Sechzehn (1) - Rückkehr


Heather hatte sich auf dem Gelände der Akademie lange nicht blicken lassen und wollte nichts sehnlicher, als sicher in ihrem Zimmer verschwinden. Ohne dass sie jemand sah, besonders Cara sollte sie nicht entdecken. Nachdem sie ihre Freundin wochenlang gemieden, ihre Anrufe ignoriert und nicht auf die zahllosen Nachrichten geantwortet hatte, wollte sie jedem möglichen Gespräch aus dem Weg gehen. Bevor sie nicht sicher war, dass Freyer seinen Willen bekommen hatte und Cara in Ruhe lassen würde, interessierte sie sich für nichts anderes.

Doch sie plante Milan nicht mit ein, der wie immer alle Aufmerksamkeit auf sich lenkte und sich auch nicht zu schade war, seinen Arm um sie zu legen. Einerseits fühlte sie sich geschmeichelt, dass er allen zeigte, was er für sie empfand. Andererseits spürte sie bereits die bohrenden Blicke der anderen Studentinnen auf sich. Das würde nicht gut ausgehen und eigentlich wollte sie sich jetzt nicht mit sowas auseinandersetzen müssen.

»Milan«, flüsterte sie neben ihm und wand sich unter seinem Arm hindurch in ihre Freiheit. »Ich habe noch etwas zu erledigen. Allein.«

Er schaute sie fragend an und beugte sich zu ihr herab, während er seinen freien Arm um ihre Taille schlang. Nun konnte sie nicht mehr fliehen und ließ sich einen Kuss auf die Wangen drücken. Die Menge um sie herum keuchte auf und ein Rauschen an Gemurmel erfasste die Studentin.

»Ruf mich an«, neckte Milan sie und schob sie durch die anderen.

Endlich in ruhiger Umgebung, machte sie sich rasch auf den Weg in ihr Zimmer. Das Wohnheim bot ihr etwas Schutz, aber sie fühlte sich immer noch nicht sicher. Als würden Augen auf ihr ruhen und ihr folgen.

»Hey!«, eine fremde Studentin kam auf sie zu, zwei weitere im Schlepptau. Sie sahen normal aus, stammten aus einem guten Haushalt und doch war da eine gewisse Biestigkeit, die auch hübsche Kleider nicht wettmachen konnten. »Warte mal, Heather«, sie betonte ihren Namen komisch, zog die Vokale extra lang. »Wir würden gerne mit dir reden.«

»Wirklich?«, hakte die Blonde nach, obgleich ihr bewusst war, worüber die kleine Gruppe mit ihr sprechen wollte. »Ist das so?«

»Oh ja«, erwiderte die andere und schnitt ihr den Weg ab. »Was war das da eben?«

»Was denn?«

»Na das mit Milan Freyer!«, keifte sie beinahe und Heather wich zurück, wurde jedoch von deren Freundinnen gestoppt. »Ich denke, wir sollten dir eine kleine Lektion erteilen. Oder überlässt du uns Milan lieber kampflos?«

Heather schnaubte und schubste eines der Mädchen hinter sich zur Seite, um aus dem Wohnhaus zu kommen. Doch dünne, erstaunlich starke Finger legten sich um ihren Oberarm und drückten fest zu. Auf dem Absatz machte sie kehrt und sogleich ging die flache Hand der anderen Studentin auf sie nieder. Das laute Klatschen auf ihrer Wange hallte einen Moment in dem großen Raum wider, dann war es still. Entsetzt starrte Heather ihr Gegenüber an.

»Wow«, erwiderte sie auf die Ohrfeige. »Das ist ja mal eine richtig neue Reaktion mit einem imaginären Korb umzugehen. Touché, da hast du es mir gegeben.«

Wohl wissend, dass die ganze Situation jetzt eskalieren würde, konnte Heather nicht anders auf diese Drohung reagieren. Was fiel diesen Frauen ein? Milan hatte sich nun mal entschieden und da würden auch ihre Angriffe nichts dran ändern.

