im Bett schlug sie erneut das Tagebuch auf. Vielleicht fand sie noch mehr Informationen über die Tore. Re schrieb, dass er zu Anfang des 16. Jahrhunderts zwei Wächter fand, die mit den Steinen gelber Topas und Karneol. Re war begeistert, denn der Topas war einer der drei Hauptsteine. Nun gab es nur noch zehn zu finden.

Mit der Zeit waren noch der Bergkristall und der Lapislazuli zu ihnen gestoßen.

Die Sucher hatten die gesamte Welt bereist, waren jeder Spur nachgegangen und jedem Gemunkel, um die restlichen Wächter zu finden. In einem späteren Tagebuch hatte Re geschrieben, dass die Enttäuschung über weitere Misserfolge in den Reihen der Sucher immer mehr zunahm. Und auch er selber hatte angefangen an den Erfolg der Sache zu zweifeln. Doch er wollte nicht aufgeben, denn für ihn hatten sich die vier Wächter zu guten Freunden entwickelt. Das große Anwesen in Rom war ein Heim und seine Bewohner eine Familie geworden. Dies alles wollte er nicht verlieren. Cara verstand ihn. Er hatte sich einen Ort zum Leben aufgebaut, dass würde sie ebenfalls nicht hergeben wollen.

September 1527

Die Zwietracht in den Reihen meiner Anhänger nimmt zu. Kaum noch verzeichnen wir Erfolge. Keine neuen Anhaltspunkte über den Aufenthalt weiterer Wächter lassen sich finden. Ein paar Sucher haben mich bereits verlassen. Es schmerzt mich.

Auch wenn ich von anderen umgeben bin, so bin ich dennoch alleine. Meine eigene Suche nach anderen wie mir, weiteren Reinkarnationen, trägt keine Früchte. Wenn ich wiedergeboren wurde, dann müssen es andere auch sein. Da dieser Körper in Statur und Aussehen meinem damaligen ähnelt, müsste es bei den anderen ebenfalls so sein. Ich müsste sie erkennen, wenn ich sie sehe. Wie viel Zeit wird noch vergehen, bis ich einen von ihn Treffe?

Nur Edoardo habe ich von meiner Suche erzählt. Ihm vertraue ich. Dennoch hat er sich in letzter Zeit verändert. Er verschwindet immer häufiger zur späten Stunde. Er verschweigt etwas. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihn zur Rede zu stellen.

Cara stutzte. Dies war der letzte Eintrag, die folgenden Seiten waren leer. Die letzten Tagebücher waren immer bis zum letzten Blatt beschrieben worden, doch nun endete es einfach. Leise zog sie die Kiste hervor. Es gab keine weiteren Tagebücher mehr, nur noch ein paar lederne Mappen. Die Studentin zog die erste heraus. Diese war abgenutzt, das Band, welches die Mappe verschloss, war porös und löste sich bei der kleinsten Berührung, beinahe auf. Das dunkelbraune Leder war ganz rissig und abgegriffen. Vorsichtig öffnete Cara sie. Lose Blätter fielen in ihren Schoss. Das Papier war schwer und sah edel aus, war aber an den Rändern bereits sehr vergilbt. Die junge Frau überflog die Seiten. Größtenteils waren es Protokolle und Berichte. Das älteste Blatt war im Oktober 1527 verfasst worden. Der Bericht erzählte von einer Verfolgung eines geflohen Mannes. Der Name von ihm wurde nicht genannt, er wurde immer nur als der Topas bezeichnet. Cara vermutete, dass es sich bei ihm um den Wächter handelte, Nates Vorfahren. Doch von wo war er geflohen? Einige Worte sprangen sogleich in ihr Auge. Sie standen weiter Unten am Ende. Derjenige, der dies geschrieben hatte, war Adjutant in der Loge der Wächterjäger.

