Fünfzehn (2.1) - Jäger und Gejagte
»Renn verdammt nochmal!«, schrie ihr Nate zu, doch Heathers Beine fühlten sich so schwer an, dass sie kaum einen Schritt vor den anderen setzen konnte. Die Beiden preschten über die offene Fläche, verfolgt von den Lichtkegeln der Taschenlampen. Links und rechts sausten die alten Säulen an ihnen vorbei und Nate würde niemals stoppen. Nicht einmal die Gebäudemauern hielten ihn auf. Doch die junge Frau konnte nicht mehr laufen, geschweige denn springen. »Komm schon!«, brüllte er sie an.
Mit einem Ruck beförderte er Heather über die Mauer der Tempelruine. Auf der anderen Seite schlug sie unsanft auf, nur um im nächsten Moment am Arm in die Luft gerissen zu werden. Nate zerrte sie weiter, immer weiter fort von diesem Ort. Die Nacht verschluckte ihre Körper rasch, sodass sie ihre Verfolger erstmal abschütteln konnten. Fragte sich nur, für wie lange.
»Wer waren die?«, keuchte sie in einer kleinen Seitengasse Roms, nahe des Colosseums.
»Keine Ahnung ...«, sie neigte bei dieser trockenen Antwort den Kopf und musterte ihn eindringlich. »Fein, ich habe eine Vermutung, aber wir sollten zuerst zurück aufs Hotelzimmer. Sie wissen jetzt, dass wir hier sind und den Stein haben.«
Schweißgebadet betraten sie die Eingangshalle des Hotels. Zu dieser Uhrzeit saß glücklicherweise niemand mehr an der Anmeldung. Da Nate dem Fahrstuhl nicht traute und der enge Raum anscheinend eine Gefahr für sie darstellen könnte, stiegen sie die Treppen hinauf in den fünften Stock.
»Du weißt schon, dass ich keine Militärausbildung genossen habe, oder?«, erkundigte sie sich atemlos.
»In den Alpen und auf den Wanderungen hast du dich auch nicht beschwert«, entgegnete er wütend und strich sich den Schweiß von der Stirn. »Ich wollte schließlich nicht einmal mitkommen.«
Sie schwieg, wusste sie doch, dass er Recht hatte. Die Zwei hockten bereits seit Wochen aufeinander, ohne Kontakt zu Cara oder einem der anderen. Dass sie sich in Rom aufhielten, war ebenfalls ein Geheimnis und das sollte es auch bleiben. Sie suchten nach den Wächtersteinen der anderen Familien und Heather war froh, dass sie Nate überreden konnte, ihr zu helfen. Es war alles andere als leicht gewesen. Sie musste ihm vom Institut und ihrem Gespräch – nein ihrer Verhörung mit Raphael Freyer erzählen. Dabei ließ sie nicht aus, dass auch seine Familie in Gefahr sein könnte. Sie wollte nicht länger lügen, nur um an ihr Ziel zu kommen. Zumindest ihm musste sie alles offen legen.
Nachdem sie Nate jedes Detail gesagt hatte, stimmte er ihr überraschend schnell zu, sie zu begleiten. Sie hakte nicht weiter nach, war einfach erleichtert, sich nicht allein diesem Wirrwar zu stellen. Niemals würde sie ihm seine Aufopferung zurückzahlen können. Bisher hatten sie auch nicht allzu viel erreichen können. Sie reisten durch die Welt, immer auf der Suche nach Anzeichen auf die Wächter oder die ägyptischen Gottheiten. Nate kannte eine Hand voll alter Verstecke der Wächterfamilien aus Briefen und Unterlagen seiner Familie. Eines befand sich tief in den Alpen nahe, gut verborgen im Gestein. Ohne diese Informationen und Nates Wissen, wäre die Suche gleich zu Anfang gescheitert, da Heather keinen einzigen Anhaltspunkt gehabt hätte. Nur einen Wächterstein konnten sie ausfindig machen, dachte sie betrübt und fasste sich an die Hosentasche. Eine kleine Wölbung drückte sich gegen ihre Handfläche. Sie hatte den dunkelroten Granat also noch bei sich. Er gehörte nicht ihrem Stammbaum an, sondern Linus. Kein schlechter Fund, doch seine Kräfte würden ihr nichts bringen.
Im Zimmer angekommen, behielt er immer noch seine Lederjacke an und fasste sich auffällig oft an die linke Schulter. Heather beäugte ihn genau. Er verhielt sich paranoid, prüfte fünfmal das Schloss der Tür, ehe er sich auf dem Bett am Fenster fallen ließ. Ein schmerzverzerrtes Gesicht schaute vom Kissen auf und die junge Frau fasste einen Entschluss.
