Neun (2.1) - Träume
Heather ließ die Beine seitlich über die Sofalehne baumeln, eine Sitzhaltung, die ihre Mutter gar nicht leiden konnte. Gerade deshalb machte sie es, denn nachdem ihre Eltern so abweisend zu Cara gewesen waren, verstand Heather einmal mehr, dass sich die höher gestellte Gesellschaft nicht mit dem Fußvolk - wie sie es ironisch betitelte - abgeben wollte. Nun war Cara fort und somit auch die Hoffnung auf ein paar schöne Tage. Sogar der Wetterbericht, den sie sich anschaute, deutete keinen Schneefall in der nächsten Zeit an, dabei genoss sie die weiße Landschaft so sehr und wünschte sich viele dicke Flocken.
Während ihre Eltern Cara und sie die letzten Tage gemieden hatten, schienen sie nach deren Abreise ein großes Interesse an Heathers Leben an der Akademie zu haben. Schon als ihr Vater das Wohnzimmer betrat, entfleuchte ihr ein Seufzer.
»Mein Kind«, fing er an und setzte sich auf den Sessel schräg gegenüber. »Du hast deiner Mutter und mir kaum etwas von deinem Studium erzählt. Wie ist es dir ergangen? Hast du ein paar nette Leute kennengelernt?«, er pausierte, fiel ihm doch bestimmt gerade ein, dass sich seine Tochter mit Cara angefreundet hatte. »Berichte mir von dem Ball, für den deine Mutter das Kleid geschickt hatte.«
Dieses Thema war für Heather tabu. Das wusste Cara, sonst eigentlich keiner, aber dennoch wurde sie wütend auf ihren Vater, der sich bisher recht wenig für sie interessiert hatte. Sie richtete sich auf, stemmte die Hände in die Seite und blickte von oben auf ihn herab. Augenblicklich duckte er sich, erschrak vor seiner eigenen Reaktion und räusperte sich.
»Ich weiß, dass du nicht so glücklich mit den Umständen bist, doch du solltest verstehen, dass wir nur das Beste für dich wollen.«
»Und das schließt ein, dass ihr meine Freunde aussucht?«, konterte sie eisern.
»Hör doch«, er stand auf und wollte eine Hand auf ihre Schulter legen, doch sie blockte ab. »Bianca war dir eine gute Freundin. Ist dir eine gute Freundin, nicht wahr?«, Heather nickte, aber nur, damit ihr Vater nicht weiter nachhackte. »Wen gibt es noch?«
»Ist das wirklich wichtig?«
»Ich sorge mich um dich. Die Kontakte innerhalb unserer Schicht sind äußerst wichtig und das sollte dir klar sein. Wenn du dieser Verpflichtung nicht selbstständig nachkommst, muss ich leider nachhelfen.«
Heather schnaubte und stampfte an ihrem Vater vorbei und vom Esszimmer in die Eingangshalle. Sie war sich sicher, was ihr Vater damit meinte. Dass er sie an Leute aus ihrer Schicht vermitteln möchte und zwar an gutgebildete, stinkreiche Männer. Das musste von Anfang an sein Plan gewesen sein. Er empfahl ihr die Freyer-Akademie vor einigen Jahren und da Heather noch unsicher war, in welcher Branche sie später beruflich Fuß fassen sollte, stimmte sie letztlich seiner Empfehlung zu.
Wer hätte denn ahnen können, dass es ihm nur um die Heiratsvermittlung seiner Tochter ging? Die im Übrigen keine Lust auf eine Hochzeit, geschweige denn einen Freund verspürte, nach dem Ballabend, der ihr Herz immer noch beim bloßen Gedanken zum Rasen brachte. Milan Freyer stellte generell ein Problem für sie dar, das sich in ihrem Kopf manifestierte, wie ein Geist, den keiner sehen wollte und der doch existierte.
