Neunzehn (1.2) - Der Anfang vom Ende


Schreckhaft erwachte Cara am nächsten Tag. Ein Alptraum nach dem anderen hatte sie gejagt. Die Frau mit aufgeschlagenem Kopf und der Schusswunde hatten sie in jeder erdenklichen Situation überrascht. Egal ob sie in ihrem Traum an einem wunderschönen See saß, oder mit Jade Hand in Hand bei Sonnenuntergang spazierte. Jedes Mal war die tote, zombieartige Frau auf sie zugekommen. Kein Wunder also, dass sie kaum Schlaf fand. Dennoch blieb sie einfach nur liegen, mit der Bettdecke über ihren Kopf gezogen. Sie lauschte dem Wind, der an der Fensterscheibe rüttelte und dem dumpfen Geräusch des Regens, der sich erneut in Strömen ergoss. Cara fragte sich in diesem Moment, wo sich wohl Chione aufhielt. Jetzt würde sie gerne ihren kleinen, warmen Körper spüren. Und ihr wohltuendes Schnurren. Auch wenn ihre Mitbewohnerinnen da waren, so vermisste sie die kleine Katze. Ihre Gesellschaft war ihr immer Recht. Besonders, da sie die Kleine jetzt verstehen konnte. Hoffentlich hatte sie sich irgendwo einen trockenen Unterschlupf gesucht, wo sie die Nacht über schlafen konnte.

Aufgeregtes Rascheln erfüllte den Raum und Fußgetrappel war zu hören. Langsam zog Cara die Decke ein wenig runter und lugte zu ihrem Wecker auf dem Nachttisch. 7:00 Uhr morgens. Zeit aufzustehen. Ansonsten würde sie vor der ersten Vorlesung kein Frühstück mehr bekommen. Doch ihr Körper fühlte sich schwer an und ihr Kopf wollte nicht aufhören zu Brummen. Sie wollte einfach nur liegen bleiben und die Welt um sich herum vergessen. Eigentlich war sie keine dieser Studenten, die bei Lust und Laune die Vorlesung sausen ließen. In dem Sinne war sie sehr gewissenhaft. Dennoch wollte sie nicht gehen und man konnte es ihr auch nicht wirklich verübeln, bedachte man das Geschehene am Vorabend. Sie zog sich die Decke wieder über den Kopf und drehte sich auf die Seite. Sie zog ihre Beine an, sodass sie ganz klein und eingekauert da lag. Sie zitterte und ihr war kalt, obwohl die Decke mit Daunen gefüllt war. Doch die Erinnerungen ließen sie einfach nicht los. Erst jetzt wurde ihr so richtig bewusst, wenn die Situation anders verlaufen wäre, sie jetzt hätte tot sein können.

»Glaubst du, ihr geht es gut?«, hörte Cara Ingrid leise flüstern.

»Am Besten lassen wir sie erstmal in Ruhe«, antwortete Anna ihr. Rascheln und dann ein Klicken, von der Zimmertür die wieder ins Schloss sprang. Nun war sie alleine.

Ein wenig beneidete sie ihre Mitbewohnerinnen. Sie konnten hier alles unbeschwert genießen. Bis auf den stressigen Unialltag. Sie mussten sich keine Sorgen über altägyptische Götter, Wächter und ihre Steine oder diesen Jägern machen. In letzter Zeit hatte sie oft solche Gedanken, dass sie einfach nur ein stinknormales Leben haben wollte. Einfach nur lernen und ihren Abschluss machen, mehr verlangte sie nicht. Sie wollte nicht um ihr Leben fürchten müssen. Es hatte schließlich noch nicht mal richtig angefangen.

Cara versank immer mehr in ihren Gedanken und es entwickelte sich ein tranceartiger Zustand in denen neue Erinnerungen von Bastet hereinbrachen.

Sie befand sich im Palast von Re, seinem Tempel, in den die Menschen kamen und ihn anbeteten. Ihr Vater hatte eine Versammlung einberufen. Viele der anderen Götter waren aufgebracht, denn ihre Kräfte waren verschwunden. Und sie selbst hatte sie ihnen genommen. Re thronte vor ihnen allen. Nur Bastet hielt sich etwas abseits, im Schatten der Alabastersäulen. Sie wollte nicht, dass sie anderen sie sahen, besonders nicht die kleine Rundung an ihrem Bauch. Dieser sterbliche Körper veränderte sich langsam, jedenfalls langsamer als im Gegenzug zu ihrem göttlichen Selbst. Der Körper einer Göttin heilte schneller und bereits nach wenigen Tagen sah man nicht mehr, dass sie schwanger gewesen war. Vor einer Woche hatte sie noch ein kleines Wesen in ihrem Leib getragen und nun war alles vorbei. Ihre Tochter war Teil der Duat und Teil der Wächter. Mächtige Steine, die über das Schicksal der Welt entscheiden könnten.