»Zieh das Hemd aus. Und die Jacke«, sagte sie in einem befehlerischen Ton.
»Ja, ja ich zeihe mein ... Bitte was?«
Verwirrte blickte er sie an und rückte etwas in Richtung Fensterfront. Weit käme er nicht. Heather würde sich auch nicht abwimmeln lassen, nicht, wenn er verletzt sein könnte.
»Jetzt zieh dich schon aus«, sagte sie mit Nachdruck und richtete sich aus. »Oder soll ich dir etwa dabei helfen?«
Sie musste schmunzeln, obwohl die Lage ernst war. Immerhin wurden sie mitten in der Nacht in einer alten Ruine verfolgt und das bis sie am Colosseum angekommen waren, wo sich selbst so spät noch immer viele Touristen aufhielten. Kein gutes Zeichen, wenn Fremde ihnen hinterher rannten und sie eigentlich nichts bei sich hatten. In der Ruine hatten sie keinerlei Hinweise auf die Wächter, jedoch einige Anzeichen ägyptischen Einflusses finden können. Jedenfalls blieb ihnen nichts anderes übrig, als in den kommenden Tagen weitere Tempelanlagen und Denkmäler abzuklappern, um ihrem Ziel – alle Wächtersteine zu finden – näher zu kommen.
Gerade als Heather an Nates Jacke herumzerrte, gab er nach und zog sie sich selbst aus. Sein hellblaues Hemd wies einen dunkelroten Fleck auf. Genau an seiner linken Schulter, an der das Blut offensichtlich seinen Rücken hinab gelaufen war.
»Wann ist das passiert?«, fragte sie besorgt, während er sich auch seines Hemdes entledigte. Ihre Hand berührte leicht die warme Haut. »Und wieso hast du mir das verschwiegen?«
»In dem Moment war es wichtiger, dass wir von da verschwinden.«
»Haben sie dir das angetan? Unsere Verfolger? Und woher kamen sie überhaupt?«
Nate schwieg, als würde ihn etwas davon abhalten, ihr die Wahrheit zu erzählen. Oder er konnte es ganz einfach nicht, wusste vielleicht tatsächlich nicht mehr als sie selbst. Dennoch verhielt er sich seit dem heutigen Abend sehr merkwürdig.
»Ich habe mich vermutlich auf der Flucht verletzt. Nichts weiter«, erwiderte er nach einer ausgiebigen Pause und wollte Heathers Hand von seiner Schulter nehmen, aber sie drückte seine Hand auf die Matratze zurück. »Wer auch immer sie waren, ich glaube kaum, dass es ein Zufall war, sie in der Ruine zu treffen. Natürlich werden diese Orte bewacht, aber diese Typen klebten förmlich an uns und sie sahen nicht so aus, als gehörten sie zum Wachpersonal. Sie müssen mindestens eine Ahnung von den Steinen haben, was nicht bedeutet, dass sie über die Wächter Bescheid wissen.«
»Und wir haben fast nichts erreicht«, das Mädchen senkte den Blick und krabbelte dann von Nates Bett. In ihrem Koffer lag ein Täschchen mit Pflastern, aber bei dieser Wunde würden sie nicht ausreichen. Also zerriss sie kurzerhand eines ihrer Oberteile.
»Was tust du?«, hörte sie Nate hinter sich, doch da war es schon zu spät. »Für diesen Kratzer musst du deine Kleider nicht opfern.«
»Schon in Ordnung, du hast ohnehin eine Menge bei mir gut.«
Alles, was sie in dieser Nacht gefunden hatten, beschränkte sich auf eine kleine winzige Inschrift, die sie nicht deuten konnten. Einen Augenblick hatte sie überlegt, Cara ein Foto davon zu schicken. Sie oder ihre Eltern hätten die Inschrift sicherlich übersetzten können, aber Heather genügte es, Nate in ihre Probleme hineinzuziehen. Cara sollte nichts davon wissen. Sie sollte sich keine Sorgen machen, auch wenn diese eventuell berechtigt wären.
Mit den Fetzen ihrer Kleidung verband sie Nates Schulter notdürftig. Das Blut trocknete bereits und er schien die Schmerzen gut zu verkraften. Wie hatte er sich nur verletzt? Heather erinnerte sich nicht an Schüsse oder Waffen, die ihre Verfolger bei sich hatten. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Was, wenn sie beobachtet wurden? Es bestand die Möglichkeit, dass sie weiterhin verfolgt wurden oder Schlimmeres.