Eilig schüttelte sie die Erinnerung ab und holte ihren Koffer unter dem Bett hervor. Nachdem Cara und sie herausgefunden hatten, dass der Bernstein Heathers Berührung anscheinend akzeptierte, hatte sie diesen in ihren Koffer gelegt. Gut in ein Tuch gehüllt, da sie dem Schmuckstück noch immer nicht vollständig traute. Die brennenden Schmerzen, die es ihr bescherte, würde sie so schnell nicht vergessen. Ihre Hand hob das Bündel an und mit zittrigen Fingern befreite sie den goldbraunen Kristall. Sie seufzte, platzierte das Tuch, das ihre Hand von dem Stein abschirmte, auf ihrer Kommode und legte den weißen Edelstein, den sie zu Weihnachten bekommen hatte, daneben. Beide glitzerten in einem merkwürdigen Licht und sie konnte sich nicht zurückhalten, musste die glatten Oberflächen anfassen, um zu überprüfen, ob der Bernstein ihr wieder Schmerzen zufügte. Ein kurzes Stechen durchfuhr ihren gesamten Körper, intensiver als zuvor. Dann trat an dessen Stelle eine angenehme Wärme.
Beruhigt hielt sie beide Schmuckstücke in der Hand, ohne dass ihr einer wehtat. Also beeinflussten sich diese Steine tatsächlich, genau wie Cara vermutet hatte. Aber wie kam das zustande? Vor wenigen Tagen durfte sie den goldenen Kristall nicht einmal kurz berühren, schon verkohlte er ihr die Haut und jetzt? Jetzt wirkte es so, als lägen diese Tage weit in der Vergangenheit. Der Perlmutt musste eine positive Ausstrahlung besitzen, anders konnte sie sich das nicht erklären, obwohl auch das irgendwie merkwürdig klang. Sie lachte auf und legte sich die Kette mit dem hellen Edelstein wieder an. Caras Angebot, ihre Eltern über diese seltsamen Schmuckstücke und deren Kräfte - wenn man es denn das Verbrennen von Heathers Haut denn so bezeichnen wollte - auszufragen, würde sie in nächster Zeit nur zu gerne annehmen. Die Geschehnisse häuften sich schließlich und gestalteten sich immer skurriler, sodass sie hin und wieder an ihrem Verstand zweifelte. Doch sich das alles einzubilden, wäre auch keine befriedigende Antwort. Auch Caras Alpträume und ihre sichtbare Angst, machten die Situation der jungen Frauen nicht besser.
Eine Stimme aus dem Wohnzimmer drang zu ihr durch und weckte sie auf. Die Uhr verriet ihr, dass sie drei Stunden lang geschlafen hatte und sie räkelte sich für einen Moment in ihrem Bett, drückte ihre Nase tief in die weichen Kissen. Das Waschpulver, welches die Dienstmädchen verwendeten, roch wesentlich besser als das in der Akademie.
»Miss, Ihr Vater erwartet sie ihm Speisesaal«, sagte ein Bediensteter und schloss die Tür gleich wieder.
Grummelnd richtete sich Heather auf und sah in den Spiegel. Die Haare standen an allen Seiten wild ab, weshalb sie inne hielt und überlegte, sich einen Zopf zu machen. Allerdings verwarf sie diesen Gedanken, als sie erneut die Stimme ihres Vaters vernahm, der um Einiges ungehaltener klang. Sie hangelte sich rasch am Treppengeländer herunter und landete elegant vor der letzten Stufe auf dem Boden. Im Empfangssaal war niemand, also schlenderte sie teilnahmslos ins Esszimmer, wo ihr beinahe die Augen aus dem Kopf fielen.
»Ah, da bist du ja Schatz«, ihr Vater deutete auf einen der Stühle. »Wir haben Besuch.«
»Milan?!«, entsetzt rührte sie sich nicht von der Stelle. »Was zum ...«, schnell schloss sie ihren Mund, ansonsten wäre ihr noch ein falsches Wort herausgerutscht und das auch noch vor ihren Eltern. »Schön dich wiederzusehen.«
Angestrengt verzog sie ihr Gesicht zu einem Lächeln, das selbst aus zehn Metern Entfernung unecht aussah. Doch die Überraschung ihm hier zu begegnen, schockierte sie einfach zu sehr. Was wollte er hier, bei ihr zu Hause? Und warum musste er sich ihren Eltern vorstellen? Zu allem Überfluss schien ihr Vater vor Freude kaum noch zu halten und bombardierte den jungen Mann mit zahlreichen Fragen.
