Elf (2) - Offenbarungen
Der Wagen rauschte nahezu geräuschlos über die Autobahn und durch die Nacht. Einige Stunden waren bereits ins Land gezogen und weitere würden folgen. Allmählich krochen die ersten Sonnenstrahlen mühselig am Horizont hinauf und färbten das dunkle Blau in Rot- und Orangetöne. Heather war sich unsicher, wie weit diese Wächterfamilie wohl in der Einöde lebte. Jedenfalls hatten sie die Großstädte hinter sich gelassen und sie sah nur noch große, dunkelgrüne Nadelwälder. Hin und wieder blitzten brach liegende Felder zwischen ihnen auf, doch diese bildeten die Ausnahme. Sie döste zwischendurch immer wieder ein, denn die letzten Tagen hinterließen auch bei ihr die ersten Schwächeerscheinungen. Die ganze Zeit über fühlte sie mit Cara mit, teilte ihr Leid, auch wenn es nur ein winziges Stückchen war, dass sie ihrer Freundin abnehmen konnte.
Plötzlich fuhr der Wagen auf die Ausfahrt zu und von der Autobahn herunter. Meter hohe Bäume türmten sich von beiden Seiten auf. Ihre Stämme standen recht dicht an der Straße und Heather reckte ihren Kopf näher an die Scheibe. Am Horizont ragten Berghänge hervor, deren Spitzen schneeweiß erstrahlten. Wo war sie nur?
»Junge Dame«, meldete sich der Fahrer zu Wort. »Sind Sie sich sicher, dass Sie zu dieser Adresse wollen?«
»Ja«, erwiderte sie rasch. »Warum? Gibt es ein Problem?«
»So könnte man es auch nennen«, er lenkte scharf ein und kam in einer kleinen Gasse nahe eines Waldpfades zum Stehen. Dann drehte er sich zu ihr um. »Weiter kann ich Sie leider nicht bringen. Nach meinem Navi müsste dieser Weg zu der Adresse führen. In fünf Kilometern, plus minus ein bisschen.«
Heather legte den Kopf schief und prüfte die Umgebung. Hier gab es rein gar nichts. Cara und sie hatten sich zwar bereits gedacht, dass die Cordes in einer sehr abgelegenen Gegend wohnen würden, doch diese Einöde übertrumpfte ihre Vorstellungen. Sie seufzte.
»Mir wäre es lieber, wenn ich Sie wieder zur Akademie fahren würde.«
»Nicht nötig«, wehrte sie ab und stieg aus dem Wagen. »Sie müssen nicht auf mich warten. Es kann eine Weile dauern und ich rufe später noch mal an, wenn ich abgeholt werden möchte.«
Der Fahrer lugte aus dem Fenster heraus und nickte wenig erfreut. Trotzdem ließ er den Motor aufheulen und verschwand hinter der nächsten Kurve. Heather wiederum zog den Träger ihrer Tasche enger und betrat den losen Waldweg. Nach wenigen Schritten fürchtete sie sich. Die Bäume wuchsen so dicht, dass kaum Sonnenlicht durch das Nadeldach über ihr durchkam. Sie achtete genau darauf, wo sie hintrat und verwarf schnell den Gedanken, diese Strecke zu joggen.
Allmählich fragte sie sich, ob sie nicht falsch abgebogen sei, aber da fiel ihr wieder ein, dass es gar keine Abzweigungen gab. Ihre Augen untersuchten die Umgebung. Normalerweise standen in regelmäßigen Abständen kleine Holzschilder oder Ähnliches, doch in diesem Waldstück gab es keinerlei Zeichen. Sie wusste nicht, wo sie war und wohin sie lief. Wahrscheinlich würde sie sich hier elendig verlaufen.
Allerdings kam es anders. Hinter einer Reihe Fichten blitzte die Reflexion in einer Fensterscheibe auf. Heather schlüpfte durch die harzigen Bäume und landete auf einem gepflasterten Weg, der zu einem Haus führte. Ein Haus, wiederholte sie in Gedanken. Sie hatte es tatsächlich geschafft einen Ort zu finden, der offiziell gar nicht existieren soll.