»Außerdem ...«, setzte er an und schloss sofort wieder seinen Mund. Er kratzte sich am Hinterkopf, doch nun schaute ihn die Studentin neugierig an. »Außerdem sollten wir an deinen Fähigkeiten arbeiten.«
»Meinen Fähigkeiten?«
»Genau. Selbstverteidigung wäre ein Anfang.«
Begeistert stimmte Heather zu und nahm seine Hand in ihre, um sie zu drücken. Ein paar wenige Techniken hatte Nate ihr schon zu Beginn ihrer Reise gezeigt, aber sie wollte mehr. Besonders jetzt, wo sie beschattet wurden und sie Angst hatte, dass man ihnen etwas antun könnte.
Den nächsten Tag verbrachten die Beiden außerhalb der Stadt. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gelangten sie recht schnell und vor allem unauffällig nach Lido di Ostia. Der Strand eignete sich anscheinend wunderbar für das Training, das hatte zumindest Nate behauptet. Bei genauerer Betrachtung konnte sich die junge Frau gut vorstellen, dass der Sand weicher als eine Wiese oder gar Pflastersteine wäre.
»Okay«, sagte Nate etwas zu laut und räusperte sich, während er seinen linken Fuß im Sand vergrub. »Jetzt nimmt dir einen Stock und schlag auf mich ein.«
»Was?«, Heather schaute ihn verdutzt an und folgte seinem Blick zu einem kleinen Busch, dessen Triebe lange ausgetrocknet waren. »Ich werde dich ganz sicher nicht mit einem Stock verprügeln.«
»Na komm schon, oder möchtest du nichts lernen?«, er zog eine Augenbraue hoch und funkelte sie an, während sein Körper wie von allein eine abwehrende Pose einnahm.
»Das kann doch nicht dein Ernst sein?«, jammerte sie und schritt zu dem kleinen Busch. »Ich möchte ja etwas lernen, aber das muss auch anders gehen«, trotzt ihrer Wiederrede knickte sie einen der dickeren Äste ab. Allerdings war das Innere noch längst nicht vollständig vertrocknet und sie hatte Mühe, den letzten faserigen Strang vom Ende zu trennen. »Wirklich?«, vergewisserte sie sich und lief auf Nate zu. »Und du wirst mir das später nicht vorhalten?«
»Du solltest dir weniger Sorgen um mich und mehr um dich selbst machen. Halt den Stock höher und etwas schräg, sonst erwischt du mich nie.«
Sie versuchte den Ast so zu halten, wie er es wollte und schlug unkoordiniert nach seinen Beinen. Der sandige Untergrund erschwerte ihr die Bewegungen, doch Nate schien damit keinerlei Probleme zu haben. Er wich ihren Angriffen mühelos aus, hätte sogar einige Gegenschläge ausführen können und tat das schließlich auch. Als Heather mit dem Gesicht voraus in den Sand fiel, konnte er sich nicht mehr zusammenreißen und lachte laut los.
»Ja, lach du nur«, entgegnete sie ihm und wischte sich über die Lippen, die mit winzigen Sandkörnchen bedeckt waren.
Immer wieder startete sie neue Versuche, ließ sich von ihren Fehlschlägen nicht abbringen und hielt sie an Nates Hinweise. Sie lernte schnell und bemerkte überhaupt nicht, wie sie sich seinen Bewegungen anpasste. Während die Sonne langsam unterging, gelang es ihr tatsächlich ein Treffer gegen seinen Arm. Verblüfft starrte er sie an, ehe sie beide sich freudig in die Arme fielen. Sie hatten einen ersten Schritt gemeinsam bestritten, der Heather hoffentlich dabei half, eine Wächterin zu werden.
Jetzt, wo es dunkel wurde und die Menschen die Straßen verließen, konnten sich die Wächter freier bewegen. Sie fuhren eine ganze Weile, bis sie zurück am Colosseum abgesetzt wurden. Von dort aus gingen sie zu Fuß weiter Richtung Osten, wo das Domus Aurea lag. Eine Ruine, die einst ein riesiger Palast gewesen war und seit dem Jahr 2000 für Besucher gesperrt wurde. Feuchtigkeitsschäden sollen der Grund dafür gewesen sein, aber Nate glaubte nicht daran. Die wenigen Hinweise, die er noch aus den Briefen besaß und die sie gefunden hatten, deuteten seiner Meinung nach darauf hin, dass einer der Wächtersteine in dieser Ruine sein musste. Die Studentin hegte hingegen noch ihre Zweifel.
In den Gassen kamen ihnen einige Leute in schönen Kleidern entgegen. Besonders eine Frau zog viel Aufmerksamkeit auf sich, aber Heather war sich nicht wirklich sicher, ob es an ihrem funkelnden Paillettenkleid oder daran lag, dass sie vielleicht eine Berühmtheit war. Ihr Blick schweifte zu Nate, doch der interessierte sich wenig für die hübsche Frau. Stattdessen schnappte er sich Heathers Hand und zerrte sie weiter durch die Menschen.