»Es ist unheimlich schön, dass Sie sich mit meiner Tochter so gut verstehen«, erklärte ihr Vater begeistert. »Ich befürchtete ja schon, dass sie sich nur mit dieser Stipendiatin abgebe und sonst keine Kontakte pflegen würde.«
»Aber nicht doch. Ihre Tochter vertritt ihren Standpunkt immer außergewöhnlich ehrlich. Es gibt nicht viele Frauen, die versuchen, sich mit mir zu messen.«
Heathers Vater lachte laut auf und tätschelte ihre Schulter bestätigend. Sie hingegen wünschte sich nichts mehr, als von hier zu verschwinden. Diese Situation toppte noch einmal alles, was sie bisher betreffend Milan hatte durchstehen müssen.
»Das beruhigt mich ungemein. Sie war schon immer ein bisschen aufmüpfig, vor allem als sie noch klein war, doch so lieben wir sie nun mal.«
»Vater, das reicht!«, erwiderte sie ruhig und rückte ihren Stuhl vom Tisch. »Milan, würdest du mich nach draußen begleiten?«
Anhand ihres Untertons musste er verstehen, dass sie wenig amüsiert über sein plötzliches Auftauchen war. Sie atmete dankbar aus, da er sich von ihr bis auf die Veranda hinterherzerren ließ und keinen Mucks von sich gab.
Immer noch wütend funkelte sie ihn an, stellte sich auf die Zehnspitzen, um ihm direkt in die Augen schauen zu können. Sein Grinsen verschwand natürlich nicht. Er war sich seiner Sache offenbar sehr sicher und überlegte sich nicht einmal die richtigen Worte, die Heather eventuell besänftigen könnten.
»Verzeih, Prinzesschen, aber ich konnte deine Abwesenheit nicht länger ertragen«, säuselte er.
»Ach ist das so?«, sie wandte sich mit einer Drehung von ihm ab und lief auf den Rasen, der sich durch die langsam schmelzenden Schneeschichten bahnte. »Wie hast du überhaupt meine Adresse herausgefunden? Gegeben habe ich sie dir jedenfalls nicht, daran könnte ich mich erinnern. Was bist du? Mein persönlicher Stalker?«
»Wenn dir das gefallen würde?«, er zwinkerte ihr zu, als sie einen Blick über die Schulter und somit zu ihm warf. »An der Akademie gibt es ein Studentenverzeichnis und da ich der Sohn des Leiters bin, kann ich jederzeit an die Unterlagen herankommen. Technisch gesehen bin ich also dein Stalker.«
Heather stöhnte auf und trat in einen Schneehügel, der daraufhin in seine Einzelteile zersprang. Was bildete er sich eigentlich ein? Am liebsten würde sie ihm eine klatschen. Ihre Selbstbeherrschung strapazierte er durch sein schnöseliges Verhalten absichtlich und für gewöhnlich konnte sie sich besser zusammenreißen. Sie hatte schon öfter mit solchen selbstverliebten Typen sprechen müssen und es geschafft, sie irgendwie abzuwimmeln. Wieso gelang ihr das bei Milan nur nicht?
Er wollte sich ihr nähern, doch sie wehrte ihn eilig ab, hob die Hände und kniff die Augen zusammen. Ihre Angst und die Begriffsstutzigkeit, die er bei ihr auslöste, vermischten sich noch mit diesem seltsamen Gefühl in ihrer Brust. Ja, sie mochte ihn mehr oder weniger. Er war einer der Wenigen, die sie aus der Reserve locken konnten und das schätzte sie irgendwie an ihm. Allerdings bedeutete das noch lange nicht, dass sie ihn liebte.