Die große Halle war erfüllt von Stimmen, die alle durcheinander redeten. Re wartete ab, beobachtete das Geschehen von seinem Thron aus, genauso wie es auch Bastet tat. Sie suchte die Reihen der Götter ab, fand aber denjenigen nicht, den sie suchte. Seth war nicht anwesend. Sie sah Horus, der neben seiner Mutter Isis stand und die geschwächte Göttin stützte. Bastet wunderte es etwas, dass sie hier war, denn seit vielen Monden hatte niemand Isis zu Gesicht bekommen. Seit Osiris der Herr des Jenseits geworden war. Die Sterblichkeit hatte Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Tiefe, dunkle Furchen unter ihren Augen und ein leerer Blick. In ihrer rechten Hand hielt sie einen Sechem, ein Papyrus-Zepter, mit den sie sich regelrecht stützte. Sie war kraftlos und ihre Haltung war leicht gebeugt, so wie bei einer alten Frau. Dabei sah sie ansonsten immer noch jung und wunderschön aus, die feinen Gesichtszüge und die hohen Wangenknochen. Horus beugte sich zu der zierlichen Frau hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr, wodurch sie eine wehmütige Miene bekam. Sie hob die Hand und streichelte liebevoll über die Wange ihres Sohnes. Ein leichter Stich versetzte Bastets Herz in Trauer. So eine Bindung wie Isis und Horus würde sie nicht mehr erfahren. Ihr Kind war tot und tief in ihrem Herzen spürte sie, dass sie auch kein weiteres bekommen würden. Nicht mehr in diesem Leben. Nun erst fragte sie sich, wie viel Zeit ihr überhaupt noch blieb? Was machten die vielen hundert Jahre die sie als Göttin verbracht hatte in Menschenjahren aus? Verkürzte das ihr sterbliches Leben? Vielleicht war es doch ein Fehler von Re und ihr gewesen, die Göttlichkeit zu versiegeln, ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben.

Ein Mann mit langem schwarzen Haar und einem roten Stirnband, in dem eine Straußenfeder aus Gold und Lapislazuli steckte, trat aus der Menge hervor und richtete sein Wort an Re. »Mit welchem Recht wurde uns die Göttlickeit genommen, N(E)B-I!« In seiner Stimme klang Zorn mit und er hielt sein Was-Zepter drohend auf Re gerichtet. Selbst die sonst so respektvolle Ehrenbezeichnung, N(E)B-I - mein Herr, stieß er mit Hass hervor.

»Merkst du nicht, welchen Hass uns die Menschen entgegenbringen, Schu. Ihr Glaube an uns ist erloschen, nun müssen sie diesen wiederfinden. Zu viele Fehler haben wir gemacht und unsere Kräfte missbraucht. Nun müssen wir lernen sterblich zu sein. Und wenn die Menschen einsehen, dass sie uns wieder brauchen, so werden wir ihnen in unserem nächsten Leben beistehen.«

Die sterbliche Göttin neben Schu trat vor. Sie sah im sehr ähnlich, so als seien sie Zwillinge. Auch sie trug ein rotes Stirnband und ebenso eine Straußenfeder. Sie war Bastets Schwester Maat. Eine ruhige Natur, die von Recht und Ordnung geleitet wurde. Doch von ihrer sonst so sanften Seite war an diesem Tag kaum eine Spur zu sehen. »IT, ohne uns wird großes Chaos über Ägypten kommen.«

»So soll es dann sein«, erwiderte Re. »Irgendwann wird sich Ägypten wieder erholen und eine neue Zeit, eine neue Dynastie bricht an. Eine, in der die Menschen uns wieder als ihre Götter anerkennen und uns ihre Ehre erweisen.«

Schu ergriff erneut das Wort. »Aber bis dahin sind wir in die Duat eingetreten.«

»Und dort werden wir unsere Unsterblichkeit zurück erlangen.«

Aufgeregtes Gemurmel erklang. Die Götter waren immer noch unzufrieden. Für sie war ein sterbliches Leben nicht akzeptabel. Sie wollten ihre Macht zurück und über die Menschen herrschen. Doch diese Einstellung war doch erst der Grund ihrer jetzigen Machtlosigkeit. Die Menschen wollte sie nicht mehr. Sie wollten ein Leben ohne Götter. Doch Bastet war sich sicher, dass sie eines Tages begreifen würden, wie sehr sie die Götter brauchten. Man würde sie wieder anbeten und Ägypten würde wieder in neuem Glauben aufblühen.

»Wieso versteckst du dich im Schatten und stehst nicht bei uns«, sagte plötzlich eine weibliche Stimme hinter ihr.

Ruckartig drehte Bastet sich zu der Stimme herum und erblickte eine schöne, elegante Frau. Das rote Gewand begann erst unter ihrer Brust und zeigte somit ihre volle Pracht. Nur ein mit reichlich Edelsteinen bestücktes Pektoral bedeckte ihre Brust ein wenig. Bastet konnte ihr kaum in die stechenden, braunen Augen sehen. Leichte Schuldgefühle übermannten sie.

Die Augen der Göttin wanderten ihren Körper hinunter, hin zu der kleinen Rundung. »Also ist es wahr, was man sich erzählt. Du hast tatsächlich ein Kind geboren! Und das von meinem Gemahl.« Schiere Hass lag in ihren Worten. Bastet konnte sie nur allzu gut verstehen.

»Verzeih mir, Nephthys! Aber du kennst ja die Launen von Seth. Ich war nur eine kleine Spielerei.«

»Das bezweifle ich. Er hegt Gefühle für dich. Seitdem ich seine Gemahlin bin, hat er nicht mehr bei mir gelegen. Und wenn ich an seiner Seite bin, vergleicht er mich mit deiner Anmut.«

»Aber nun scheine ich ihm müde geworden zu sein. Schon seit geraumer Zeit hat er mich nicht mehr besucht. Und auch heute scheint er nicht anwesend zu sein. Da frag ich mich, ob er mich meidet und deswegen dem Ruf von Re nicht gefolgt ist.«

»Er leidet sehr unter dem Verlust seiner Göttlichkeit!«

»Das tuen wir alle«, erwiderte Bastet.