Das Domus Aurea wirkte auf das Mädchen etwas unbeeindruckend. Wahrscheinlich weil sie sich unter einem Palast etwas anderes vorgestellt hatte als einen offenen Halbkreis aus Wänden und Fenstern. Falls es sich um Fenster handelte, sicher war sie sich da nicht. Ihr Begleiter bemerkte ihre Skepsis und ließ ihre Hand los.
»Die Domus Aurea befindet sich unter den Ruinen der Therme«, erklärte er ohne sie anzusehen. »Der ehemalige Palast umfasst viele Hektar, soweit ich weiß und im Untergrund gibt es einige Gänge, die wir vielleicht noch nutzen können. Jedoch werden alle Eingänge gut verschlossen sein und wir sollten uns auch vor den Nachtwächtern in Acht nehmen.«
»Nachtwächter? Die gibt es noch?«
»Klar. Teils nur noch als Touristenattraktion, aber manche machen ihre Arbeit weiter, weil es ihnen gefällt und sie wissen, was sie beschützen.«
Auf einmal schob er sie hinter sich. Ein kleines, gelbliches Licht bahnte sich seinen Weg an den Straßenlaternen vorbei und in die Ruinen hinein. Die Person kannte scheinbar die versteckten Eingänge und verhalf den beiden, ihren Weg zu finden. Wie lauernde Katzen hockten sie sich hinter die halb eingestürzte Mauern und beobachteten den Mann, wie er eines der schweren Metalltore aufschloss. Ungefähr fünf Minuten später schlich Nate um die Mauer herum, um zu schauen, ob sie ungesehen passieren konnten. Mit einer Handbewegung winkte er Heather zu sich, die auf Zehenspitzen zu ihm tapste.
»Bleib dicht hinter mir«, flüsterte er und öffnete das Tor, das nur angelehnt war. »Wir können keine Taschenlampe benutzen, sonst könnte uns jemand auf die Schliche kommen. Ich will weder einem Nachtwächter noch einem unserer gestrigen Verfolger begegnen.«
Die junge Frau nickte nur und griff das Ende von Nates Jacke. So würde sie ihn sicher nicht in der Dunkelheit verlieren können. Schritt für Schritt tasteten sie sich tiefer in die Ruine hinein. Die Luft fühlte sich klamm an und roch muffig. Hier und da stießen sie gegen Absperrungen, die als Begrenzungen für die Besucherführungen dienten. Wie gut, dass sie keine Besucher waren, dachte Heather und kletterte über eine hinweg. Ihr Perlmuttanhänger glühte schon eine Weile auf ihrer Haut. Eventuell weil ein weiterer Wächterstein in der Nähe war.
Nun folgte Nate ihr, der sie zum ersten Mal auf ihrer Reise etwas allein entscheiden ließ. Gerade am Anfang wollte er sie nicht aus den Augen lassen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er sie wahrscheinlich in den Hotelzimmern eingesperrt und die Suche ohne sie begonnen. Sie atmete aus und war froh, dass er ihr allmählich vertraute und das nicht nur, weil sie beide Wächter waren. Langsam konnte sie behaupten, dass zwischen ihnen eine Freundschaft entstand, in der sie nicht länger von seinen Fähigkeiten und seinem Wissen profitierte, sondern in der sie gemeinsam etwas anpackten. Vor allem nach ihrem kleinen Training fühlte sie sich ihm näher.
Begleitet von einem dumpfen Knall stieg Heather gegen eine niedrige Decke, die genau vor ihren Füßen begann. Nate reagierte schnell und fing sie auf, bevor sie den Boden auch nur berühren konnte.
»Alles klar?«, fragte er sofort und richtete sie wieder auf.
»Geht schon ... Nur meine Stirn schmerzt.«
»Ich denke, wir sind sicher genug, dass wir jetzt die Taschenlampe einschalten können.«
Mit einem leisen Klick warf Nate einen hellen Kreis auf den Untergrund vor ihren Füßen und führte ihn an der Wand links von sich hinauf. Die Decke wurde hier wirklich niedriger und die Studentin hatte genau den Türrahmen in das nächste Zimmer erwischt. Plötzlich wurde sie von dem Licht geblendet.
»Hey, was machst du?«, empörte sie sich und hielt eine Hand vor den Schein.
»Ich muss mich nur vergewissern, dass dein Kopf in Ordnung ist.«
Vorsichtig drückte Nate ihre Hand nach unten und begutachtete die Verletzung. Sein Gesicht nahm komisch Züge an, die sie zuvor nie bei ihm gesehen hatte. Er kniff ein Auge leicht zusammen und biss auf seiner Unterlippe herum, ehe er seufzend den Lichtkegel an die Wand warf.