»Du willst mir weißmachen, dass du den ganzen Weg hierhergekommen bist, nur um mich zu sehen? Es gibt keinen anderen, wichtigen Grund?«
»Es schmerzt sehr, dass du so denkst«, er schmollte, meinte es aber sicherlich nicht ernst. Glaubte er tatsächlich, dass er sie durch dieses Geschwätz rumkriegen würde? »Kann ich mich nicht grundlos nach dir verzehren? So ist die Liebe nun mal.«
»Sag bloß. Ich für meinen Teil bezweifle ja, dass du Liebe empfinden könntest. Das heißt, für eine andere Person als dich selbst.«
Auf einmal stand er hinter ihr und schlang einen Arm um ihre Taille. Ihr Puls verstummte erst und rauschte dann laut in ihren Ohren. Verwundert musste sie feststellen, dass er für seinen doch recht normalen Körperbau extrem stark war und sie sogar mit nur einem Arm fixieren konnte. Egal wie sehr sie sich wehrte und in seiner Umarmung zappelte, sie kam nicht frei.
»Wenn du nicht aufhörst, mich zu treten, dann muss ich dich wieder küssen.«
Augenblicklich hielt Heather still und regte sich keinen Millimeter weiter. Ihre Hände klammerten sich an Milans Oberarm, der gegen ihren Bauch drückte. Sie spürte, wie er sein Gesicht in ihren Haaren vergrub und ein Schauer breitete sich über ihrem Rücken aus.
»Eigentlich schade, dass ich dich mit einem Kuss so verängstigen kann«, nuschelte er an ihren Kopf. »Es wäre interessanter gewesen, hättest du weiter um dich geschlagen.«
»Jetzt lass mich endlich los!«,jammerte sie.
Sachte löste Milan seinen Griff, damit die junge Frau nicht durch ihr Gedränge gegen seine Brust nach vorne fiel. Zwei Meter von ihm entfernt blieb sie sicher stehen und verschränkte ihre Arme, blickte nicht in seine Richtung. Ihr Herz raste und ihre Wangen mussten feuerrot sein. Was, wenn jemand sie gesehen hatte? Oh nein, ihr Vater machte bestimmt schon Freudensprünge im Wohnzimmer und plante ihre Zukunft.
Doch im Haus war es ruhig. Sie neigte sich vor, um in das hohe Fenster zum Speisesaal zu gucken und auch dort spannte sie niemand aus. Erleichtert sackte sie ein Stückchen in sich zusammen und hörte noch, wie Milan zurück ins Haus ging. Sie lief ihm überrascht nach. Dass er ohne ein Wort oder eine blöde Bemerkung verschwand, war überhaupt nicht seine Art. Schnurstraks schritt er zu ihren Eltern und sie befürchtete das Schlimmste.
»Mr. und Mrs. McCarthy«, begann er erhaben und Heather beobachtete ihn mit Abstand, wartete im Türrahmen, als könne dieser sie beschützen. »Mein Aufenthalt hier war sehr angenehm, aber ich muss wieder zurück, mein Vater erwartet mich zum Abend bei sich.«
»Milan Freyer, es war auch sehr schön, Sie bei uns willkommen heißen zu dürfen. Eventuell kommen Sie ein anderes Mal vorbei. Zu einem Essen oder einer feierlichen Gelegenheit«, erwiderte Heathers Mutter freundlich. »Heather, verabschiede bitte unseren Besuch.«
Heather zuckte zusammen und konnte das alles noch nicht so richtig verarbeiten. Sie huschte zur Tür, gefolgt von einer der Bediensteten, welche sie überholte und die Haustür aufriss. Milan stapfte wortlos an ihnen vorbei und auf die Einfahrt, wo bereits ein schwarzer Wagen für ihn bereit stand. Auch als das Auto am Horizont verblasste, starrte Heather ihm verdutzt nach und konnte nicht fassen, dass er sie ignoriert hatte. Und die einzige Frage, die in ihrem Kopf herumflog, bestand darin, ob sie das gut oder schlecht finden sollte.
»Wieso hast du uns verschwiegen, dass du den Sohn von Raphael Freyer kennengelernt hast?«, hakte ihr Vater nach und schob sie zurück ins Haus. »Das ist großartig!«
»So toll ist das auch nicht«, entgegnete sich nüchtern.
»Sei nicht so bescheiden! Du kannst dich glücklich schätzen, dass er dich besucht und das auch noch, obwohl Ferien sind. Vielleicht könntet ihr ja ...«
»Vater!«, unterbrach sie ihn mit bebender Stimme.