»Du hast keine Ahnung, wie es uns jetzt geht!«, fuhr sie eine der anderen an.

»Seid ihr blöd?«, konterte Heather stumpf und befreite sich endlich aus dem Griff der Studentin, die sie geschlagen hatte. »Was glaubt ihr denn, was ihr mit Milan hattet? Vielleicht denkt ihr zur Abwechslung mal an seine Gefühle und Wünsche. Es könnte nämlich sein, dass er selbst entscheiden möchte, mit wem er sich trifft und wer ihm wichtig ist.«

»Da hat sie gar nicht so Unrecht«, tönte es hinter ihr und Milan erschien. Rasch schob er die Blondine hinter sich. »Sie gehört mir, also husch husch«, dabei machte er eine scheuchende Handbewegung in die Richtung der anderen Studentinnen, dann wandte er sich Heather zu. »Alles klar bei dir?«

»Es wäre besser gewesen, wenn du nicht eingegriffen hättest. So werden sie mich auf ewig hassen und nerven.«

»Das kann ich nicht zulassen«, sagte er und erntete einen besorgten Blick des Mädchens. »Immerhin darf nur ich dich nerven.«

Sie lächelte und schmiegte sich näher an Milan, der verlegen zur Seite blickte. Erst seit seinem Liebesgeständnis am Flughafen erkannte sie, dass er es ernst meinte und sie wirklich gern um sich hatte. Ihr ging es ähnlich, obwohl sie diese Beziehung - die quasi noch in den Kinderschuhen steckte - nicht als Priorität ansah. Es gab eine Angelegenheit, die ihre ganze Aufmerksamkeit benötigte und sie hing mit Milans Vater zusammen. Doch ihm würde sie es verheimlichen, genauso, wie sie Cara nichts erzählte und sich von ihr fern hielt.

»Und nun?«, fragte Milan und hob Heathers Kinn mit dem Finger an, damit er ihr in die Augen schauen konnte. »Wollen wir dann zu dir?«

Prompt boxte sie ihm in den Bauch und schritt zur Treppe des Wohnheimes. Allerdings konnte sie es sich nicht nehmen, einen Blick über die Schulter und herunter zu ihrem Freund zu werfen, der gespielt traurig zu ihr sah. Sie schenkte ihm einen Luftkuss und trabte die Stufen hinauf. Immer ein Ziel nach dem anderen abarbeiten, sagte sie zu sich selbst. Raphael Freyer wartete auf sie und die Wächtersteine.

In ihrem Zimmer legte sie sich die Steine, die Nate und sie gefunden haben, zurecht. Die Steine zum Erden- und Himmelstor waren komplett, während ihr zwei Wächtersteine zum Tor der Unterwelt fehlten. Linus besaß einen, den er seit seiner Geburt bei sich trug, aber wie sollte sie an diesen herankommen? Und war es überhaupt eine gute Idee, Raphael Freyer alle Steine zu geben?

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und drückte den Handrücken gegen ihre Stirn. Würde sie Raphaels Befehlen nicht nachkommen, könnte er Cara ins Visier nehmen oder schlimmer, all ihre bisherigen Informationen über die Reinkarnationen und Wächter herausfinden. Soweit Heather wusste, fehlten dem Mann noch ein paar Puzzleteile zum großen Ganzen. Ihr Bauch rumorte bei der Vorstellung, dass sie ihm in wenigen Minuten gegenüber stehen würde.

Mit Bauchschmerzen sammelte sie die Steine ein und machte sich auf den Weg zum Institut. Die Sonne stand hoch am Himmel, aber ihre Wärme erreichte die junge Frau nicht. Stattdessen blendete ihr Licht sie nur. Hin und wieder beäugten die Studenten sie eigenartig, wahrscheinlich weil sie sich anmaßte, dem Glaskasten näher als 100 Meter zu kommen. Sie biss sich auf die Unterlippe und lief unbeirrt weiter, doch einige bekannte Gesichter ließen sie zusammenzucken. Bianca, Elias und Julie kamen aus dem Institut und ihr entgegen. Die hell gefärbten Haare ihrer alten Freundin waren bereits heraus gewachsen, sodass man nun ihren dunkleren Ansatz erkannte.