Nephthys schnaubte. »Du doch am aller wenigsten. Du und Re, ihr habt sie uns genommen. Und zur Versiegelung hast du dein Bastard benutzt!«

»Osiris hat mein Kind direkt bei der Geburt zu sich gerufen. Nun ist es Teil der Duat und der Schlüssel unserer Macht.«

Die braunen Augen wurden zu schmalen Schlitzen und Nephthys knirschte mit den Zähnen. Sie ließ ihren Blick zu den anderen schweifen. Dann erhob sie ihr Sechem und rammte das untere, spitze Ende durch Bastets Brust. Ein stechender Schmerz durchzog sie und sie merkte, wie sich die metallisch schmeckende Flüssigkeit in ihrem Mund sammelt. Das dickflüssige Blut quoll aus ihrem Mundwinkel hervor und ran ihr Kinn hinunter. Bastet betrachtete ihre Handflächen, die sie sich gegen die Wunde gepresst hatte, nachdem die andere Göttin das Zepter wieder heraus gezogen hatte. Ihre Finger waren rot. Rot, nicht gold. Diese dunkle, aber dennoch kräftige Farbe, die ihr ihre Sterblichkeit zeigte. Von dieser Verletzung würde sie sich dieses Mal nicht erholen.

»Bereust du es nun, dass du mir meinen Gemahl und meine Göttlichkeit gestohlen hast?«

Die Katzengöttin schaute in das Gesicht von Nephthys und war erstaunt. Tränen liefen über ihre Wangen und vermischten sich mit leichten Sprenkeln ihres Blutes. Der Hass hatte sie hässlich gemacht und auch alt. Tiefe Furchen zierten ihre Stirn, besonders zwischen ihren Augenbrauen. Ihr feines Gesicht war beschmutzt von dem Blut ihres Opfers und ihre Augen waren nun kalt und leer, wie die einer alten Frau.

»Nein, ich bereue nicht. Ich trete mit reinem Gewissen vor Osiris und begegne im Jenseits meiner Tochter wieder.« Mit diesen Worten sank Bastet an der Alabastersäule zu Boden und schloss die Augen. Sie spürte noch, wie Res Was-Zepter auf dem Boden aufschlug um die Menge zum Verstummen zu bringen. Tock. Tock. Tock.

Tock. Tock. Tock. Dieses Geräusch riss Cara aus Bastets Erinnerungen. Jemand klopft immer wieder in einem Dreier-Intervall an die Zimmertür. Seufzend stand sie auf und durchquerte das Zimmer. Sie zögerte erst, bevor sie die Tür öffnete, denn eigentlich war sie im Moment nicht in der Stimmung jemanden zu empfangen. Dennoch machte sie auf.

»Wow, du lebst also doch noch!«, scherzte Heather und quetschte sich an Cara vorbei ins Zimmer. »Ich habe dir zehntausend Nachrichten geschrieben und keine Antwort bekommen. Schaust du nicht auf dein Handy?«

»Ich habe es ausgeschaltet!« Cara warf sich wieder auf ihr Bett und vergrub ihr Gesicht in den Kissen.

Die Matratze senkte sich etwas ab, als Heather sich an ihr Fußende setzte. »Du warst nicht in der Vorlesung. So kenne ich dich gar nicht. Du hast noch nicht einmal eine Vorlesung verpasst!«

»Ich bin einfach nicht in der Stimmung!«, sagte sie, ohne ihre Freundin anzugucken. Sie hatte ihr den Rücken zugewandt und hoffte nur, dass Heather bald wieder gehen würde. Auch wenn das verletzend war, doch sie wollte lieber alleine sein.

»Nicht in der Stimmung? Ist etwas passiert?«

Cara wusste nicht, wie viel sie Heather erzählen sollte. Schließlich wollte sie sie auch nicht beunruhigen. Sie beschloss erstmal mit der naheliegensten Sache zu beginnen. Also setzte sie sich auf, schaute aber auf ihre Hände. »Ich habe mich an Bastets Ende erinnert.«

»Oh. War es ... schmerzvoll?«

»Ja«, hauchte Cara leise. »Bianca war es!«

»Bianca?« Heather schien verwirrt. Sie konnte es ihr auch nicht verübeln. Ein bisschen mehr Erklärungsbedarf war da schon.

»Naja, eigentlich Nephthys. Aber wenn ich jetzt daran zurückdenke, sehe ich Bianca. Sie ist die Reinkarnation von Nephthys. Das erklärt auch, warum wir irgendwie nicht zusammen kommen. Bianca hasst mich, wie Nephthys Bastet gehasst hat.«

Heather legt ihren Zeigefinger nachdenklich auf die Unterlippe. »Aber warum?«

»Wegen Jade, oder damals Seth. Nephthys war die Gemahlin von Seth, doch dieser hatte eine Affäre mit Bastet. Welche Ironie, dass sich diese Dreiecksbeziehung nun wiederholt, wobei Jade ja gar nichts mit Bianca hat.«

»Es ist, als ob das Schicksal will, dass sich die Geschichte wiederholt.«

»Das will ich nicht hoffen. Nephthys hat Bastet getötet. Ich möchte nicht schon wieder Todesangst haben.« Cara verfluchte sich selber, als sie ihre Worte noch einmal überdachte. Sie hoffte, das Heather den letzten Teil ignorierte, aber sie kannte ihre Freundin zu gut. Ihr war das mit der Todesangst bestimmt nicht entgangen.