Die junge Frau drückte die goldene Klingel. Niemand öffnete und es schien auf keine Menschenseele zu Hause zu sein. Sie fluchte kurz und leise vor sich hin, wanderte auf und ab. Immer machte ihr das Schicksal, eine höhere Gewalt einen Strich durch die Rechnung. Es wäre ja auch zu schön gewesen, wenn sie ohne weitere Probleme und Umschweife an ihr Ziel gekommen wäre.
»Hey«, eine raue Stimme ertönte hinter ihr. Eine männliche Stimme, die auf sie zukam. Eilig wand sie sich zu dem Fremden um. Ein junger Mann von großer Statur trat an sie heran. Er besaß kurze blonde Haare und haselnussbraune Augen, die sie argwöhnisch musterten. »Wer bist du?«
»Heather McCarthy«, erwiderte sie schüchtern und betrachtete ihre Füße. Das Ganze sah vermutlich seltsam aus. »Verzeihung, aber-.«
»Was machst du hier?«, unterbrach er sie forsch.
»Ich ähm ... Na ja, ich suche nach der Familie Cordes.«
»Warum?«
»Weil ich Antworten möchte.«
»Antworten?«, er zog eine Augenbraue hoch, so nah war er ihr bereits und eine eigenartige Spannung lag zwischen ihnen. Dass sie nicht zurückwich, schien ihn zu stören. »Was für Antworten willst du?«
»Wohnst du hier?«
Er schwieg und seine rechte Hand schoss an ihrem Kopf vorbei, knallte donnernd gegen die Haustür. Heather kniff vor Schreck die Augen zusammen und machte sich kleiner. Als sie ihn wieder anschaute, schlug ihr eine Welle aus Aggression entgegen.
»Was ist dein Problem«, brach es aus ihr heraus. Ihre Furcht übernahm die Kontrolle und all ihre Manieren rutschten in den Hintergrund. »Willst du mir etwa die Nase brechen?«
Der Typ schreckte nun zurück, obgleich er ihre Angst bemerkt hatte. Dennoch überraschte ihr Entsetzten, ihre Gegenwehr ihn offensichtlich sehr. Er biss sich auf die Unterlippe und rammte seine Hacke in den weichen Waldboden. Heather strich sich über den Arm, der von einer Gänsehaut übersät war, das spürte sie sogar durch die dicke Jacke.
»Entschuldige«, nuschelte er schließlich. »Was ... Wie kann ich dir weiterhelfen?«
Etwas tollpatschig schlenderte er an ihr vorbei, hielt Abstand und schloss die Tür auf. Dann winkte er sie herein. Zögerlich ging sie in das mediterran eingerichtete Wohnhaus. Eine Treppe bestehend aus einem orange schimmernden Holz führte in den ersten Stock und die Wand wies immer wieder Steinornamente auf. Der junge Mann lief weiter und Heather folgte ihm bedacht, keinen weiteren Fehler zu begehen, der ihn verärgern könnte. Im Esszimmer hielt er an und stellte sich an die Glastür zum Hinterhof.
»Würdest du mir auch deinen Namen verraten?«, fragte sie vorsichtig. »Es ist seltsam, dich nicht ansprechen zu können.«
»Nate«, erwiderte er ohne sie anzugucken. »Nate Cordes.«
Aus Heathers Richtung erklang ein freudiges Quicken und sie hielt sie eilig eine Hand vor den Mund, damit er ihr Lächeln nicht sehen konnte. Doch scheinbar erkannte er es und drehte sich zum Fenster, schüttelte den Kopf. Sie war einfach erleichtert, an den Richtigen geraten zu sein.
»Also, ich bin hier, um etwas über euch zu erfahren. Über eure Familie.«
»Was?!«, wie eine Dampfwalze stürzte er auf sie zu. »Weshalb solltest du, wer auch immer du bist, etwas von uns wissen wollen? Wie hast du dieses Haus überhaupt gefunden?«
Heather hob beschwichtigend die Arme und erklärte Nate alles, was sie wusste. Sie erzählte von dem Bernstein, der ihre Haut vor Kurzem noch verbrannte und dem Perlmutt, den ihre Eltern ihr geschenkt hatten. Auch von den Inschriften aus einem Tempel, die von den Wächtern und den Wächtersteinen berichteten. Murrend gab er sich damit zufrieden, tigerte unruhig durch den Raum. Anscheinend machte er sich Sorgen. Er hatte sie sehr seltsam und abweisend verhalten, als sie andeutete, dass sie seine Familie suche. Den Grund dafür würde sie hoffentlich in den nächsten Minuten erfahren.