»Heather!«, begrüßte Bianca sie sogleich und fiel ihr um den Hals. »Du wirst nicht glauben, was mir passiert ist!«, sie redete einfach weiter, ohne auf die Übrigen zu achten. »Ich bin zusammengebrochen, habe seltsame Sachen geträumt und bin dann in einem Krankenbett aufgewacht. Das musst du dir mal vorstellen, in so einem alten weißen Kittel, aber das ist nicht alles. Ich bin nämlich eine Göttin!«

»Die Reinkarnation einer Göttin«, verbesserte Elias sie und senkte die Stimme. »Außerdem sollen wir das nicht überall herumerzählen, zumal ...«, er betrachtete Heather und schien festzustellen, dass sie wenig überrascht war. »... uns das keiner glauben würde«, es klang wie eine Frage, er räusperte sich und nahm die blonde Studentin zur Seite. »Du weißt davon?«

»Nicht viel«, log sie und verzog keine Miene. Elias wirkte misstrauisch und musterte Heather. Sie verlagerte ihr Gewicht von der einen auf die andere Seite und fühl sich unwohl. Vielleicht weil sie sich eine Weile lang nicht mehr gesehen hatten? Aber er verhielt sich anders, distanziert. Julie sagte gar nichts, schaute nur zu ihrem Bruder. »Ich habe einen Termin bei Herrn Freyer, also könnten wir uns später unterhalten?«

Auch wenn sie es nicht offen zeigte, die Tatsache, dass auch Bianca eine Reinkarnation war, schockierte sie zutiefst. Eine wirkliche Erklärung für das Auftauchen dieser vielen Reinkarnationen ägyptischer Gottheiten hatten sie noch nicht finden können. Außerdem störte es sie innerlich, dass immer mehr der Studenten dazugehörten. Milan, Jade, Cara, Elias, Julie und nun auch noch Bianca. Das konnte kein Zufall sein. Wieso versammelten sie sich hier? Oder die bessere Frage sollte lauten. Wer versammelte sie hier?

Das Innere des Institutes wirkte so ruhig und steril. Als würde niemals ein Mensch die Gänge oder den Aufzug benutzen. Etwas tief in ihrem Herzen, ihrem Geist weigerte sich weiter zu gehen. Eine unheimliche Welle erfasste das Mädchen, sobald sie den Fahrstuhl verließ. Sie wollte keinen weiteren Schritt zu seinem Büro machen und verfluchte sich, Milan nicht um Hilfe gebeten zu haben. Doch wie hätte er sich entschieden? Sein Vater war alles, was ihm an Familie geblieben war.

Zitternd legte sie eine Hand auf die Türklinke, mit der anderen klopfte sie sachte gegen das Holz. Die schrille und viel zu freundliche Stimme seiner Sekretärin drang gedämpft zu ihr durch und bat sie herein. Ein- und ausatmen, befahl sie sich und überwand die Türschwelle, schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf einen der Stühle an der Wand.

»Einen Augenblick«, hatte die Frau ihr gesagt. »Sie können gleich zu Herrn Freyer.«

Unbewusst spielte Heather mit ihren Haaren und knabberte an ihrer Unterlippe, sodass diese aufplatzte und sie den metallischen Geschmack ihres Blutes im Mund hatte. Keine Verbesserung ihrer Situation. Ihre Angst würde er merken und für sich nutzen. Sie durfte ihm keine Gelegenheit geben, sie noch weiter auszunutzen und ihre Freunde zu bedrohen.