»Cara, was ist passiert?«, fragte sie ernst und mit deutlichem Nachdruck.

Die Stipendiatin blieb stumm. Sie wollte nicht von dieser einen Sache erzählen. Vielleicht in fünfzig Jahren, wenn Gras über die Sache gewachsen war. Doch nicht jetzt, wo sie noch den Schmerz des Kampfes in ihren Gliedern spüren konnte. Cara richtete ihr Blick aus dem Fenster und beobachtete, wie ein paar Vögel in dem Baum hin und her hüpften.

»Na schön, wenn du es mir nicht erzählen willst, dann rede ich etwas.« Heather war eindeutig beleidigt und enttäuscht. Verständlich, denn man konnte doch erwarten, dass man seiner besten Freundin alles anvertrauen konnte.

Cara fühlte sich schuldig, ihre Freundin verletzt zu haben. Dabei hatte sie in der Kirche noch daran gedacht, was für eine gute Freundin Heather war und wie viel sie ihr Bedeutete. Sie hatte sie von der Einsamkeit befreit, doch jetzt wollte sie alleine sein. Von allen in Ruhe gelassen werden. So würde sie nur ihre Freundschaft zerstören.

»Hast du von dem Feuer gehört?«, fragte Heather.

Cara horchte auf und ihr ganzer Körper versteifte sich. Ein Knoten bildete sich in ihrem Hals und ihre Hände wurden leicht schwitzig. »Ein...«, sie räusperte sich. »Ein Feuer?«

»Ja, gestern Abend. Hast du die Sirenen nicht gehört? Ich bin davon wach geworden. Die sind an der Akademie vorbei gefahren. Anscheinend hat die kleine Kirche hier in der Nähe gebrannt. Du warst da doch schon einmal! War da nicht auch ein Zugang zu den Katakomben unter der Akademie? Auf dem Campus gibt es auch ein Gerücht, dass die da eine Leiche gefunden haben.«

Es brach schlagartig aus Cara heraus. Sie zitterte und bebte, sodass die ganze Matratze vibrierte. Sie weinte bitterlich und japste immer wieder nach Luft. Ihre Arme presste sie an ihre Brust und eine Hand legte sie um die andere zu einer Faust geballten Hand. Damit ihr Schluchzen nicht zu laut war, biss sie leicht in ihren Zeigefinger. Der salzige Geschmack von ihrer Haut und ihren Tränen legte sich auf ihre Zunge. Sie konnte nicht aufhören zu weinen, obwohl sie es versuchte. Ihr Hals brannte und sie fing an keuchend zu husten. Die Bilder der toten Frau verfingen sich wieder in ihrem Blick.

Heather rief besorgt ihren Namen und rutschte zu ihr herüber. Sanft legte sie die Hand auf ihren Rücken und streichelte diesen in kreisenden Bewegungen. »Cara, was ist los?« Als ihre Freundin bemerkte, dass sie sich noch immer nicht beruhigte, schlang sie die Arme um sie. Heather umarmte sie so lange, bis das Beben aufhörte. Cara kam es wie Stunden vor, dass sie so da saßen. Aber irgendwann waren ihre Tränen versiegt und sie setzte sich wieder aufrecht hin. Heather ergriff ihre Hände und drückte sie fest. »Und nun sag mir doch bitte, was passiert ist. Du kannst mir alles erzählen.«

Cara atmete tief durch und brachte einen ruhigen Rhythmus in ihre Atmung. Dann schaute sie in Heathers blau-grauen Augen. Sie verzog keine Miene, sondern wartete nur darauf, dass sie endlich mit der Sprache herausrückte. »Es war eine Falle!« Cara erzählte Heather alles. Jedes Detail, von der Wächterjägerin, von ihrer Ohnmacht, Linus' Ankunft in der Kirche bis hin zu ihrer Rettung durch Nate. Als sie an die Stelle kam, wo sie die Frau gestoßen hatte, fing sie erneut an zu zittern, doch Heather hielt ihre Hände noch immer fest. Am Schwersten fiel es ihr von der Sache mit Nate zu berichten. Seine kaltblütige Art. Sie traute sich nicht in das Gesicht ihrer Freundin zu schauen, sie wollte den Schock und die Abscheu in ihrem Blick nicht sehen. Eines war ihr klar: nachdem, was sie getan hatte, würde Heather sicherlich nicht mehr mit ihr befreundet sein wollen. Mit leiser, krächzender Stimme beendete sie ihre Erzählung. Cara wunderte sich, dass Heather ihr noch immer so nahe war. Hatte sie nicht verstanden, was sie gesagt hatte? Sie hatte eine Frau getötet, das Leben eines Menschen einfach beendet! Wie konnte Heather immer noch so ruhig dasitzen und sie berühren.

»Das muss schrecklich gewesen sein. Ich kann mir das kaum vorstellen«, sagte Heather plötzlich.

Die Stipendiatin war verwirrt. Mehr hatte Heather dazu nicht zu sagen? Keine Entrüstung? Nur schieres Bedauern. »Ich habe eine Frau getötet!«, schrie sie der Blonde förmlich entgegen.