»Sag mal«, setzte er an. »Hast du keine Angst?«
»Vor dir? Nun ja, Respekt schon, aber keine Angst. Warum fragst du?«
»Ich bin nicht oft unter Menschen und schon gar nicht«, er atmete durch. »Frauen sind mir quasi fremd. Daher weiß ich nicht, wie ich mich verhalten soll.«
Heather lachte, aber sie lachte ihn nicht aus. Nate beobachtete sie, ihre Bewegungen und lauschte ihren Worten ungeahnt aufmerksam. Sie empfand seine ungeschickte und vorsichtige Art als erfrischend, wenn auch etwas komisch.
»Fein, ich beiße jedenfalls nicht. Behandel mich einfach so, wie du auch mit deinen Freunden umgehst. Um zu meiner eigentlichen Frage zurückzukommen ...«
»Ach ja«, er näherte sich ihr zögernd. »Die Steine sind an uns gebunden. Jede Familie besaß einst einen. Sie verbinden uns sowohl mit den Essenzen der Götter als auch mit den Kräften, die in uns wohnen. Darüber hinaus gab es vor vielen Jahren zwölf Familien, die beinahe alle ausgerottet wurden. Man hört Gerüchte, dass die drei Hauptfamilien noch leben sollen ...«, Nate öffnete die Hand und Heather legte den Perlmuttanhänger in seine Handfläche. »Hm. Der Januar.«
»Der Januar? Wie der Monat?«
»Genau. Zwölf Familien, wie die Monate eines Jahres. Hier«, er reichte ihr eine Kette, an der ein gelber Topas hing. »Das ist so zu sagen der Mai. Meine Familie. Ebenso eine Hauptfamilie wie deine.«
»Haupt-.«, sie hustete erschrocken. »Das ist doch nicht möglich.«
Er wanderte im Raum herum und gab Heather die Zeit, die sie benötigte, um das Gesagte einzuordnen. Sie gehörte zu diesen Wächtern und damit nicht genug, sie sollte in eine Hauptfamilie hineingeboren worden sein. Nicht zu vergessen, dass ihre Eltern etwas Derartiges nie erwähnt hatten.
»Aber wenn das stimmt, warum haben meine Eltern nie Andeutungen gemacht oder mich gewarnt? Ich muss doch wissen, wer ich bin und was um mich herum geschieht.«
»Wie gesagt, es gibt nicht mehr viele Wächter und die, die noch leben, verstecken sich. Sieh mich an«, Nate machte eine ausschweifende Bewegung. Seine Arme waren lang und wie er sie so ausstreckte, wirkte er noch imposanter. »Meine Familie zog sich vor hunderten von Jahren in dieses Waldstück zurück, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wer auch immer hinter uns her war oder ist, er besitzt die Fähigkeiten, uns ausfindig zu machen. Die Unterschiede zu normalen Menschen festzustellen. Von daher ist es gut möglich, dass deine Familie vergessen hat, wer sie sind.«
»So ein Mist«, murmelte Heather. »Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll. Wozu sind die Wächter überhaupt gut?«
»Den Legenden nach öffnen sie die Weltentore. Der Mai steht dabei für das Erdentor, während dem Januar das Himmelstor zugeordnet wird. Du musst verstehen, dass die Hauptfamilien die Träger der größten Kräfte sind und die Tore nur sie als Pförtner anerkennen.«
»Und die anderen Familien?«
»Die Zweigfamilien sind so zu sagen unsere Helferlein, aber da sie nicht mehr existieren, müssen wir uns darüber keine weiteren Gedanken machen. Viel wichtiger ist, dass du deine Wichtigkeit verstehst«, er schritt auf sie zu und packte sie am Handgelenk. »Wenn herauskommt, dass du eine Wächterin bist, werden sie nach dir suchen und versuchen, dich zu töten.«
»Was?!«
Heathers Herz raste und war im Begriff, ihren Körper auf dem schnellsten Weg zu verlassen. Nate brachte sie zum Erschaudern. Seine Finger bohrten sich in ihre Haut, doch auch sein restlicher Körper spannte sich zusehends an. Würde er sie verletzten? Aber sie saßen im selben Boot und bis gerade eben schien er noch hilfsbereit.