Die Wächterjäger – sie waren es, die auch Linus' Eltern ermordet hatten. Niemals hätte sie gedacht, dass es diesen Geheimbund schon seit so geraumer Zeit gab. Bisher hatte sie vermutet, dass sie erst im letzten Jahrhundert entstanden sind. Doch wenn sie wirklich so alt waren, dann musste ihr Einfluss gewaltig sein. Cara hatte Angst. Was war, wenn sie eines Tages den Weg zur Akademie finden würden. Schließlich waren sie hinter den Steinen her und hier waren einige von ihnen. Wenn sie nicht vor dem Mord an den Eltern von Linus Halt gemacht haben, würde diese Loge auch ihre Freunde ohne zu Zögern umbringen. Sie hoffte sehr, dass dies nie geschehen würde.

Cara bemerkte einen zusammengefalteten Zettel, der hinter dem Bericht angeheftet war. In dem Text des Adjutanten stand, dass sie diesen in dem Versteck des Topases gefunden hatten, nachdem dieser übereilt geflohen war und alles zurück gelassen hatte. Mit zitternden Fingern faltete die Studentin den Zettel auseinander und fand einen Brief vor.

Meine geliebte Schwester,

dies ist der letzte Brief den ich dir schreiben werde. Ich bin auf der Flucht und werde weit ab von den Orten die ich kenne ein neues Leben beginnen. Die Männer, welche hinter mir her sind, wollen meinen Tod. Sie schrecken vor nichts zurück, um ihr Ziel zu erreichen.

Ich habe dir doch von Aarón erzählt, die Reinkarnation des ägyptischen Sonnengottes Re. Er ist mir ein guter Freund geworden. Er und seine Anhänger suchten nach den Wächtern. Ich bin einer von ihnen. Du erinnerst dich doch noch an den gelben Topas, den ich von Vater bekommen habe, als ich das Mannesalter erreichte. Dies ist einer der zwölf Wächtersteine. Sie öffnen ein Tor, welches die göttlichen Kräfte verschließt. Re will diese öffnen und mit seiner wiedergewonnen Kraft die Welt vor seiner völligen Zerstörung retten. Ich habe an ihn und die Sache geglaubt. Und auch andere taten das. Mit mir zusammen waren noch andere Wächter da, drei andere.

Doch nun hat sich alles verändert. Vor zwei Tagen brach das Chaos aus. Res Rechte Hand verriet ihn. Edoardo, so sein Name, hatte einige der Sucher um sich geschart. Sie sind der Meinung, dass es gar nicht so gut wäre, die Tore zu öffnen und den Göttern ihre Kraft zurückgeben. Sie wollen nicht, dass diese die Welt regieren, viel mehr wollen sie es selber. In Mitten der Nacht kamen sie und zogen uns Wächter aus den Betten. Du musst wissen, liebe Schwester, nur die Steine alleine reichen nicht zum Öffnen der Tore, auch Wächter müssen anwesend sein. Ohne ihre Kräfte sind die Reinkarnationen harmlos, die wahre Bedrohung sind wir. Ich musste mit ansehen, wie die anderen drei gemeuchelt wurden. Ohne Re wäre auch ich jetzt tot. Er ging dazwischen und versuchte Edoardo aufzuhalten. Mein Freund fand den Tod, indem er mich beschützte. Durch sein Opfer schaffte ich es mit den Wächtersteinen der anderen zu entkommen. Re war ein großer Mann, ich werde ihm auf ewig dankbar sein und ihn ehren. Vielleicht kommt der Tag, an dem er wiedergeboren wird und ich will dafür sorgen, dass sein Vorhaben bis dahin nicht gescheitert ist.

Meine Bitte an dich, Schwester: Nimm deine Familie und zieh dich aufs Land zurück. Zwar bin ich es, der die Steine hat und der ihnen eher was nützt, aber ich will nicht, dass sie euch gegen mich verwenden können. Edoardo führt die Sucher nun an, die sich nun »Wächterjäger« nennen. Leugne bei den Nachbarn und Freunden, dass du einen Bruder hast. Verwischt eure Spuren, dann solltet ihr in Sicherheit sein.

Ich will nicht schlecht über einen Toten reden, doch hätte Christoph Kolumbus vor 35 Jahren nicht unsere Heimatwelt gefunden, so wäre ich den Suchern noch lange verborgen geblieben. Re hat viel über ihn gesprochen. Kolumbus selbst gehörte zu den Suchern. Seine ganzen Expeditionen unternahm er, um uns zu finden. Er starb, bevor er einen Wächter fand, doch die nächsten, die seiner Route folgten, stießen auf mich.