»Miss McCarthy, Sie können jetzt rein gehen, er erwartet Sie.«

Sein Büro war dunkel. Finster, wenn man es genau nahm. Heather fühlte sich auf Anhieb unwillkommen und ihr lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Am liebsten wäre sie umgekehrt, aber Raphael Freyer hatte sie bereits gesehen und würde ohnehin nicht locker lassen, bis sie ihm die Wächtersteine gebracht hätte.

Allerdings sagte er eine lange Zeit nichts zu ihr, wies ihr lediglich einen Stuhl zu und ließ sie Platz nehmen. Dachte die junge Frau vor wenigen Sekunden noch, dass dieser Raum unmöglich noch kälter wirken konnte, dann hatte dieser Mann sie eines Besseren belehrt. Die Stille kratzte an ihren Nerven, schabte jeden Funken an Selbstbeherrschung und Ruhe von ihrer Seele. Sie bemerkte nicht einmal, wie sie ihre Fingernägel in die Lehne des Stuhles bohrte, erst als Freyers Blick auf sie fiel.

»Und?«, richtete er endlich ein Wort an sie - besser gesagt eine Frage. »Was kannst du mir vorzeigen?«

Ihr Kreuz begradigte sich in dem Moment, in dem seine Stimme den tot scheinenden Raum erfüllte. Stark und tief drang sie ohne Widerstand zu ihr. Zweifelnd nahm sie die Edelsteine aus ihrer Tasche, behielt sie jedoch in ihrer Hand und zeigte sie ihm. Der Mann wirkte überrascht, wollte ihr Zögern nicht wahrhaben und baute sich vor ihr auf.

»Gib sie mir«, befahl er beinahe und deutete auf seinen massiven Schreibtisch zwischen ihnen.

Heather gehorchte und breitete die Wächtersteine, die sie mit Mühe gesammelt und verteidigt hatte, auf der Tischplatte aus. Jede Faser ihres Körpers weigerte sich, aber sie hatte keine Wahl. Mit Freyer ließ sich nicht verhandeln und er würde keine Ruhe geben, eher er hatte, was er wollte.

»Es sind nur neun«, merkte er an und suchte wieder ihren Blick. »Wo ist der Rest und was ist mit deinem Perlmutt?«

Die Studentin knirschte mit den Zähnen und hob ihre Haare an, um die Kette von ihrem Hals zu lösen. Ihr war bewusst, dass er sich nicht hätte reinlegen lassen, dass er nach ihrem Familienstein gefragt hätte und dennoch schien der Versuch es wert gewesen zu sein. Den Perlmutt abzugeben, brach ihr fast das Herz.

»Und die anderen zwei?«, hakte er weiter nach und betrachtete ihren Wächterstein. Zwischen seinen großen Händen verschwand er, ertrank in der Dunkelheit, die ihn umgab.

»Ich konnte nur zehn finden«, entgegnete sie unterwürfig.

»Nein!«, brüllte er und fegte mit einer Hand über den Schreibtisch, sodass die Ordner darauf zu Boden krachten. »Ich habe dir eine einfache Aufgabe gegeben und du enttäuscht mich? Du weißt hoffentlich noch, was auf dem Spiel steht?«

»Natürlich, aber ich konnte sie nicht alle finden. Es tut mir leid.«

Offensichtlich war er mit ihrer Entschuldigung nicht zufrieden und stürmte auf sie zu. Heather sprang auf, wollte zur Tür rennen und fliehen, aber er packte sie an der Schulter und riss sie herum. Nun schaute sie ihm direkt ins Gesicht, das von Wut und Frust gezeichnet war.

»Ich muss dieses verdammte Tor öffnen«, sagte er mehr zu sich selbst als zu dem Mädchen. »Ich muss! Zwei Steine müssen doch aufzufinden sein. Was brauchst du, um sie zu finden?«, wand er sich an sie, die Augen weit aufgerissen. »Ich gebe dir alles, was du benötigst.«

»Ich ... Ich kann sie nicht finden. Diese zehn Wächtersteine haben mich Zeit, Kraft und noch vieles mehr gekostet. Ich bitte Sie, das ist alles, was ich Ihnen geben kann. Ich habe getan, was Sie von mir wollten, aber der Rest ... Es gibt sie nicht.«

»Kein Wächter dieser Welt würde seinen Stein vernichten. Sie sind irgendwo, die Frage ist nur wo.«

Sollte sie ihm von den Verfolgern erzählen, die Nate und ihr solche Schwierigkeiten bereitet hatten? Vielleicht würde er seine Aufmerksamkeit dann auf jemand anderen lenken. Damit wären Nate, Linus und sie selbst erst einmal aus seinem Fokus.