Plötzlich erklang der Dong der Standuhr an der anderen Seite des Zimmers. Die Zeiger standen beide auf der Zwölf. Nates Hand löste sich von ihr und er lief aufgebracht zum Fenster, starrte nach draußen. Sollte sie das Wort ergreifen oder froh sein, dass er sich doch dazu entschlossen hatte, ihr nichts zu brechen? Einen Augenblick überlegte sie ernsthaft, einfach zu verschwinden, aber sie musste mehr über sich und die Wächter herausfinden.
»Shit«, fluchte er und sah Heather wieder an. »Du kommst mit, ich muss etwas erledigen und falls dich meine Eltern finden sollten, gibt es Probleme.«
Als er dieses Mal auf sie zukam, stoppte er kurz vor ihr. Seine Augen wanderten zu ihrer rechten Hand, allerdings fasste er sie nicht an. Stattdessen standen sie sich einige Sekunden gegenüber und keiner gab einen Laut von sich. Heather hörte ihn tief einatmen und tat sich schwer, sein Verhalten und diese Situation einzuschätzen. Dann zeigte er zur Tür und forderte sie damit auf vorzugehen, aber sie traute ihm nicht mehr.
»Geh schon. Ich bin spät dran«, knurrte er.
Heather gehorchte, denn sie hatte momentan auch keine andere Wahl. Nun ärgerte sie sich, dass sie nur Cara von ihrem Ausflug erzählte. Vielleicht wäre jemand an ihrer Seite keine schlechte Idee gewesen. Jemand, der bedrohlicher wirkte als sie und ihr etwas Sicherheit geben könnte.
Ihre Füße berührten die Kante des Türrahmens und dann den feuchten Rasen, der die Fläche vor dem Haus bedeckte. Nate hinter ihr steckte seine Hände in die Hosentaschen. Also wollte er ihr doch nicht schaden? Sie war verwirrt. Seine Mimik wies sie eindeutig ab, ebenso seine wütende Stimmlage. Seine Gestik schien sie jedoch zu beruhigen, da alles an seiner Haltung defensiv wirken sollte. Als wolle er ihr deutlich machen, dass er keine Gefahr für sie darstellte. Aber weshalb wurde er auf einmal so wütend und wohin gingen sie nun?
Ihr Weg führte sie wieder durch den dunklen Fichtenwald. Manchmal vernahm Heather das Vogelgezwitscher in den Wipfeln und blickte sich sofort um. Ihre Augen suchten nach den kleinen Tierchen, die irgendwo über ihr sangen. Und ihr blieb nicht verborgen, dass Nate sie beobachtete. Sein Blick lag auf ihr, mehr nicht. Sie fühlte immer noch keine Bedrohung und wurde neugierig, was er wohl gerade dachte. Heather wollte den Mund öffnen, aber Nate kam ihr zuvor.
»Bleib in meiner Nähe. Wir sind gleich da.«
»Wo-«, sie brach ab, denn ein von Maschendrahtzaun umschlossener Gebäudekomplex ragte aus dem Wald heraus. Scheinwerfer und Lautsprecheranlagen prangten in den Ecken. Der Betonkasten in der Mitte rief bei Heather Furcht hervor und sie erkannte, was vor ihnen lag. »Wieso sind wir hier? Wieso eine Militärschule?«
»Ich muss zum Training. Wenn die Aufseher mitbekommen, dass ich fehle, dann muss ich ... Ach, was geht dich das an?«
»Ähm, immerhin hast du mich hierher geschleppt«, konterte sie und eine unbehagliche Stille entstand, die urplötzlich von gleichmäßigen, schweren Schritten durchbrochen wurde.
»Nicht doch«, stöhnte Nate und schob Heather durch ein unscheinbares Loch im Zaun. »Sie dürfen dich nicht sehen.«
»Dann bring mich nicht mit«, jammerte sie fast. »Ich finde den Weg zurück schon allein.«
»Nein!«, seine Hände auf ihren Schultern drückten zu. »Dich soll keiner sehen. Ich kann das nicht riskieren, nicht nachdem meine Eltern so viel Mühe in unser Versteck gesteckt haben.«
Komischerweise konnte Heather seine Sorge nachvollziehen und ließ sich weiter hinter das große Gebäude drängen. Nate schickte sie in einen Flur, von dem aus mehrere Gänge mit Türen abzweigten. Jedes Zimmer besaß eine Nummer und darunter ein abnehmbares Plättchen mit dem Namen desjenigen, der dort unterkam. Vor der 203 blieben sie stehen.