Heathers Stimme blieb ruhig und sachlich. »Es war Notwehr und zudem ein Unfall. Du wolltest ja nicht das die Frau stirbt, oder?«

»Natürlich nicht! Dennoch ist sie tot. Und ich bin schuld!«

»Nach allem was wir über die Wächterjäger wissen, darfst du dich nicht so fertig machen. Diese Leute sind skrupellos. Die haben mehr Menschen auf dem Gewissen, als wir an beiden Händen ablesen können. Und die Frau hat ja selber gesagt, dass ihr Vater Linus' Eltern ermordet hat. Ich trauere dieser Frau nicht hinterher und das solltest du auch nicht. Ich bin nur froh, dass du und die anderen das lebend überstanden habt.« Heather lächelte sanft und liebevoll. Es war tröstend und Cara war froh, dass sie an ihrer Seite war. Ihre Freundin kramte in ihrer Tasche herum und zog ein Paket Taschentücher heraus. Sie reichte es ihr. »Jetzt trocknest du dir erstmal deine Tränen und dann machen wir etwas, was dich von gestern Abend ablenkt.«

»Und was?«

Heather zog ihren Laptop hervor und legte ihn aufs Bett. Nachdem sie den Bildschirm hochgeklappt hatte, leuchtete dieser auf und fuhr weiter hoch. »Wir schauen einen Film! Welchen möchtest du gerne sehen? Action, Western, Fantasy, Science-Fiction, Drama, Komödie? Okay, jetzt fallen mir keine Genres mehr ein«, lachte sie.

»Ich glaub ich bin in der Stimmung für eine Liebeskomödie.«

»Na schön, dann schauen wir mal was wir da haben.« Heather öffnete die Internetbrowser und rief die Streamingplattform auf. Gespielt nachdenklich schaute sie auf den Bildschirm und wischte mit der Maus hin und her. »Welcher soll es sein?«

»Mir egal. Entscheide du.«

»Na toll. Ich und meine Entscheidungsfreudigkeit«, kicherte Heather. Nach einem ausgedehnten Ene-mene-muh, fiel die Entscheidung auf Die nackte Wahrheit. Beide Studentinnen legten sich seitlich auf Caras Bett und den Laptop packten sie zwischen sich. So konnte Cara endlich mal abschalten und sich wie eine normale Studentin fühlen, die mit ihrer besten Freundin einfach eine schöne Zeit verbrachte. Zwar schwänzten sie nun beide die Vorlesungen, doch das war es gerade genau, was sie brauchte. Sie lachten und unterhielten sich darüber, was sie in einer solchen Situation wie im Film machen würden. Nach dem Film machten sie weiter mit dem Klassiker Pretty Woman. Wie schön es war einfach nur hier zu liegen und die Probleme der Welt einfach mal beiseite zu schieben.

Ziemlich zum Ende des Films klingelte Heathers Handy mehrmals. Sie drückte den Anrufer weg und schaute auf das Display. »Ich muss gleich los. Milan wartet auf mich. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.«

»Nein. Du hast mir echt geholfen. Das war eine gute Ablenkung«, versicherte Cara und setzte ein ehrlich gemeintes Lächeln auf. »Wahrscheinlich gehe ich gleich in die Bibliothek und hole das auf, was ich heute verpasst habe.«

»Ruh dich lieber noch aus, anstatt ans Lernen zu denken. Das kannst du morgen auch noch. Oder nächstes Wochenende.«

»Mal schauen.«

Heather klappte den Laptop zu und verstaute ihn wieder in ihrer Tasche. Dann schulterte sie diese und machte sich auf den Weg zur Tür.

»Treibt es nicht zu wild!«, rief Cara ihr noch zu.

Heather drehte sich zu ihr um und streckte ihre Zunge neckisch raus. »Nein, nein. Ich lasse mich von ihm nur ab morgen einsperren. Denn Sicherheit geht vor. Du weißt ja, sein Vater verfolgt einen Plan, der die ganze Welt ins Chaos stürzen kann, da will Milan mich lieber wegsperren.« Cara bemerkte, dass sich die Wangen ihrer Freundin trotz ihrer Erklärung leicht rot färbten. Eilig huschte diese durch die Tür und verschwand.

Cara dehnte sich ausgiebig und sprang vom Bett. Sie trat ans Fenster und beobachtete die Studenten auf dem Campus. Sie sah viele Pärchen. Lag es daran, dass sie gerade mit Liebe durchtränkte Filme gesehen hatte? Bei ihrem Anblick bekam sie große Lust Jade zu sehen. Seit dem Billardspiel hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Zwar war das Ganze noch keine 24 Stunden her, dennoch sehnte sie sich nach ihm. Sie schnappte sich lässige Klamotten aus der Kommode und machte sich im Bad ein bisschen frisch. Dann verließ auch sie das Zimmer. Auf dem Flur stieß sie fast mit Anna zusammen, die sich gerade leidenschaftlich von ihrem Freund verabschiedete.

»Cara!«, schreckte sie zusammen und löste sich hastig von Elias' Lippen. »Du überrascht mich immer beim Knutschen, oder?«

»In letzter Zeit schon«, sagte sie etwas amüsiert.

»Geht es dir besser?«, fragte Anna besorgt.