»Das wird Konsequenzen nach sich ziehen«, knurrte er von neuem. »Du bist noch nicht fertig, junge Dame. Bis ich nicht alle Steine beisammen habe, wird deine Freundin Cara Jackson es nicht leichter haben.«

»Was meinen Sie damit?«

»Das Stipendium kann ihr ganz schnell entzogen werden. Oder schlimmer, sie könnte zu Schaden kommen.«

Heather blies die Luft scharf zwischen ihren Lippen hindurch. Verzweiflung war ein gefährliches Pflaster und wenn dieser imposante Mann verzweifelt war, bedeutete jede noch so kleine Drohung den Untergang für jemanden, der ihr nahe stand. Sie konnte ihm nicht kontern, ohne jemanden in Gefahr zu bringen und würde das Risiko nicht auf sich nehmen. Resignierend nickte sie, ließ die Schultern hängen und schaute hoffnungsvoll zum Schreibtisch, auf dem die Wächtersteine lagen.

»Du kannst deinen wiederhaben, sobald du mir die restlichen Steine gebracht hast. Für einen befristetet Zeitraum versteht sich. Öffne das Tor, dann wird deiner Freundin und dir nicht geschehen.«

Die frische Luft minderte ihren Verlust nur geringfügig, wenn überhaupt klärte sie ihre Gedanken. Die Tür zum Institut fiel hinter ihr ins Schloss. Ein unbefriedigendes Gefühl nach allem, was sie auf sich genommen hatte, breitete sich in ihr aus. Wieder spürte sie, wie hilflos sie war. Ohne Nate, der an ihrer Seite kämpfte. Wie hätte Milan wohl auf seinen Vater reagiert? Sie konnte und durfte ihm nichts erzählen, obwohl sie sich so gern an jemanden wenden würde. Cara, schoss es ihr durch den Kopf. Sie kam auch nicht in Frage. Freyers Drohungen waren zu ernst, als dass sie sich auch nur eine falsche Entscheidung erlauben könnte. Nein, sie musste es allein schaffen. Doch mit was für einem Ergebnis? Fände sie die letzten Steine nicht, könnte Raphael Freyer völlig durchdrehen. Bekäme er sie alle, müsste sie die Tore öffnen und dann? Keiner wusste, was für Auswirkungen das Öffnen der Tore hätte. Sicherlich gab es einen guten Grund, warum sie verschlossen waren und nur mit den zwölf Wächtersteinen geöffnet werden konnten.

Auf dem Weg zu ihrem Wohnhaus, wo sie sich nach der Reise und dem unangenehmen Gespräch erholen wollte, lungerte Linus auf einer der Bänke vor der Grünanlage herum. Als er Heather sah, grüßte er sie und nun fühlte sie sich verpflichtet, mit ihm zumindest eine kurze Unterhaltung zu führen.

»Hast du Cara irgendwo gesehen?«, war seine erste Frage und die Studentin schüttelte nur den Kopf, spürte einen stechenden Schmerz in der Magengegend. Plötzlich starrte er sie wortlos an, öffnete den Mund und schloss ihn sofort wieder. Heather schaute ihn fragend an und endlich rückte er mit der Sprache heraus. »Du ... siehst gar nicht mal so gut aus.«

»Danke, sehr freundlich.«

»Nein, nein! Ich wollte nicht unhöflich sein!«, korrigierte er sich hektisch. »Was ist los? Du warst 'ne Weile nicht hier, oder? Cara sagte, dass sie dich nicht erreichen konnte.«