»Du wohnst hier?«, hakte Heather nach, als sie seinen Namen entdeckte.
»Nicht immer«, gab er kurz angebunden von sich. »Los jetzt, da rein.«
Gerade als er sie in sein Zimmer schubsen wollte, erklang eine andere Stimme im Gang. Mit hoch erhobener Hand trabte ein junger Mann auf die Beiden zu und staunte bei Heathers Anblick. Abrupt hielt er an, während Nates Anstrengungen, Heather hinter sich zu verstecken, trotz seiner Größe kläglich scheiterten.
»Wer ist denn die Schönheit?«, fragte er sogleich und schielte an Nate vorbei. »Nate, du hättest mir doch erzählen können, dass du eine Freundin hast«, er klopfte ihm auf die Schulter. »Darf ich mich vorstellen?«
»Nein!«, knurrte Nate und ging rückwärts, wodurch Heather beinahe ins Zimmer fiel. »Du hast sie gar nicht gesehen, verstanden?«
»Spielverderber.«
»Zudem ist sie nicht meine Freundin.«
Nate gelang es schließlich doch, Heather in sein Zimmer zu bringen und zum Training zu verschwinden. Auf ihre Proteste und das Hämmern gegen die Tür, reagierte er nicht. Die Studentin musste entsetzt feststellen, dass er sie eingeschlossen hatte. Sie rechnete ja mit vielem, aber das übertraf auch ihre wildesten Vorstellungen. Mit einem unguten Gefühl im Magen, fischte sie ihr Handy aus der Jackentasche und wählte Caras Nummer. Es ertönte nicht einmal ein Signal. Ihr Handy hatte in dieser Einöde offenbar kein Netz. Jetzt saß sie hier fest. In dem Zimmer eines Jungen, den sie nicht kannte und dazu noch ohne Kontakt zur Außenwelt. War ja wieder klar, dass ihr Plan nicht so richtig aufgehen würde.
Gegen Abend erlangte sie dann auch ihre Freiheit zurück. Ein frisch geduschter Nate öffnete ihr atemlos die Tür, doch Heather dachte gar nicht daran, hier noch weiter zu verweilen. Sie preschte an ihm vorbei auf den Flur und hinaus auf das Gelände. Im Hintergrund hörte sie noch seine Stimme, die ihr einzelne Worte hinterher rief, allerdings hatte sie genug von ihm. Schön, seine Erklärungen würden bestimmt hilfreich sein, doch er hätte sie nicht wegsperren müssen. Die marschierende Menschenmenge ließ sie auf einmal inne halten.
»Bleib endlich stehen«, keuchte Nate. Heather sah nur noch seiner weiten Jacke zu, wie er diese über ihren Kopf stülpte und spürte seine Hände an ihrer Taille. Er warf sie über die Schulter und rannte los. Nach einem ganzen Stück, welches er mit diesem extra Gewicht zurückgelegt hatte, setzte er sie wieder ab. »Dich kann man auch keine Sekunde aus den Augen-.«
Die junge Frau holte aus und verpasste Nate eine Ohrfeige, dass das dabei entstehende Geräusch im Wald widerhallte. Obwohl seine Wange rot aufleuchtete, schien es ihn nicht allzu sehr zu stören. Er wirkte eher belustigt, brach kurz darauf in Gelächter aus. Ein tiefes, kehliges Lachen, wie Heather bemerkte. Sie hielt ihre rechte Hand, denn der Aufprall auf seinem Gesicht versetzte ihre Hand unter eine schmerzende Spannung.