»Ja, etwas. Ich hab einfach mal ein bisschen Ruhe gebraucht.«

»Das ist gut«, lächelte ihre Mitbewohnerin. Sie blinzelte auf ihre Armbanduhr und wurde direkt hektischer. »Oh, Mist! Jetzt muss ich mich sputen. Ich schreib gleich noch eine Prüfung nach.« Sie hüpfte auf ihre Zehenspitzen und stahl Elias einen flüchtigen Kuss. »Bis später, Schatz!« Wie ein Wirbelwind raste sie in ihr Zimmer und schloss die Tür etwas zu kräftig.

»War das Kätzchen krank«, warf Elias nun in den fast leeren Gang ein.

»Nette Anspielung, Schu!« Cara wusste nicht wieso, aber sie mochte den Kerl irgendwie nicht. Dabei hatte Heather ihn als freundlich, zuvorkommend und gentlemanlike beschrieben. Ihr war er jedenfalls unsympathisch. Man konnte schließlich nicht jeden mögen.

Elias lachte auf. »Du hast es also herausgefunden!«

»Ja, ich musste mit ein paar Erinnerungen erst auf dem Laufenden sein. Bei der großen Versammlung von Re warst du anwesend und hast große Töne gespuckt.«

»Schu hat nur seine Meinung geäußert, mehr nicht.«

»Du sprichst von deiner Reinkarnation in der dritten Person?«

»Meine Schwester und ich haben die göttliche Seite noch nicht zur Gänze akzeptiert.«

»Deine Schwester? Sie ist Maat, oder?« Cara erinnerte sich an die Versammlung und an die Göttin die neben Schu gestanden hatte. Sie sah ihm so ähnlich und sie hatte da schon gedacht, dass diese beiden Geschwister sein könnten. Sie hatten die gleichen Gesichtszüge.

»Ja. Damit ist sie quasi auch deine Schwester. Schließlich waren beide, Maat und Bastet, Töchter von Re. Ist das nicht lustig?«

Cara zuckte nur leicht mit den Schultern. »Wie man es nimmt.«

In diesem Moment öffnete sich erneut die Zimmertür und Anna kam wieder herausgeeilt. Sie stockte kurz, als die Elias und Cara sah. »Ihr seid ja noch hier!«, sagte sie erstaunt. »Schatz, bringst du mich noch zum Prüfungsraum?«

Elias nickte und Arm in Arm gingen sie den Flur Richtung Treppe entlang. Anna drehte sich noch kurz um und winkte Cara zu. Sie hob ebenfalls die Hand und schaute ihnen hinterher. Noch einen kurzen Augenblick verharrte sie im Gang und ging dann ebenfalls in die Richtung. Doch sie stieg nicht in die Eingangshalle hinab, sondern betrat den Jungenflügel. Cara schüttelte leicht verwirrt den Kopf. Sie war noch nie in diesem Flügel gewesen, geschweige denn bei Jades Zimmer. Nicht mal die Nummer wusste sie. Ihr Plan ihn einfach so zu überraschen schlug also schon damit fehl. Sie seufzte laut und drehte wieder um.

Erst einmal sollte sie etwas Essen, denn in diesem Moment durchzog ein tiefes Knurren ihre Magengegend. Kein Wunder, schließlich hatte sie den ganzen Tag noch nichts gegessen. Schnellen Schrittes verließ sie das Wohnheim und steuerte auf die Mensa zu. Kaum, dass sie das Gebäude betreten hatte, stieg ihr der gedämpfte Geruch nach Gemüse. Sie ging zur Essenausgabe und entschied sich, ohne große Gedanken an eine Auswahl zu verschwenden, für eins der Tagesgerichte. Hähnchenbrustfilet Chop Suey. Sie suchte sich einen Platz am Fenster und verschlang die Mahlzeit regelrecht. Es war ein gutes Gefühl endlich etwas in den Magen zu bekommen. Langsam nippte sie an ihrem Wasser und schaute sich dabei in dem Raum um. An einem der 5er-Tische saß Elias mit einer jungen Frau. Sie hatte die gleichen kastanienbraunen Haare wie er. Cara vermutete, dass dies seine Schwester war, Julie, wenn sie sich richtig entsinnte. Sie war wirklich bildschön. Caras Blick kreuzte sich mit dem von Julie, woraufhin sie ihren Bruder antickte und auf die Stipendiatin hinwies. Elias blickte einmal kurz zu ihr auf und wand sich dann ignorant wieder ab. Sie beobachtete ihn noch, wie er auf seinem Handy herumtippte und dann stand er zusammen mit Julie auf und verließ die Mensa. Cara zuckte nur kurz mit den Schultern. Sollen die beiden doch machen was sie wollen. Sie hatte nur gedacht, da sie alle im gleichen Boot saßen, könnte man sich auch austauschen. Gesättigt streckt sich Cara einmal und steht auf. Sie hebt das Tablett hoch und bringt es zu der Ablage. Sie wirft einen Blick auf die große Wanduhr. Es war erst früher Abend und sie hatte keine Lust wieder in ihr Zimmer zurückzukehren. Auch wollte sie nicht alleine sein. Vielleicht würde sie Chione finden, die mit Sicherheit irgendwo auf dem Gelände herumstromerte.