»So schlimm?«, erkundigte sie sich verunsichert.
»Nein, nein. Alles okay. Lass uns weitergehen.«
»Das klang jetzt wenig überzeugend«, erwiderte sie und hielt sich an seiner Jacke fest.
»Ich bin nur nicht so gut in solchen Dingen. Das weißt du doch«, er stoppte kurz und ließ sie zu ihm in den Raum kommen.
Sie befanden sich in einem kreisrunden Zimmer, das von allen Seiten durch Eingänge gekennzeichnet war. Wie ein runder Flur, stellte sie fest und schritt hinein. Es gab eigentlich keine Wände, nur die Türbogen zu den nächsten Gängen, die finster gegen den ausgeleuchteten Raum erschienen. Heather wanderte weiter umher und stand schließlich in der Mitte, die ein wenig heller wirkte.
»Schau mal nach oben«, sagte Nate schmunzelnd und als Heather das tat, stand ihr Mund offen.
»Der Sternenhimmel«, erwiderte sie staunend, obgleich dieser kaum durch das milchige Glas – das nachträglich bei der Restauration eingesetzt worden sein musste – zu erkennen war. »Aber wie ... Wir sind doch im Untergrund, unter der Thermenruine.«
»Wahrscheinlich sind wir mittlerweile irgendwo auf einem der Felder. Die Ruinen sind großflächig und erstrecken sich über die Hügel. Nero war eben größenwahnsinnig.«
Die Fresken an der Decke fielen ihnen erst jetzt richtig auf. Viel Farbe war ihnen nicht geblieben, doch die Sonne und die bläulichen Wolken hoben sich deutlich von dem Rest ab. Als ob sie ebenfalls zu einem späteren Zeitpunkt nachgetragen wurden. Heather wurde stutzig und gleichzeitig spürte sie die Hitze des Perlmutts an ihrem Körper.
Sie kniete sich auf die Erde und wischte den Staub zur Seite. Nichts außer Gestein. Dann versuchte sie es an weiteren Stellen, bis Nate sich zu ihr hockte und fragend musterte. Sie atmete aus und plumpste auf ihren Hintern. Mit den dreckigen Fingerspitzen fischte sie ihren Stein heraus und hielt diesen vor sein Gesicht.
»Er glüht schon eine Weile«, nuschelte sie. Eine zermürbende Erschöpfung überkam sie auf einmal und sie klang weinerlich. »Ich dachte, hier könnte einer der Steine vergraben sein. Die Deckenfresken wirken auf mich wie der Himmel. Da kann einer der Wächtersteine zum Himmelstor nicht weit sein oder?«
»Kann gut sein. Immerhin reagiert dein Stein auf etwas.«
Ohne ein weiteres Wort fegte nun auch Nate den Dreck auf dem Boden mit seinen Ärmeln weg. Trotz ihrer Zusammenarbeit mussten sie sich Zeit lassen, denn der Staub flog ihnen rasch um die Ohren und legte sich dann wieder auf den Boden. Stöhnend schob Heather einen Haufen Dreck sachte in einen der Eingänge und erschrak.
»Nate, weißt du noch von wo wir gekommen sind?«
»Sicher«, antwortete er nüchtern und säuberte seine Ecke weiter. »Ich habe den Eingang markiert, der mit der Einkerbung am Fuße des Bogens.«
»Du hast eine alter Ruine beschädigt?«, hakte sie neckend nach. »Das hätte ich nicht von dir erwartet.«
»Sehr witzig«, er hustete, hatte etwas von dem aufsteigenden Staub eingeatmet. »Erstens wird das niemandem auffallen und zweitens hattest du schon eine kleine Panikattacke, gib's zu.«
Sie lachte leise und widmete sich dann wieder dem Boden, da spürte sie unter ihren Fingern endlich etwas. Eine ganz feine Linie zeichnete sich auf dem Gestein ab. Sie führte ein Stückchen zur Mitte, aber nicht genau unter das Deckenfenster. Nate kam zu ihr herüber, doch außer dem Gestein war nichts zu sehen.
»Wir müssen die Ruine wohl weiter schänden, um an den Stein zu kommen«, seufzte das Mädchen und legte ihren Wächterstein auf die freie Stelle vor ihr. »Er ist immer noch heiß. Dort muss einfach etwas sein.«
Nate nickte und kramte sein Messer aus der Hosentasche. Es dauerte eine Weile, bis er die Oberfläche abschaben konnte und ganze zwei Stunden, bis er ein Loch gegraben hatte. Darin befand sich offenbar etwas Hartes, eine kleine Truhe aus seltsamem Metall. So ein Material hatte sie noch nie in den Händen gehalten.