»Ja, das stimmt.«

»Das ist alles?«, er schaute sie schräg von der Seite an, musterte sie genauer. »Irgendetwas stimmt doch nicht. Cara spricht nie schlecht von dir, nennt dich ihre Freundin und du nimmst nicht einmal ihren Anruf an oder beantwortest ihre Nachrichten?«

Heather schluckte schwer und spürte, wie sich ihr Magen augenblicklich verkrampfte. Sicher hatte sie Cara nicht richtig behandelt und fühlte sich deshalb schon die ganze Zeit schlecht, aber es ging nicht anders.

»Zu ihrer Sicherheit«, rutschte ihr in Gedanken raus und sie hielt sich eine Hand vor den Mund.

»Wie bitte?«

»Nichts«, sie versuchte an Linus vorbei zu kommen, doch er versperrte ihr den Weg.

»Zu ihrer Sicherheit?«, wiederholte er und zog eine Augenbraue kraus. »Zu Caras Sicherheit?« Die Studentin nickte nur. »Wieso? Ist sie in Gefahr?«

»Bis jetzt noch nicht«, Heather deutete mit einem Kopfnicken auf das Institut. »Wenn wir das schon bereden müssen, dann besser an einem anderen Ort. Komm mit«, sie wusste, dass sie Linus niemals loswerden würde. Nicht nachdem er Caras Namen in diesem doch recht zwielichtig wirkenden Zusammenhang und verübeln konnte sie es ihm nicht. Sie führte ihn den Schatten eines der großen Gebäude. Unruhig ließ er seinen Kiefer knacken und beäugte jede ihrer Bewegungen. »In Ordnung, Klartext«, begann sie und räusperte sich. »Raphael Freyer ist mir auf die Schliche gekommen. Er weiß, dass ich ein Wächter bin und hat mich dazu gezwungen, ihm alle Wächtersteine zu bringen. Falls ich mich weigere, drohte er damit, Cara etwas anzutun.«

»Ach so ...«, er atmete hörbar aus. »Okay, das ergibt schon mehr Sinn ... Aber du kannst ihm unmöglich alle Steine bringen.«

»Richtig. Mindestens einen besitzt du und der andere-«, in diesem Moment fischte er einen tiefschwarzen Opal aus seiner Hosentasche. »Cara und ich haben ihn vor wenigen Tagen gefunden. Nicht nur das. Wir haben erfahren, dass Re einst ebenfalls in einem Menschen reinkarniert wurde. Außerdem«, er machte eine Pause. »Außerdem wurden meine Eltern von einem ... Wächterjäger ermordet.«

»Wächterjäger?«, Heathers Stimme schien ihn zu beunruhigen und sie zog gleichzeitig ihre Schlüsse, wartete nicht auf seine Erklärung. »Nate und ich sind auf unserer Reise komischen Kerlen begegnet, die scheinbar von den Wächtersteinen wussten. Könnten das dann-.«

»Möglich«, unterbrach er sie forsch. »Aber das ist noch nicht alles. Im Untergrund hier in der Nähe erstreckt sich eine Art Labyrinth, das mit Hieroglyphen und Ruinen vollgestopft sein könnte. Eine der Inschriften deutet darauf hin, dass ein Weltentor unter unseren Füßen liegt.«

»Mist!«, fluchte die junge Frau und lief im Kreis umher. Linus war kurz zurückgeschreckt, packte sie dann an der Schulter. »Ich weiß von dem Tor. Freyer will es mit meiner Hilfe und den Steinen öffnen.«

»Das ist viel zu gefährlich!«

»Natürlich ist es das! Aber habe ich eine Wahl?«

Er verstummte, dachte nach und ging dabei in die Hocke. Sachte fuhr er mit dem Zeigefinger über den Opal, den er noch immer festhielt. Der Verlust von Nates und ihrer eigenen Steine schmerzte Heather bei diesem Anblick. Ihr Herz hämmerte aufgeregt gegen ihre Brust. War es eine gute Entscheidung, ihm davon zu erzählen und würde es etwas ändern?