Nun muss ich mich mit meinem Schicksal abfinden. Lebwohl, geliebte Schwester. Auf das dich dieser Brief erreichen möge.

Dein Bruder Inyan

Cara starrte nur noch auf den Brief und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Re war tot, ermordet von seinem engsten Vertrauten. Einer der größten Entdecker der Geschichte gehörte zu seinen Anhängern. Christoph Kolumbus – kaum zu glauben, dass er einer der Sucher war. Dadurch begreift man erst, wie weitreichend Res Unternehmung war.

Die Studentin hielt es nicht mehr im Bett aus. Sie sprang auf und fing an vor dem Fenster auf und ab zu tigern. Obwohl sie keine einzige Sekunde geschlafen hatte, war sie hell war und keinesfalls erschöpft. Sie wollte einfach nur, dass der nächste Morgen herein brach und sie zu ihren Freunden laufen konnte. Sie musste ihnen einfach von allem erzählen. Wie lange hatten sie nach Antworten auf unzählige Fragen gesucht und nun waren sie da, lagen vor ihr und gaben alles preis was sie wollten. Sie warf einen Blick auf den Wecker. 5:48 Uhr. Lange würde es nicht dauern, bis die anderen aufstanden. Um acht Uhr würde die erste Vorlesung beginnen. Also zog Cara sich schon einmal an und suchte ihre Sachen zusammen. Den Bericht mit dem Brief, sowie einige Tagebücher packte sie ebenfalls ein. Mit diesen Beweisen konnten die anderen gar nicht anders als ihr zu glauben.

Auch wenn es noch recht früh war, verließ sie das Zimmer. Sie ging zur Mensa, um dort ein ordentliches Frühstück einzunehmen. Sie war dort die Erste, die Behälter waren alle noch unberührt. Sie nahm sich etwas von dem Naturjoghurt und mischte diesen mit Müsli und frischen Obst. Einen Platz musste sie auch dieses Mal nicht erst suchen, da ja noch alles frei war. Nachdem sie sich ein paar Löffel in den Mund geschoben hatte, vibrierte ihr Handy in der Tasche. Es gab keinen Ton von sich, da sie vermeiden wollte, dass es in der Vorlesung klingelte. Linus hatte ihr geschrieben. Drei Worte, hatte er ihr zurück gesandt: »Bin gleich da!«

Zufrieden leerte sie die Schüssel und ging noch einmal zur Theke zurück, um sich einen Kaffee mitzunehmen, den sie während der Wartezeit trinken konnte. Da ihr der bittere Geschmack vom schwarzen Kaffee nicht sehr schmeckte, schenkte sie sich ordentlich Milch ein und süßte es mit Zucker. Normalerweise nahm sie sich meistens einen Cappuccino, doch da sie nicht geschlafen hatte, war der Koffein-Kick von Nöten. Sie bezahlte und machte sich dann auf den Weg, um die Mensa zu verlassen. Sie nahm sich vor, am Tor zu warten, dort wo Linus meistens sein Motorrad abstellte.

Gedankenverloren trat sie aus dem Gebäude und stieß plötzlich mit jemanden zusammen. So gerade eben konnte sie verhindern, dass der Kaffee auf der Kleidung der anderen Person verschüttet wurde. Stattdessen schwappte das heiße Getränk auf ihre Hand und verbrannte ihre Haut. Vor Schreck ließ sie den Becher fallen, sodass der gepflasterte Weg von brauner Flüssigkeit bedeckt wurde. Langsam beobachtete sie, wie das Getränk in den Rillen versickerte. Beschämt bemerkte sie, dass die edel aussehenden, schwarzen Schuhe ihres Gegenübers einige Spritzer abbekommen hatten.

»Oh nein! Es tut mir so leid!« Eilig kramte sie in ihrer Umhängetasche, auf der Suche nach einer Packung Taschentücher.

»Lassen Sie es gut sein, Miss Jackson«, sagte eine dunkle, tiefe Stimme.