»Verletzt dich nicht«, neckte er sie nun. »Sieht so aus, als wäre dein Schlag nach hinten losgegangen. Wenn du jemanden wirklich verletzten oder die Oberhand gewinnen willst, dann solltest du das hier ausprobieren.«
Blitzschnell positionierte er einen Fuß hinter Heather und ab diesem Moment nahm sie seine Bewegungen gar nicht mehr wahr. Diese Geschwindigkeit war beeindruckend und das bei seiner Größe. Sie wirbelte herum, erkannte nur noch verzerrte Umrisse seine Gestalt und fand sich auf dem Boden wieder. Er beugte sich über ihr, hielt sogar ihren Arm fest.
»Wow«, rutschte es ihr raus und Nate wurde rot. »Kannst du mir das beibringen?«
Perplex kippte Nate nach hinten und landete auf seinem Po. Er starrte sie eine Weile an und seine Augen schienen etwas in ihrem Gesicht zu suchen. Sein Räuspern erschreckte sie ein bisschen, dann richtete er sich auf und bot ihr seine Hand an. Mit einem einzigen Ruck half er ihr auf die Beine, nein, sie flog schon fast in die Luft.
»Du bist ganz schön stark«, merkte sie an.
»Für einen Wächter sollte das normal sein«, winkte er ab und schritt voraus. »Es ist spät geworden. Wie kommst du überhaupt Heim.«
»Das ist eine gute Frage«, gab Heather zu und überlegte. Ihr Handy war keine Option und die Cordes besaßen auch kein Festnetztelefon. »Zu Fuß?«, sie lachte bei dieser Bemerkung und holte Nate ein, der ins Wanken geraten war. »Eigentlich würde ich gerne ein wenig mehr über die Wächter erfahren. Und über dich und deine Familie, aber sich selbst in ein fremdes Haus einzuladen, erscheint mir unhöflich.«
»Meine Eltern werden sicher etwas dagegen haben.«
Heather senkte ihr Haupt und scharrte mit dem Fuß im alten, verwelkten Laub. Würde sie jetzt tatsächlich zum nächsten Bahnhof oder einer nahegelegenen Bushaltestelle laufen müssen? Während sie dies dachte, sprach Nate es aus und ergänzte dabei, dass die öffentlichen Verkehrsmittel in dieser Gegend sehr rar gesät wären. Seufzend bat er sie, mit zu ihm zu kommen, da er sie kaum allein im Wald übernachten lassen würde, zumal es Winter war.
Im Haus der Cordes brannte Licht. Nate ging zuerst ins Haus und ohne Umwege in das Esszimmer, wo seine Eltern bereits zusammen aßen. Heather blieb der Atem aus. Seine Eltern waren beide recht groß gebaut, wobei Nate sie noch immer überragte. Als sie die junge Frau entdeckten, stand sein Vater eilig auf und kam auf ihn zu.
»Wer ist diese junge Dame?«, erkundigte er sich mit einem seltsamen Unterton. »Ich dachte, wir wären uns bezüglich Freundschaften und Einladungen vor Jahren einig geworden.«
»Vater, das ist Heather McCarthy ... Eine Nachfahrin der Januar-Hauptfamilie.«
Der Mann erwiderte Heathers ängstlichen Blick und rückte eine Stuhl vom Tisch. Mit einer Handbewegung bat er sie, Platz zu nehmen, doch sie vergewisserte sich erst bei Nate, ob das in Ordnung ginge. Als er ihr aufmunternd zunickte, setzte sie sich zu der Familie an den Esstisch.
»Das ist ja eine Überraschung«, entgegnete seine Mutter schüchtern. »Wir haben geglaubt, dass wir die letzten Wächter wären. Nate, hast du sie über die Gefahren informiert?«
»Ja«, erwiderte er stumpf und ließ sich neben seinem Vater nieder. »Aber sie wusste nichts über uns. Nur ihren Wächterstein trägt sie bei sich.«
»Und den Bernstein«, ergänzte Heather.
Das Abendessen verlief relativ schweigsam. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde, in der sie erfuhr, dass Nates Vater Henry und seine Mutter Mary hießen, bildete eigentlich den größten Anteil der Gespräche aus. Danach aßen sie alle und Heather wagte auch nicht, sie zu stören. Sie beobachtete die anderen bedacht, versuchte ihre Gedanken zu erahnen. Immerhin war sie eine Fremde in ihrem Haus und das Misstrauen der Cordes durchschnitt geradezu die Luft.