Die Sonne verabschiedete sich gerade am Horizont. Noch strahlte sie ein wohltuendes Licht aus und die zarte Wärme kitzelte Caras Nase. Endlich wurden die Tage wieder etwas wärmer und sie hoffte, dass es auch bald nicht mehr so oft regnete. Sie ließ ihren Blick schweifen und verharrte bei dem hohen Gebäude mit der Glasfront. Wenn die anderen Studenten nur wüssten, was darin alles vorgeht, dachte sie. Sie selbst wusste ja noch nicht viel, doch was darin passiert war nicht gut. Auch wenn sie dort von ihrer Verletzung halbwegs geheilt wurde, war es dennoch beängstigend gewesen. Nur allein von dem Gedanken an diesen Ort schnürte sich ihre Brust zu. Sie begann wieder zu zittern und schwarze Flecken bedeckten ihre Sicht. Ihre Atmung wurde schneller und sie musste sich vorne über beugen um wieder einigermaßen Luft zu bekommen.

Plötzlich legte sich eine Hand auf ihren Rücken. Cara schreckte hoch und fand sich einem Paar grüner Augen gegenüber. Sogleich schlug sie sich erleichtert vor die Brust und seufzte hörbar. »Du hast mich ganz schön erschreckt, Jade!«, warf sie ihm vor.

Der Student lachte schallend. »War keine Absicht!« Er zog sie an sich heran und gab ihr einen sanften, aber leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen. Ihre Arme legten sich um seine Nacken und sie gab sich seiner Umarmung vollkommen hin. Das war es, was sie im Moment brauchte. Seine Nähe und seine Wärme. So konnte sie ein wenig die Kälte und Grausamkeit vom Vorabend vergessen. Jedoch nicht zur Gänze.

Vorsichtig schob sie ihn von sich weg, sodass sie wieder in seine Augen schauen konnte. Für einen kurzen Augenblick lag etwas in seinem Blick, was Cara verwirrte. Ein kurzes Aufblitzen von Verachtung. Aber dieser kurze Anflug von Negativität verflog in der aufkommenden Briese. »Ist alles in Ordnung mit dir? Ich habe dich heute Morgen vermisst«, fragte er, während seine Hand liebevoll über ihre Wange streichelte. Sie legte ihre Hand auf seine und schmiegte sich an diese Wärme an.

»Mir geht es gut. Hatte nur etwas Kopfschmerzen«, antwortete sie.

»Mehr war nicht?« Sein durchdringender Blick schien sie förmlich zu durchbohren.

Sollte sie es ihm erzählen? Das was am Vorabend passiert war. Cara war sich unsicher. Ein wenig Angst hatte sie vor seiner Reaktion, wenn sie ihm davon erzählen würde. Jade würde wütend werden und wahrscheinlich Linus beim nächsten Mal wegen dieser Sache konfrontieren. Sie wusste, er würde ihm die Schuld geben, dass sie in Gefahr geraten war. Aber die größte Sorge von ihr bestand darin, dass die Möglichkeit bestand, dass er wieder die Kontrolle über sein Selbst verlieren konnte. Er wieder Seth die Überhand lassen würde, aus reiner Wut. Das konnte sie nicht zulassen.

»Da ist doch etwas, was du mir nicht erzählst!«, sagte er mit erhobener Stimme. Ein paar umstehende Studenten richteten ihre Blicke auf sie. Cara senkte den Kopf, sie hasste es noch immer in Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Sie verschränkte ihre Finger ineinander und verkrampfte diese.

»Tut mir leid, ich wollte nicht laut werden«, sagte Jade und griff nach ihrer Hand. Er zog sie hinter sich her und führte sie weg von den anderen Studenten. »Wir sollten uns an einem ruhigeren Ort weiter unterhalten.« Cara sah dabei seinen Gesichtsausdruck nicht, sondern starrte auf seinen Hinterkopf. Dennoch hörte sie eine leichte Verbitterung raus.

Nahe dem Institut kam er zum Halten. Jade ließ ihre Hand los und wirbelte zu ihr herum. »Nun sag mir endlich, was passiert ist!« Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie erwartungsvoll an.

Wieso wusste immer jeder, wenn in ihr etwas vorging? War sie wie ein offenes Buch zu lesen? Erst Heather und nun auch Jade. Dabei wollte sie eigentlich gar nicht darüber reden. »Es ist nichts passiert. Gar nichts!«

Jades Hand schnellte vor und legte sich um ihr Handgelenk. »Cara, warum lügst du mich andauernd an?!«

Die Stipendiatin versuchte sich von ihm loszureißen, jedoch war er einfach zu stark. »Das tue ich gar nicht!« Ihre Antwort klang wie die eines kleinen Kindes. Damit würde sie bei ihm nicht so einfach durch kommen. Und das bekam sie auch schon sogleich zu spüren. Jades Griff wurde fester. »Lass mich los! Das tut weh!«

»Dann lüg' mich nicht an!«

»Ich will dich doch nur beschützen!«, rief sie.

Jade ließ sie los und seine Arm viel locker nach unten. »Mich beschützen? Ich brauche keinen Schutz!«

»Doch brauchst du!« Betrübt schaute sie auf die roten Pflastersteine die den Weg vor dem Institut säumten. »Ich habe Angst, dass Seth wieder erwacht, wenn ich dir alles erzähle.«

Obwohl ihr Blick noch gesenkt war, bemerkte sie, dass Jade ihr den Rücken zu wand. Sie sah auf und stellte fest, dass seine Hände zu Fäusten geballt waren. Sein kompletter Körper war angespannt. Irgendetwas in ihr sagte ihr, dass sie sich nun von ihm fernhalten sollte. Aber sie zögerte, sie konnte ihn jetzt nicht hier stehen lassen.