Cara schaute auf und zuckte zusammen, als sie die braunen Augen sah, die durch die eckige Brille auf sie herab starrten. So nah war sie Raphael Freyer noch nie gewesen. Er war ein imposanter man, der sich in seiner vollen Größe vor ihr aufbaute und sie um einige Zentimeter überragte. Eigentlich hatte sie sich bis jetzt immer groß gefühlt, jedenfalls normal, so wie viele andere auch. Doch nun vor dem Dekan fühlte sie sich ganz klein. Er strahlte Macht aus und irgendetwas an ihm wirkte bedrohlich, mag es sein stechender Blick sein oder seine markanten Gesichtszüge. So von nahem gesehen, ähnelte er Milan kaum, der auf sie viel freundlicher wirkte. Instinktiv wich sie ein paar Schritte vor ihm zurück.

»Guten Morgen, Professor Freyer«, begrüßte sie ihn höflich und versuchte ihm dabei nicht in die Augen zu schauen.

»Wie erfreulich, dass ich dich mal antreffe, Cara. Ich habe bereits viel von dir gehört.«

Alles in ihrem Körper verkrampfte sich. Sie musste sich vor diesen Mann sehr in Acht nehmen, schließlich wusste er so einiges über sie, besonders über die Sache mit Bastet. Er leitete das Institut, sorgte dafür, dass Experimente an den Reinkarnationen durchgeführt wurden. Es würde niemanden wundern, wenn sie ihn hassen würde, aber sie war mehr verängstigt und von Respekt erfüllt, als dass sie was anderes für ihn empfinden konnte.

»Ich bin mit ihren Leistungen in den Prüfungen sehr zufrieden«, sprach er weiter. »Sie sind eine wahre Bereicherung für unsere Akademie.« Raphael Freyer legte seine Hand auf ihre Schulter.

Cara erschauderte, ließ es sich aber nicht anmerken, sondern ließ ihn einfach gewähren. Auf keinen Fall wollte sie nun eine falsche Bewegung machen und etwas tun, was dem Direktor missfiel. Von ihm hing ihr Leben an diesem Ort ab. Ob sie bleiben konnte entschied alleine er.

»Vielen Dank«, gab sie ihm zögerlich zurück.

Der Mann lächelte ihr zu und verabschiedete sich dann von ihr. Er ging Richtung Hauptgebäude, in dem auch sein Büro lag.

Endlich konnte die Studentin wieder aufatmen. Eine solche Begegnung wollte sie in nächster Zeit nicht noch einmal erleben.

»Cara!«, rief jemand.

Erstaunt schaute sie sich um und sah mit großer Freude, wie Heather und Linus vom Wohnheim über die Wiese zu ihr gelaufen kamen. Ein wenig verwirrt war sie schon, als die blonde Studentin auf sie zustürmte und sie fest umarmte. Sie verhielt sich so, als ob es die letzten Wochen überhaupt nicht gegeben hätte, in denen sie ihr aus dem Weg gegangen war.

»Geht es dir gut? Hat er dich bedroht? Bist du verletzt?« Heather redete so schnell, dass man sie kaum verstand. Doch Cara war nur froh, dass sie überhaupt etwas sagte.

»Wer soll mich bedroht haben?«, fragte sie.

»Na, der Freyer«, meldete sich Linus zu Wort.

Konfus schaute Cara ihn an. Sie verstand nicht so richtig was hier los war und was die ganze Aufregung zu bedeuten hatte. »Wieso sollte Professor Feyer mir drohen?«

Ihr entgingen die besorgten Blicke nicht, die Heather und Linus sich zuwarfen.

»Nun sagt mir endlich, was los ist.«

Die blonde Frau schaute betreten zu Boden. Sie zögerte noch, ihr die Wahrheit zu sagen. »Freyer will, dass ich ihm alle Steine bringe.« Heather knabberte auf ihrer Unterlippe herum. Diese Worte allein schien sie schwer über die Lippen zu bringen, doch die kommenden sollten noch unangenehmer werden. »Er hat mir ... nein, eher dir gedroht. Wenn ich es nicht tue, sorgt er dafür, dass du deinen Studienplatz verlierst. Deswegen bin ich dir aus dem Weg gegangen. Ihm ist alles zuzutrauen, wer weiß, auf welche Ideen er noch kommt. Ich dachte, wenn ich mich von dir fernhalte, würde er diesen Plan bald verwerfen. Aber da er gerade mit dir gesprochen hat, hält er daran noch fest. Das soll mir wohl noch eine Ermahnung sein.«