Nate brach die Scharniere auf und dabei brach der Deckel gleich komplett ab. Vorsichtig überreichte er Heather das Kästchen. Seine Augen funkelten im Licht der Taschenlampe, die neben ihnen ruhte. Ein Blick genügte und sie wusste, dass dieser violette Stein zum Himmelstor gehörte. Sie hatte also die richtige Ahnung gehabt und freute sich sichtlich.
»Ein Amethyst«, sagte Nate beiläufig und knetete seine Hände. »Er repräsentiert eine der unteren Familien, die dem Himmelstor zugehörig sind und jetzt ist er deiner.«
Sie strich leicht über die glatte Oberfläche und nahm ihn an sich, während der Perlmutt an ihrem Hals erkaltete, als habe er endlich ein Teil seiner Selbst wiedergefunden. Aber sie konnte es verstehen, denn auch sie fühlte sich nun vollständiger. Ein seltsames Gefühl, wenn sie bedachte, dass sie erst seit kurzem von ihrem wahren Leben als Wächter wusste. Wie konnte sie das all die Jahre nur nicht bemerkt haben?
»Wieso haben sie den Wächterstein hier versteckt, nein in den Boden eingearbeitet? Sind die Gefahren für uns wirklich so groß?«, wendete sie sich an Nate, der die Taschenlampe aufhob und zum Ausgang wollte. »Einen so wertvollen Gegenstand zu verstecken, halte ich für sinnvoll, aber ihn gleich einzumauern?«
»Wir sollten uns lieber Gedanken darüber machen, was so gefährlich sein konnte, dass sie zu so drastischen Mitteln gegriffen haben. Außerdem-.«
Blitzschnell ertönte ein Knall, die Taschenlampe ging zu Boden und erlosch. Nate konnte nicht einmal seinen Satz beenden, da hatte jemand ihn mit etwas geschlagen, das einem Schlagstock ähnelte. Der Nachtwächter?
»Shit«, fluchte er irgendwo vor ihr. »Lauf Heather!«
Daran dachte sie nicht im Traum und haschte in die Dunkelheit hinein. Sie wollte nicht kämpfen, einen Kampf gegen eine bewaffnete Person würde sie niemals gewinnen, aber sie würde Nate nicht zurücklassen. Allerdings griff ihre Hand ins finstere Nichts. Sie suchte auf der Erde nach einem warmen Körper, fand jedoch nichts. Stattdessen trat ihr jemand auf die Hand und stolperte über ihren Rücken. Sie kniff die Augen zusammen, hörte die Person auf den Boden aufkommen und hoffte einfach, dass es nicht Nate war.
»Was hast du an lauf nicht verstanden?«, beschwerte er sich und half ihr auf. »Zumindest warst du ein guter Klotz im Weg für ihn.«
»Wer ist das?«
»Jedenfalls nicht der Nachtwächter. Wir müssen verschwinden, schnell und leise.«
Obwohl sie sich um seine Kopfverletzung kümmern wollte, musste das warten. Die Gefahr, von der sie eben noch gesprochen hatten, war scheinbar gekommen und meinte es nicht gut mit den jungen Wächtern. Was, wenn ihre Verfolger darauf gesetzt hatten, dass sie diesen Ort und den Stein aufsuchen würden? Dann waren sie ihnen genau in die Falle gegangen.
Dank Nates gutem Orientierungssinn und seinen Markierungen gelangten sie ohne weitere Verzögerungen an die frische Luft. Doch leider nicht allein. Zwei Männer erwarteten sie nahe dem Eingang in den Untergrund. Einer ließ seinen Baseballschläger immer wieder in seine offene Hand fallen. Der andere grinste und zückte ein Messer.
»Okay, hör mir zu«, wies Nate Heather an, allerdings konnte sie sich kaum auf ihn konzentrieren. »Du rennst weg, soweit du kannst? Dieses Mal aber wirklich, verstanden?«
Mit Tränen in den Augen schaute sie zu ihm auf und er schien zu wissen, was sie sagen wollte, aber nicht konnte. Er lächelte sie aufmunternd an, als könne nichts Schlimmes passieren. Ja, dachte sie, wenn da keine Schläger mit Messer und Baseballschläger vor ihnen ständen, würde sie ihm das auch glauben. Dann gab er ihr einen keinen Schubs in die entgegengesetzte Richtung, sodass ihre Instinkte den Rest übernahmen.
Sie rannte los, ohne Ziel, einfach nur weg von der Gefahr. Und von Nate, der sich ihnen nun stellen würde. Allein. Wieso konnte sie ihm keine Hilfe sein? Wie konnte er in so einer Situation nur so gelassen bleiben, alles realistisch sehen und sie mit den Steinen wegschicken? Hatte er wohl möglich schon einmal gegen diese Personen gekämpft?