»Schatz, ich denke, für heute reicht die Aufregung erst einmal«, wand ihre Mutter ein und ließ Heather an ihr vorbei und die Treppe hochlaufen. »Ruh dich aus. In ein paar Tagen musst du schon wieder zurück.«
Die Silvesternacht kündigte das Ende der Semesterferien an und somit auch den Beginn der Prüfungen. Heather hatte bisher nicht viel für die Vorlesungen getan, oder etwas nachgeholt, da sie sich von den normalsten Dingen so stark ablenken ließ. Ein Streit mit Bianca, dann Cara und ihre Träume. Die Höhepunkte machten aber immer noch die Verschüttung in dem Tempel in Ägypten und der Kuss mit Milan aus. Was würde sie nicht alles für ein sorgenfreies Leben geben, doch anscheinend blieb so etwas nur eine Wunschvorstellung.
Im Haus war es laut und die vielen Menschen, die ihre Eltern eingeladen hatten, wuselten in beinahe jedem Zimmer herum. Einige bekannte Gesichter tauchten hier und da auf, allerdings gab sich Heather ungern mit diesen Leuten ab. Die männliche Fraktion in ihren Kreisen war zumeist der Annahme, dass eine junge Dame wie sie keine Ahnung von der Welt da draußen besaß und all ihre Kraft für ihr Aussehen verschwendete. Wie gerne hätte sie sich mit ihnen unterhalten, diskutiert und an dem regen Austausch teilgenommen, aber diese Abweisung, die sie über die Jahre erfahren hatte, schreckte sie zu sehr ab. Deshalb gesellte sie sich letztlich zu einer Gruppe Mädchen in ihrem Alter, die mit teurem Champagner am Fenster standen und über jemanden lästerten.
»Heather!«, hörte sie Bianca, die sie aufgeregt zu sich winkte. »Wir haben von deiner Mutter erfahren, dass Milan Freyer vor ein paar Tagen hier war.«
Der Punkt war erreicht. Heather wollte im Erdboden versinken und nie wieder an die Oberfläche kommen. Wenn Bianca das mit Milan wusste, würde auch bald die ganze Welt Bescheid wissen und Heather konnte ihre redefreudige Freundin nicht aufhalten. Also redeten die Damen zuvor über sie selbst. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus und sie fühlte sich hintergangen.
»Was guckst du denn so niedergeschlagen?«, erkundigte sich Bianca und schottete Heather von den anderen ab. »Ist etwas passiert?«
Heather schüttelte langsam den Kopf. Mit Bianca wollte sie nicht über Milan sprechen. Wer konnte schon genau sagen, ob sie es auch für sich behielt? Da war ihr Cara eine weitaus bessere Zuhörerin, denn sie würde ihre Geheimnisse mit Sicherheit nicht weitererzählen und interessierte sich auch nicht für den Klatsch, den man daraus machen könnte.
»Erde an Heather«, quengelte ihre Freundin nun. »Du bist in letzter Zeit wirklich komisch, gehst kaum noch mit mir shoppen und die Mädels sagen, dass du dich gar nicht bei ihnen meldest.«
»Sorry. Irgendwie weiß ich momentan nicht, wo mir der Kopf steht.«
»Es ist also doch wegen einem Typen, stimmt's? Milan? Läuft da was zwischen euch? Ich meine, wenn er dich schon besucht, dann muss da doch was zwischen euch laufen.«
»Nein«, erwiderte Heather beiläufig und nahm sich ein Glas Champagner. »Ich bin mir nicht sicher, was genau er von mir will, aber eine Beziehung ist es bestimmt nicht.«
Heather bereute diese Halblüge sofort, denn damit stellte sie Milan als jemanden dar, der er nicht war. Vielleicht spielte er nur mit ihr, aber es bestand auch die Möglichkeit, dass er ehrlich zu ihr war. Ihr wurde schlecht und sie entschuldigte sich rasch, um auf ihr Zimmer zu verschwinden. Dort warf sie sich aufs Bett und schluchzte in ihre Kissen. Sie wollte den Sinn hinter Milans Aktionen erkennen, aber sie konnte ihn nicht finden. Seine Abweisung, nachdem er sie umarmte, brachte sie zusätzlich durcheinander. Am liebsten hätte sie jetzt Cara angerufen und mit ihr über ihre Probleme geredet, aber sie feierte vermutlich gerade selbst mit Freunden. Sie zu stören, fand Heather unpassend und frech.