»Aber wir haben doch nur Smalltalk betrieben.« Cara beobachtete die grau-blauen Augen ihrer Freundin, die so traurig wirken, als ob alles um sie herum zusammenbrach. Mit nur einem Schritt hatte sie die Arme um Heathers Hals geschlungen und drückte sie fest an sich. »Danke! Doch du brauchst mich nicht mehr beschützen. Ich bin stark geworden. Die, die Schutz braucht bist du. Dein Leben ist viel mehr in Gefahr als meines«, flüsterte sie in ihr Ohr.

Im ersten Moment erwiderte Heather die Umarmung, schob sie aber dann von sich. Durchdringend schaute sie sie an. »Wieso ist mein Leben in Gefahr?«

»Der von euch allen, Nates und eure beiden. Darüber wollte ich mit euch sprechen. Ich habe in der letzten Nacht die Tagebücher von Re durchforstet.«

Heather wirkte nicht überrascht von den Tagebüchern zu hören. Wahrscheinlich hatte Linus davon erzählt. Doch seit wann trafen sich die beiden? Schließlich hatte Linus von Freyers Drohung gewusst. Sie machte sich keine großen Gedanken darüber, er war oft hier auf dem Campus gewesen. Da sind sie sich bestimmt begegnet und haben miteinander geredet. Die blonde Studentin ist ja nur ihr aus dem Weg gegangen und nicht den anderen Wächtern. Diese Gemeinsamkeit verband die beiden ebenfalls. Vielleicht war es auch gut, wenn Linus auch mal mit anderen gesehen wurde und nicht nur immer mit ihr. Sie wollte nicht, dass Jade wieder eifersüchtig wurde. Da fiel ihr ein, dass sie ihm noch erzählen musste, dass sie nun in einer Beziehung war. Er sollte sich keinerlei Hoffnung mehr machen. Aber der jetzige Zeitpunkt war nicht der richtige. Dies mussten sie ein anderes Mal besprechen. Andere Sachen waren nun wichtiger.

»Falls Freyer alle Steine in die Hände bekommen sollte, so müssen alle drei Hauptwächter zum Öffnen des Tores da sein. Wenn nur einer von euch es öffnet, stirbt er.«

»Sterben?«, fragte Linus verwirrt. »Du meinst so richtig tot!«

»Ja. Ich weiß aber nicht warum und wieso. Davon hat Re nichts geschrieben.«

»Noch hat er die Steine nicht. Und ich bezweifle, dass Nate noch einmal herkommen wird. Er ist von diesem ganzen Ort hier nicht gerade begeistert«, meinte Heather.

Cara seufzte. »Das ist aber noch nicht alles. Eine Gruppierung von Wächterjägern ist ebenfalls hinter den Steinen her.«

»Die, die meine Eltern ermordet haben!« Linus verkrampfte seine Hände. Seine Wut war deutlich spürbar. Er tat ihr leid, doch sie konnte nichts daran ändern.

»Und die, denen ich in Rom begegnet bin. Sie haben Nate und mich verfolgt.«

Die Stipendiatin war verwirrt. »Bitte ... was?« Wann war ihr Freundin in Rom gewesen? Vermutlich in den Semesterferien. Es war wirklich an der Zeit, dass sie sich aussprachen und über alles redeten, was in letzter Zeit passiert war. Viel hatte Heather wahrscheinlich schon von Linus erfahren, aber sie wusste über deren Tätigkeiten so gut wie nichts.

Auch Heather wollte in Ruhe reden, also beschlossen sie, einen ruhigen Ort zu finden, wo sie sich unterhalten konnten. Der Austausch von Informationen würde bestimmt etwas Licht in das ganze Durcheinander bringen. Wenn sie Klarheit hatte, würde sie wohl auch wieder Schlafen können und nicht mehr von Albträumen verfolgt werden. Cara betete schon lange dafür, dass bald alles enden würde, vorausgesetzt es nahm ein gutes Ende. Doch das würde erst die Zeit zeigen. Nun war es erstmal wichtig herauszufinden, was Raphael Freyers Hauptplan war, dadrin waren sich alle einig.

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