Während ihr die Tränen über die Wangen liefen, trugen sie ihre Füße immer weiter und sie erinnerte sich daran, wie sie immer in ihrer Heimatstadt gejoggt war. Warum sie den Wind in ihren Haaren damals so liebte und wieso sie ihn in diesem Moment so verfluchte. Sie lief davon, ließ einen Freund im Stich und fühlte sich schlechter denn je. Ihr war danach, sich in den nächsten Busch zu hocken und sich zu übergeben, aber ihr Körper hielt sie davon ab. Sie musste weiter, immer weiter und weiter weg.
Erst eine Mauer vor dem Seitenarm des Tibers stoppte sie. Keuchend stemmte sie ihre Hände auf diese und versuchte, ihren Puls unter Kontrolle zu bekommen. Sie rang um Luft, war schon seit Langem nicht mehr so schnell so weit gelaufen. Zwei Kilometer in weniger als zehn Minuten? Sie wusste es nicht genau, nur eines schien klar: Sie war nicht allein hier.
Einer der Männer hatte sie hierher verfolgt. Den ganzen Weg im gefühlten Dauersprint. Abermals war sie den Tränen nahe, doch jetzt konnte sie nicht losheulen. Keiner würde sie um diese Uhrzeit schreien hören und falls doch, wäre es sicherlich schon zu spät. Also blieb ihr nur noch der Kampf.
Lachend fuchtelte der Typ mit seinem Messer vor sich herum, rief ihr etwas in Italienisch zu, was sie nicht ansatzweise verstand. Zurückweichen konnte sie auch nicht mehr. Ihre Muskeln spannten sich an, als ihr eine Idee kam. Die einzige Möglichkeit, einen Vorteil aus diesem Augenblick zu ziehen. Sie atmete tief ein und pfiff dem Mann zu. Er sollte wissen, dass sie nicht länger fliehen würden. Ein fieses Grinsen verzerrte sein Gesicht und mit einem großen Satz preschte er auf sie zu.
Still halten, ermahnte sie sich und schaute zu, wie der Mann schnell näher kam. Warte, noch nicht, schrie sie sich selbst zu und verkrampfte sich. Gerade als sie seine Hand nach ihr greifen sah, duckte sie sich, ließ sich auf die Erde fallen und rollte zur Seite. In einem hohen Bogen flog der Mann über die Mauer, die ihm quasi die Beine unter seinem Körper weggezogen hatte, und landete mit einem lauten Platscher im Wasser des Tibers.
Eilig stürmte Heather zurück zum Domus Aurea. Sie musste nach Nate suchen. Wenn ihm etwas zugestoßen war, könnte sie sich das niemals verzeihen. Nur noch ein weiterer Straßenblock, dann wäre sie da. Ihre Beine zitterten - sie wusste nicht ob aus Angst oder von der Erschöpfung. Viel mehr als schnell gehen konnte sie nicht mehr. Ihr Atem ging unregelmäßig, ebenso ihr Herzschlag und in ihrem Augenwinkel sprangen dunkle Blitzte umher. Wie viele Meter denn noch?
Eine Hand packte sie am Arm und riss sie in eine Seitengasse, kurz nach dem Colosseum. Sie wehrte sich vehement, trat nach ihrem Angreifer und sackte plötzlich gegen dessen Oberkörper. Ihre Muskeln gaben allesamt nach. Sie konnte sich nicht mehr bewegen.
»Heather«, erklang Nates Stimme kratzig neben ihrem Ohr. »Dir geht es gut, oder?«
Weinend fiel sie ihm um den Hals und erstickte seine weiteren Fragen. Er zögerte, bevor er die Umarmung erwiderte und sich sachte gegen die Wand lehnte. Auch seine Atmung ging viel zu schnell.
»Wenn ich mich nicht irre, solltest du weglaufen«, flüsterte er. »Du bist wirklich nicht verletzt, oder?«
»Nein, alles bestens«, entgegnete sie und erwiderte seinen Blick. »Was ist mit dir? Ein paar Körperteile von dir sind ja noch nicht verletzt.«
Sie streckte ihre Hand nach seinem Kopf aus, wo eine frische Platzwunde klaffte. Ganz sanft presste sie den Ärmel ihres Pullovers darauf. Unter der Berührung zuckte er zusammen und verkniff die Augen.
»So ramponiert war ich lange nicht mehr«, gab er zu. »Ach, was ist mit dem anderen Kerl, der dir gefolgt ist?!«
»Keine Sorge, der schwimmt jetzt im Tiber«, er betrachtete sie skeptisch. »Er ist eben ... hineingefallen. Ich habe nicht mal nachhelfen müssen.«
Liebevoll tätschelte er ihren Kopf. In der Ferne bellte ein Hund und die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg über die Hausdächer. Sie beide konnten kaum noch die Augen aufhalten und schleppten sich aneinander gestützt zu ihrem Hotel. Bestimmt sahen sie schrecklich aus, dennoch ließen die Bediensteten sie kommentarlos passieren. In ihrem Zimmer säuberten sie ihre Wunden und fielen jeder in sein Bett.