Am nächsten Morgen brachten die Bediensteten ihre Koffer ins Auto und sie verabschiedete sich von ihren Eltern, die sie auf ihr gestriges Verschwinden nicht weiter ansprachen. Die Autofahrt verlief problemlos, nur ihr Flug verspätete sich, was allerdings nicht schlimm war, da der Chauffeur ohnehin auf sie warten würde.
Die Akademie lag wie erwartet unverändert vor ihr. Der Wagen brauste durch das Tor und fuhr eine leichte Kurve um die kreisrunde Grünfläche der Anlage, die nicht mehr ganz in Weiß getaucht war. Der Fahrer bot ihr an, das Gepäck ins Wohnheim zu tragen und Heather willigte ein, da sie von dem Flug recht erschöpft war. Nachdem sie ihm ihre Zimmernummer gegeben und den Weg dorthin beschrieben hatte, schlenderte sie zur Bibliothek. Innerlich hoffte sie darauf, Cara dort anzutreffen, aber leider musste sie sich mit der gähnenden Leere, die in den großen Räumlichkeiten herrschte, zufriedengeben. Am 2. Januar begannen die Vorlesungen offiziell, doch sie hatte erst wenige Studenten auf dem Campus gesehen. Wahrscheinlich verlängerten sie ihre freien Tage noch um eine Woche. Das war ein Vorzug, den die Stipendiaten leider nicht genossen und auch Heather nahm sie von heute an vor, ein bisschen mehr zu lernen.
Da fiel ihr ein, dass sie ja noch Elias Nummer hatte und er bot sich sonst auch gerne zu Gesprächen oder zum Lernen an. Dazu kam noch, dass er die Prüfungen des ersten Semesters bestanden hatte und damit einen hervorragenden Nachhilfelehrer abgeben würde. Mit neuer Energie wählte sie seine Nummer und lauschte geduldig dem Wartesignal. Jedoch brach dieses rasch ab und auch nach mehreren Versuchen, erreichte sie ihn nicht.
Niedergeschlagen lehnte sie sich in der Lounge im unteren Teil der Bibliothek zurück und genoss noch einige Minuten die Stille. Die Suche nach einem Buch, das ihr Aufschlüsse bezüglich der Edelsteine brachte, hatte sie aufgegeben. Egal welche Regale sie durchkämmte, sie wurde nie fündig. Dafür stachen ihr auffällig häufig Titel über die Göttergeschichte und -entstehung im Alten Ägypten ins Auge. Gelangweilt blätterte sie ein wenig in einem dieser herum und vertrieb sich so die Zeit bis zum Abendessen.
Auch in der Mensa traf sie nur vereinzelt auf menschliche Gesellschaft. Keine Spur von Elias oder seiner Schwester Julie. Obgleich sie wie der Rest der fehlenden Studenten noch zu Hause sein konnten, wurde Heather das Gefühl nicht los, dass etwas anders war. Sie aß nicht viel, stocherte in dem Auflauf herum und zog sich schließlich auf ihr Zimmer zurück. Die Koffer standen ordentlich an ihrem Bett, doch heute würde sie nicht mehr zum Auspacken kommen. Nach einer ausgiebigen Dusche kuschelte sie sich unter ihre Decke und strich diese über ihren Beinen glatt, um Platz für den Bernstein und den Perlmutt zu schaffen. Sogar in der Dunkelheit schienen sie zu leuchten und strahlten eine vertraute Wärme aus. Es bereitete ihr Freude, die Oberfläche mit der Fingerkuppe abzufahren und die feinen Muster zu einem fantasievollen Gesamtbild zusammenzufügen. Manchmal, wenn sie die Linien ganz sorgfältig betrachtete, schienen sie ihr eine Geschichte erzählen zu wollen. Eine Geschichte aus vergangener Zeit, als die Pharaonen noch über die Wüste regierten und die Götter verehrten. Schmunzelnd schloss Heather die Augen und freute sich seit langem wieder auf die morgige Vorlesung.