»Ich helfe dir«, verkündete Linus lauter als er wollte. »Wir bringen diesem Freyer meine Steine, dann hat er erstmal, was er will und lässt Cara in Ruhe.«

»Und die Sache mit dem Tor? Hast du das etwa vergessen?«

»Da fällt uns auch noch was ein«, beschwichtigte er sie. »Die Wächterjäger sind mein größeres Problem. Sie wollen uns bestimmt tot sehen, so erbarmungslos, wie meine Eltern umgebracht wurden. Nate und du wurden auch gejagt, oder?«

»Ja und sie sind wirklich nicht sonderlich zimperlich mit uns umgegangen. Jetzt, wo du es so offen sagst, hatten sie vielleicht vor uns zu töten. Aber wie sollen wir sie finden und noch viel wichtiger, was machen wir dann mit ihnen.«

Darauf hatte Linus offensichtlich auch keine Antwort, doch Heather bemerkte, dass er sich nicht abbringen lassen würde. Für ihn bedeutete das eine persönliche Vendetta, zumindest spürte sie seine Wut und die Rachsucht. Langsam schüttelte sie den Kopf, was ihn aufmerksam werden ließ.

»Du willst diese Schweine weitermachen lassen? Uns abschlachten lassen?!«

»Nein«, erwiderte sie ruhig und schritt auf ihn zu. »Allerdings wird das warten müssen. Sobald Freyer die Steine hat, die wir ihm geben, um Cara zu schützen, will er zum Tor. Mit dir oder ohne dich. Ich werde mich nicht drücken können. Vor den Jägern fürchte ich mich gerade am wenigsten«, sturköpfig ballte er die Hände zu Fäusten. »Eine Sache nach der anderen«, mahnte die Studentin ihn und legte ihre Hand auf seine Schulter. »Sollten wir Freyer und seine wahnwitzige Idee, die Tore zu öffnen, überstehen, dann suchen wir die Wächterjäger.«

»Abgemacht«, er hielt ihr seine Hand hin und sie schlug ein. »Dann wollen wir dem Akademie-Leiter mal einen Besuch abstatten.«

Über die unangekündigten Gäste war Raphael Freyer merklich unerfreut. Er saß in seinem Schreibtischstuhl. Vor ihm lagen die Wächtersteine, glänzten in dem gedimmten Licht, während er sie einen nach dem anderen zwischen seinen Fingern bewunderte. Heather empfand Abscheu. Die Art und Weise wie er die Edelsteine berührte, jagte ihr einen Schauer über den Rücken und Linus schien es ähnlich zu ergehen. Sie machte den ersten Schritt auf den imposanten Mann zu, nahm all ihren Mut zusammen und wollte das Wort ergreifen, doch Freyer stoppte sie mit erhobener Hand.

»Ich hatte dich nicht so schnell zurück erwartet«, murrte er und schaute an dem Perlmutt, den er hochhielt, vorbei zu ihr herüber. »Wer ist das?«

»Linus Tebbe«, antwortete er schnell.

»Und? Was möchte er hier? Du studierst hier nicht, richtig?«

»Richtig, aber ich habe einen anderen Grund, hier zu sein«, er griff in seine Hosentasche und holte den Opal hervor. Raphaels Augen weiteten sich sogleich. Als Linus noch seinen Achat zeigte, war bei dem erwachsenden Mann eine Verzückung zu erkennen, die die Studentin bisher nur bei Kindern gesehen hatte.