Sie schliefen bis das Hotelpersonal am frühen Nachmittag das Zimmer zum Putzen betrat. Obgleich es ihnen frei stand, diese wegzuschicken, entschieden sie sich, selbst zu gehen. In der Café-Lounge des Hotels setzten sie sich zusammen an einen Tisch. Nate bestellte sich ein Stück Kaffeetorte und Heather nahm zu einem Stück Zitronenkuchen noch eines mit Erdbeeren.
»Übrigens«, startete Nate das Gespräch. Seit ihrem Zusammentreffen in der Gasse hatten sie nicht mehr miteinander geredet, weil ihnen die Kraft dazu fehlte. »Ich habe unseren Angreifern etwas abnehmen können.«
Er reichte ihr einen zerknitterten Zettel, den sie ungeduldig auseinander faltete. Das Geschriebene war nicht nur unleserlich, sondern auch noch in Italienisch. Kopfschüttelnd gab sie es ihm zurück.
»Wir müssen wohl jemanden finden, der uns das übersetzt«, stöhnte sie.
»Mein Freund Patrick kann Italienisch. Zumindest hat er das immer den Frauen erzählt, die er verführen wollte. Ich schicke ihm ein Bild davon. Ihm vertraue ich weitaus mehr als einem Fremden. Wir sollten ohnehin vorsichtiger sein, damit sowas wie gestern nicht noch einmal passiert. Oder bis wir wissen, wer diese Typen sind.«
Nachdem sie sich gestärkt hatten, klingelte Nates Handy auch schon. Sein Freund schien sehr zuverlässig und schnell zu sein. Die Übersetzung ergab nicht allzu viel Sinn. Es handelte sich um einzelne Worte, die beinahe zusammengepuzzelt auf dem Papier verteilt worden waren. Sie grübelten den gesamten Nachmittag über die Bedeutungen und möglichen Zusammenhänge.
»Gläserne Pyramide«, las Heather zwei Worte vor, die im oberen Teil eines dreieckigen Schriftzugs angeordnet waren. »Die Ägypter kannten damals doch noch kein Glas und eine Pyramide wäre daraus auch ziemlich zerbrechlich. Besonders, wenn sie dort ihre Toten beerdigen wollten, ist das ein unlogisches Material. Wieso dann gläsern? Und das Institut können sie nicht meinen, das ist nicht dreieckig.«
»Es kann sein, dass die Anordnung keinen Grund hat.«
»Ach, komm schon«, ihre Stimme nahm einen quengelnden Ton an. Erst die nervenaufreibende Verfolgungsjagd, der Kampf und nun auch noch Rätselraten. Ihr Kopf stand kurz vor dem zerplatzen und sie hätten dem Personal ungern eine solche Sauerei bereitet. »Und was steht da? Wieso hat Patrick Francia nicht übersetzt?«
Nate lachte laut auf, so laut, dass er rot anlief, als sich einige andere Gäste nach ihnen umdrehten. »Francia bedeutet Frankreich.«
Zuerst war Heather ein bisschen beschämt, dass sie sich das nicht herleiten konnte und sie machte sich etwas kleiner. Dann erkannte sie urplötzlich den Sinn hinter dieser Konstruktion und den Worten dahinter.
»Gläserne Pyramide und Frankreich. Erkennst du es?«, fragte sie Nate aufgeregt.
»Der Louvre?«
»Was denn sonst? Das muss es sein, aber was könnten sie im Louvre wollen?«
»Hm, ich habe in den Unterlagen zu Hause einige Briefe einer Wächterfamilie aus Frankreich gefunden. Sie schrieben offenbar oft mit einem meiner Vorfahren, viel mehr konnte ich mit gebrochenen Französisch nicht verstehen.«
»Na dann, auf nach Frankreich!«
Nate wirkte nicht so begeistert wie Heather, packte aber ohne Murren die Koffer und setzte sich mit ihr in den nächsten Flieger nach Frankreich. Heather mochte Frankreich noch nie sehr, vermutlich weil sie die Sprache nicht sprach. Ein paar Mal hatte ihre Mutter sie dorthin mitgenommen, für eigene Nachforschung meinte sie damals, aber eigentlich wollte sie sich nur in den Boutiquen umsehen. Als Kind war Shopping im überfüllten Paris der reinste Horror und wenn sie sich geistig in diese Situation zurückversetzte, bekam sie eine Gänsehaut.
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