Eine Unruhe ergriff Heather und ihr fiel das Atmen schwerer. Wieso fehlte Cara noch immer? Sie würde nie die Vorlesungen schwänzen, aber sie hatte ihre Freundin den gesamten Tag noch nicht ein einziges Mal gesehen. Ihre unzähligen Anrufe würde sie auch nicht ignorieren. Jeder Versuch endete nur darin, dass der Signalton erklang, aber Cara nicht abhob. Ungehalten lief Heather die Gänge der Vorlesungsräume ab und stieß plötzlich mit jemandem zusammen.
»Entschuldigung«, keuchte sie atemlos und hob den Blick. Eine etwa zwei Jahre ältere Frau rieb sich den Arm. »Oh nein, hast du dich verletzt?«
»Nein, alles okay«, beruhigte sie Heather. »Bist du eine der Erstsemester?«
»Ja, das bin ich. Verzeihung noch mal.«
»Kein Problem. Was machst du denn hier? Deine Räume sind doch im ersten Stock.«
»Ah ... Ich suche eine Freundin«, Heather schaute sich in der Gruppe aus Zweitsemestern um, die sie gerade umringte. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass es so viele Leute waren, die sie nun musterten. »Darf ich fragen, ob Elias mit euch im selben Kurs ist?«
Die Zweitsemester tauschten ein paar Blicke aus und flüsterten miteinander, doch den konkreten Wortlaut konnte Heather nicht heraushören. Dann wandte sich die junge Frau wieder an sie.
»Elias studiert mit uns, aber wir haben ihn schon vor den Semesterferien nur selten gesehen. Anscheinend hatte er was Wichtiges zu erledigen, das seine Familie betrifft, oder so. Du kennst ihn, nicht wahr? Ich habe euch schon ein paar Mal zusammen auf dem Campus gesehen.«
»Ja, er hat meiner Freundin und mir an unserem ersten Tag die Akademie gezeigt. Seitdem sind wir ... befreundet. Ich hatte versucht, ihn anzurufen, aber er hat wohl kein Netz«, Heather überlegte kurz. »Wisst ihr zufällig, wo Julie ist?«
»Ne, leider nicht. Sie ist schon vor Elias nach Hause gefahren, jedenfalls hat er uns das so gesagt. Keine Ahnung, wir hatten bis jetzt auch keinen Kontakt mehr zu ihnen. Komisch, da Elias sonst immer so gesprächig ist.«
Heather verlagerte ihr Gewicht von der einen auf die andere Seite. Wieso wusste keiner, wo Elias sich aufhielt? Und seine Schwester schien ebenfalls nicht auffindbar zu sein. Sie erinnerte sich, dass er sie gesucht hatte, aber sie wäre doch nie im Leben darauf gekommen, dass Julie noch immer verschwunden war. Ein schlechtes Gewissen stellte sich bei ihr ein. In ihrem Kopf formte sich eine schleierhafte Idee, eine Ahnung. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und sie wischte diese Fantasie vorerst weg.
»Was Elias betrifft«, sagte die Frau. »Er kommt uns des Öfteren mal abhanden. Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen und bei seiner Schwester wird es genauso sein. Bisher sind sie immer wieder zurückgekommen« Ein Dozent betrat den Gang und öffnete der Gruppe die Tür. »Wir müssen dann. Man sieht sich!«
Heather hob zum Abschied die Hand. Der Ehrgeiz hatte sie trotz der dürftigen Informationen gepackt. Wenn sie Elias und Julie schon nicht finden oder kontaktieren konnte, musste ihr das doch zumindest bei Cara gelingen. Sie rannte geradezu in den Wohnkomplex der Stipendiaten und klopfte grob gegen die Zimmertür. Schritte waren dahinter zu vernehmen und sie betete, dass Cara ihr gleich im Türrahmen entgegenblickte.
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