»Du fürchtest ihn noch immer?«, fragte er mit gedämpfter Stimme. Sein Kopf drehte zur Seite, sodass er sie über die Schulter hinweg sehen konnte.

Cara überlegte kurz und nickte kurz. Sie wusste, dass sie ihn dadurch verletzen würde. Bei dieser Sache konnte sie einfach nicht lügen. Es ging einfach nicht, auch wenn sie es gewollt hätte. Eine Träne rann über ihre Wange und verfing sich in dem dunklen Schal um ihren Hals. Innerlich kämpfte sie mit sich Selber. Ein Teil von ihr wollte zu ihm und sich entschuldigen, Worte benutzen, die alles wieder wettmachten. Aber der andere Teil wusste nicht, was er sagen sollte und hoffte, dass er zuerst das Wort ergriff. Bevor sie sich entscheiden konnte, klingelte plötzlich ein Handy.

Jade zog seins aus der Jackentasche und schaute aufs Display. Er wischte mit dem Daumen darüber und hielt das Handy dann an sein Ohr. »Ja?«

Cara konnte nicht verstehen, was gesagt wurde, dennoch hörte sie eine tiefe, männliche Stimme.

»Bin ich. Sie ist bei mir!«, sagte er zu der Stimme. Eines war klar: Cara war Teil des Inhaltes des Gespräches. Doch warum? Wer war nur am anderen Ende der Leitung? »Verstanden!« Jade legte auf und schaute sie an. Auf die ein oder andere Weise wirkte er verändert. Sein weicher Blick war verschwunden und die Anspannung in seinen Muskeln war deutlich zu spüren.

Cara schreckte zurück und trat einige Schritte rückwärts. Jedoch kam sie nicht weit, denn Jade schnellte hinter ihr und hielt sie fest. Er zog ihre Arme nach hinten und überkreuzte ihre Handgelenke. In ihrem Schulterbereich fing es an schmerzvoll zu ziehen. Sie war verwirrt und versuchte sich zu befreien. Sie verstand die Welt nicht mehr. Warum war von dem einen Moment auf den anderen so anders? »Jade, was soll das?«, jammerte sie.

»Es wird Zeit, diese ganze Face zu einem Ende zu bringen!«, flüsterte er ihr kalt ins Ohr.

»Was?«, japste sie. Die Verwirrung wurde nicht besser. Sie wollte wissen, was hier gerade vorging.

In diesem Moment öffneten sich die Glastüren des Instituts und drei Männer traten heraus, zwei mit weißem Kittel und einen im schwarzen Anzug. Den Mittleren erkannte Cara sogleich. Es war Raphael Freyer, der direkt auf sie zusteuerte. »Danke, Jade, für deine Hilfe!«

»Was geht hier vor!«, schrie die junge Frau.

»Bitte, meine Dame, wir wollen doch nicht, dass die anderen Studenten uns bemerken!«, sagte Freyer mit leichter Häme und schaute von oben auf sie herab. »Ich will nur, dass das Tor endlich geöffnet wird.«

»Dazu wird es nicht kommen!«

»Und wie es dazu kommen wird. Dr. Orton, Dr. Delmor, würden sie Fräulein Jackson bitte hinein führen.«

Die beiden Männer in den Kitteln traten näher an sie heran. Jade lockerte seinen Griff, um den beiden Platz zu machen. Cara sah ihre Chance gekommen und machte sich bereit loszustürmen. Sie setzte sich voran, einen Schritt nach dem anderen, bis ein lauter Knall ihren Kopf zum Beben brachte. Ihr Gesicht brannte und der Schmerz breitete sich von der Wange weiter aus. Sie brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass Jade sie geschlagen hatte. Schockiert riss sie die Augen auf und starrte ihn an. Ein wenig schwankte sie, aber die beiden Doktoren flankierten und stützten sie. Mehrmals hintereinander Japste Cara nach Luft. Augenblicklich fing sie an zu weinen. »Du bist nicht Jade! Du bist Seth!«, wimmerte sie.

»So sieht es aus. Und das schon seit einer ganzen Weile! Der Junge hat gut gekämpft, aber lächerlich zu glauben, er könne mich unterdrücken«, lachte er. »Ich bin der Stärkere!«

Die ganze Zeit über hatte Seth sie an der Nase herum geführt. Wie lange war er schon wieder da? Tage? Wochen? Er hatte vorgegeben Jade zu sein. Sie hatte ihm vertraut. »NE-E-E-E-EIN!«, schrie sie wehmütig. Ihre Beine gaben nach und sie ließ sich in den Griff der Männer fallen. Das alles durfte nicht wahr sein.

»Gib Heather McCarthy Bescheid! Wenn sie ihre Freundin wiedersehen will, muss sie das Tor öffnen!«, sagte Freyer zu Seth.

»Ich bin nicht ihr Dienstbote!«, antwortete er verächtlich.

»Aber wir haben das gleiche Ziel. Und bis das erreicht ist, ist dir besser dran gelegen, zu tun, was ich sage! Und gib dich am besten weiterhin als Jade aus.«

Seth schnaubte, machte sich aber dennoch auf den Weg Richtung Wohnheim.

Cara hingegen wurde ins Institut gebracht. Sie hatte jeden Willen sich zu wehren verloren. Ihr Herz war gebrochen.

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