»Sehr schön!«, brach es aus ihm heraus. »Heather McCarthy, du bist deiner Verpflichtung nachgekommen, was mich jedoch zu einer weiteren Frage bringt. Wenn du einen weiteren Wächter kennst, was ist mit dem dritten?«

»Ich ... bin nur Linus über den Weg gelaufen«, log sie. »Von einem weiteren-.«

»Ruhe! Sucht ihn, den dritten Wächter. Ich will dieses Tor öffnen und du kannst mir nicht weiß machen wollen, dass du nichts von ihm in Erfahrung bringen konntest. Immerhin hattest du seine Steine bei dir und ich vage zu bezweifeln, dass er sich so einfach davon trennen ließ.«

Beide schwiegen, während Raphael aufgebracht im Zimmer auf und ab lief. Er war seinem Ziel so nah, was seine Geduld zusehends schwinden ließ. Ein falsches Wort und er könnte explodieren, dachte Heather und schritt vorsichtig zur Tür. Ihre Hand berührte bereits die Klinke, doch Freyer wollte sie noch nicht gehen lassen.

»Wohin so schnell?«, erkundigte er sich hastig. »Wir sind noch nicht fertig. Linus, richtig? Für dich gilt das gleiche. Finde den anderen Wächter, es muss ihn geben. Ansonsten könnt ihr euch auf eine Strafe gefasst machen, die euch noch Jahre lang verfolgen wird.«

Das Mädchen kannte seine Drohungen und wusste, dass er es ernst meinte, jedoch nicht zu vorschnell handeln würde. Linus hingegen stellte sich plötzlich vor sie und baute sich vor dem Mann auf. Diesem entrann ein amüsiertes Schnauben, worauf eine scheuchende Handbewegung folgte.

»Geht!«, brummte er. »Und macht euch an die Arbeit.«

Die Zwei verließen das Institut auf dem schnellsten Wege. Draußen atmeten sie erleichtert aus. Heather fiel auf, dass sie ihre Hände so sehr geballt hatte, dass ihre Nägel sich ins Fleisch gebohrt haben. Langsam bewegte sie ihre Finger und strich über die ovalen Einstiche.

Linus konnte nicht still stehen und tigerte eine Weile um sie herum, bis er endlich die Worte gefunden hatte. Sie standen an der Wand des Wohnheimes. Einige Studenten genossen bereits die Sonne und unterhielten sich, hatten keine Ahnung von dem, was um sie herum passierte.

»Kein Wunder, dass du nichts erzählt hast!«, platzte es aus dem jungen Mann heraus. »Der hat sie nicht mehr alle beisammen. Er droht dir, jetzt mir und will andere verletzte, nur um diese Tore zu öffnen? Weiß er überhaupt, was das bedeutet?«

»Vermutlich schon«, erwiderte Heather trocken. »Was auch immer er konkret plant, es muss etwas mit den Göttern und Reinkarnationen zu tun haben. Wir sind die Schlüssel für die Tore, also diejenigen, die den Gottheiten ihre Kräfte zurückgeben können. Allerdings muss es einen guten Grund geben, wieso die Weltentore geschlossen wurden.«

»Vielleicht könnten die Tagebücher Informationen enthalten.«

»Welche Tagebücher?«

»Die, welche Cara und ich im Untergrund gefunden haben«, er fasste sich an die Stirn. »Cara muss sie haben ... aber darin gibt es bestimmt etwas Interessantes. Ich konnte mich nur auf die Notizen zu meinen Eltern konzentrieren. Mist, ich bin so dumm!«

»Es ist doch nur verständlich, dass das Schicksal deiner Eltern dich abgelenkt hat«, sie packte ihn am Arm. »Du solltest Cara um die Tagebücher bitten. Es ist besser, wenn ich sie erstmal noch nicht sehe. Sie wird mich ausfragen und jetzt kann ich ihr noch nicht alles verraten. Und du solltest ebenfalls über die Sache mit Freyer schweigen.«

Er nickte und verabschiedete sich von Heather. Sie sah ihm dabei zu, wie er allmählich zwischen den Gebäuden verschwand und sein Handy herauskramte. Müde lehnte sie sich gegen die Mauern. Trotz der Kälte könnte sie sogleich einschlafen. Sie schloss die Augen für einen Moment und lauschte dem leisen Gemurmel aus der Ferne.

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