»Sie haben schon immer gewusst, dass Ihre Familie zu den Wächtern gehört, nicht wahr?«, fasste Heather den Mut und sprach endlich. »Bei mir ... Bei meiner Familie hat nie jemand solche Andeutungen gemacht.«
»Das ist nicht ungewöhnlich«, erwiderte Henry und kratzte sich am Kinn. »Wir sind über die Jahrzehnte, oder sogar Jahrhunderte in Vergessenheit geraten. Eine Tatsache, die unser Überleben bestimmt hat. Wie Nate dir bereits erklärte, verstecken wir uns hier nicht grundlos. Es gibt Menschen, die uns gerne tot sehen würden.«
»Oder aber Schlimmer«, sagte Nate und erhob sich. »Wer sie auch immer sind, wir scheinen in ihren Augen einen hohen Wert zu besitzen und sie könnten uns genauso gut ausnutzen. Wobei deine Kräfte erst einmal erwachen müssen.«
»Erwachen?«, Heather betrachtete nachdenklich ihr Besteck.
Henry beschrieb dieses »Erwachen« als ein Gefühl, welches lediglich für einen selbst Bedeutung habe. Ein Gefühl, das so fein und unscheinbar sei, dass diese Regung einzig von der eigenen Person als große Veränderung wahrgenommen werden kann. Seine Versuche, dies in verständliche Worte zu fassen, schienen zu scheitern. Trotzdem bedankte sich Heather höflich. Irgendwie stieß sie auf der Suche nach Antworten auf immer mehr Fragen.
Nate führte Heather nach dem unangenehmen Essen in den ersten Stock. Gleich im Flur, der zur Einfahrt zeigte, war eine große Fensterfront und davor ein Balkon mit einem Geländer aus Birkenstämmen. Sie konnte nicht anders, musste aus diesem riesigen Fenster schauen und den Sternenhimmel betrachten. Ihre Fingerspitzen berührten die kühle Glasscheibe und darum bildete sich ein kreisrunder, weißer Schleier. Ein warmer Windhauch erschreckte sie. Nate stand direkt hinter ihr und folgte ihrem Blick.
»Was ist so interessant?«, fragte er gedankenverloren.
»Hm«, machte Heather und wand sich von ihm ab. »Ich habe mir schon lange nicht mehr die Zeit genommen, einfach nur die Sterne oder den Himmel zu betrachten.«
»Ich hoffe, du wirst noch oft diese Momente genießen können.«
»Wie bitte?«
»Als Wächter bleiben dir solche Gedanken meist verwehrt. Wie du siehst, leben wir zurückgezogen, aus Angst, dass man auch uns auslöscht. Weil wir wissen, wer wir sind und was unsere Aufgabe ist. Du bist nun auch sehr viel klüger und vielleicht werden diejenigen, die uns jagen, bald auch hinter dir her sein.«
Heather erschauderte. Bei dieser Vorstellung wurde ihr schlecht. Sie benötigte einige Zeit, um die Informationen zu sortieren und einzuordnen. Das alles erschien ihr so surreal und doch war sie ein Teil davon. Eine Wächterin. Jemand, den es nach ihrem bisherigen Wissen nicht geben sollte, oder geben konnte.
Ein lautes Krachen erschreckte beide gleichermaßen. Eine kleine Gestalt stolperte im Dunkeln auf sie zu und riss dabei offenbar einen kleinen Stuhl, der an der Wand gestanden hatte, um. Nate seufzte auf und ging dem Persönchen entgegen.
»Phil«, motzte er. »Du sollst schlafen und dich auskurieren. Mit dir hat man auch nur Schwierigkeiten.«
»Wer ist das?«, fragte der Junge, der Nate wie aus dem Gesicht geschnitten und vielleicht zwölf Jahre alt war.
»Das ist unwichtig. Geh zurück ins Bett, oder willst du unseren Gast anstecken?«
Aber Phil hörte nicht auf seinen großen Bruder, sondern tapste auf Heather zu und klammerte sich an sie. Fassungslos starrte Nate diese Szene an, während Heather dem kleinen Jungen über die Stirn strich. Sie verstand, warum er sich ausruhen sollte, denn seine Haut fühlte sich unheimlich heiß an. Sachte bückte sie sich zu ihm. Der Kleine kuschelte sich an sie, döste fast weg. Als Nate ihn ihr abnehmen wollte, wehrte er sich mit Händen und Füßen.
»Sorry«, erwiderte Nate leise und schob die kleine Hand von seinem Bruder aus seinem Gesicht. »Er ist normalerweise nicht so anhänglich. Schon gar nicht bei Fremden.«
»Schon gut«, Heather versuchte Phil hoch zu heben, doch er war zu schwer für sie. Also hielt sie ihn einen weiteren Augenblick in den Armen. »Was ist mit ihm? Ist es nur eine Grippe?«
»Ja«, Nate nahm ihr den Kleinen ab. »Er ist von Geburt an sehr anfällig für allerlei Keime und Viren. Deshalb bin ich auch froh, dass er die Bürde eines Wächters nicht tragen muss. Ich kann damit umgehen, aber für ihn wäre die Belastung einfach zu groß.«
Nate lenkte Heather den Flur entlang zu einer Tür, die recht abseits lag und drückte diese auf. Mit einem Arm hielt er seinen Bruder in der Luft und würde ihn sicherlich gleich zurück ins Bett bringen. Zusammen mit ihm wirkte Nate weniger eindrucksvoll und bekam weiche Züge, die Heather bisher misste. Phil musste glücklich über so einen fürsorglichen, großen Bruder sein.
Es war spät und ein bisschen Schlaf würde ihr sicher gut tun, also ließ sie sich nicht lang bitten. Das Zimmer war schlicht eingerichtet. Ein Schrank und ein Bett, mehr nicht, aber das reichte ihr vollkommen. Ohne sich umzuziehen - sie hätte ohnehin keine Klamotten zu Wechseln dabei gehabt - fiel sie ins Bett und schlief ein.
Am nächsten Morgen wirkten die Cordes so, als könne es ihnen nicht schnell genug gehen, Heather loszuwerden. Nahe der Hauptstraße, wo ihr Fahrer sie gestern raus gelassen hatte, konnte sie das Taxiunternehmen endlich erreichen und sich eines bestellen, das sie abholt. Nate hatte sie bis hierher begleitet, wartete jedoch am Waldrand.
»Sie werden in einer halben Stunde hier sein«, erwiderte sie und lief ihm entgegen. »Danke nochmal, dass ich bei euch unterkommen konnte und für die Erklärungen. Das hilft mir wirklich sehr«, sie musterte ihn. Etwas quälte ihn vermutlich, denn seine Lippen zitterten, als wolle er etwas sagen. »Wegen meiner Trainingsstunde«, setzte Heather spielerisch an. »Lass uns einen Termin ausmachen.«
»Einen Termin?«, wiederholte er verwirrt.
»Ja, dann können wir uns ein wenig ungestörter unterhalten. Falls deine Schule und deine Eltern das zulassen.«
»Das könnte Probleme geben, aber ich würde dir gerne ein paar Techniken beibringen. Als Neuling solltest du jemanden haben, der dich zumindest ein paar Sachen lehrt und wenn es nur die Selbstverteidigung ist.«
»Abgemacht«, sie reichte Nate ihr Handy. »Gib mir deine ... Oh, du hast ja gar kein Handy.«
Er lachte kurz auf und nahm es ihr aus der Hand. Seine Finger schienen geübt und mit einem Lächeln übergab er ihr das Handy mit einer eingespeicherten Nummer. Sie legte den Kopf schief.
»Du hast also ein Handy?«
»Kann man so sagen. Meine Eltern wissen nichts davon und ich lasse es in meinem Zimmer in der Militärschule, damit das auch so bleibt«, er reckte seinen Kopf und atmete aus. »Dein Taxi ist da.«
Heather drehte sich um und erkannte die Scheinwerfer. Sie verabschiedete sich rasch von Nate und versprach ihm, sich zu melden. So einen wichtigen Kontakt würde sie nicht vergessen. Er könnte ihr eine große Hilfe sein und falls er Recht behielt, würde sie von einem Unbekannten oder einer Organisation ins Wesir genommen. Was Cara wohl von all dem hielt? Hoffentlich ging es ihr schon besser. Heather hatte nicht vorgehabt, zwei Tage zu verschwinden, doch es kam alles so unerwartet, dass sie ihre Chance ergreifen musste. Und niemand konnte behaupten, dass sie mit leeren Händen zurückkehrte.
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