Elf (1) - Offenbarungen


Milan behielt Wort. Er erzählte ihr alles, was er wusste.

»Weißt du, was eine Reinkarnation ist?«, fragte er vorsichtig.

»Natürlich. Eine Reinkarnation ist eine Art Seelenwanderung. Dabei geht die Seele von einem Körper auf einen Neuen über, meist nach dem Tod des alten. Dies kann auch über Jahrhunderte hinweg passieren. Aber so etwas wie Reinkarnationen hat man noch nie festgestellt.«

»Die Doktoren hier an der Akademie vielleicht schon.«

Cara atmete auf. Ihre Begeisterung für alte Mythen und dem Übernatürlichen war geweckt. Sie hing förmlich an den Lippen des jungen Mannes.

»Die Menschen mit diesen lebhaften Träumen«, erklärte er weiter, »also mit anderen Worten: wir ... nun ja, wir sind Reinkarnationen. Wir tragen die Seele eines ägyptischen Gottes in uns. Das müsstest du dir vielleicht schon zusammengereimt haben.«

Sie stimmte ihm zu. Dass diese Geschichte etwas mit den ägyptischen Gottheiten zu tun hatte, vermutete sie bereits seit längerem. Doch noch immer wollte sie der Sachen noch keinen so richtigen Glauben schenken.

»Deine Träume? Wie real waren sie für dich?«, fragte sie.

Milan zögerte, dann schnaubte er kurz. »Sehr real! Das sind sie noch immer. Doch so eine schwere Verletzung, wie sie dir zugefügt wurde, musste ich noch nicht erleben. Ich habe lediglich ein paar Kratzer abbekommen.«

Cara senkte den Kopf. Die Verletzung. Langsam stand sie vom Bett auf und ging hinüber zum Fenster. Mit einer Hand berührte sie die Stelle an ihrem Bauch. Durch ihre Kleidung hindurch spürte sie eine Kruste. Ihre Körper war von einer Gänsehaut übersät. Man musste nur ihre Verletzung erwähnen, schon bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie wollte nicht daran denken. Sie musste sich ablenken, das Gespräch auf etwas anderes Lenken. Doch noch waren zu viele Fragen offen. »Wann wusstest du, dass ich ebenfalls eine ...«, sie stockte, denn sie brachte das Wort kaum über die Lippen, »... Reinkarnation bin?«

»Erst nachdem ich dich getroffen und etwas kennen gelernt habe«, antwortet der Sohn des Akademiegründers. »Ich habe die Theorie aufgestellt, dass ich erst andere wie mich kennen lernen muss, damit ich sie in den Träumen sehe. Zu Anfang habe ich nur eine Gestalt im Nebel gesehen.«

»So war es auch bei mir. Aber was hat das alles zu bedeuten? Warum passiert dies mit uns?«

»Keine Ahnung. Das habe ich mich schon oft gefragt, doch bis jetzt noch keine Antwort gefunden.«

Die beiden Studenten versanken in Stille. Keiner wusste, was er sagen sollte. Also schaute Cara weiterhin aus dem Fenster. Sie beobachtete, wie die anderen Studenten sich draußen tummelten, alle warm eingepackt in dicke Jacken und Mäntel.

»Es ist schön mit jemanden zu reden, der das Gleiche durchmacht«, flüsterte sie leise, aber laut genug, damit Milan sie verstehen konnte.

»Da hast du recht«, sagte er. »Doch ich hatte schon früh jemanden zum Reden. Wie du sicherlich weißt, gehört Jade auch zu uns.«

Die Studentin zuckte beim Klang von Jades Namen zusammen, was Milan nicht unbemerkt blieb. Er stand auf und ging zu ihr hinüber zum Fenster. »Nun bist du dran! Warum verängstigt Jade dich so?«

Einige Momente blieb Cara noch stumm, aber dann erzählte sie dem jungen Mann die ganze Geschichte. Sie ließ kein Detail aus, bis zu dem Moment, indem Seth brutaler wurde. Die Worte kamen kaum über die Lippen und während ihrer Erzählung brach sie in Tränen aus. Milan hörte die ganze Zeit aufmerksam zu, unterbrach sie nicht. Nachdem sie erklärt hatte, wie die Verletzung zustande gekommen war, schaute er sie mitleidig an. Erst merkte Cara, wie er beim Anblick ihrer Tränen zögerte, doch dann nahm er sie tröstend in den Arm. Dies beruhigte die junge Frau irgendwie, eine solche tröstende Geste war genau das, was sie zu diesem Zeitpunkt brauchte.

Sie lösten sich voneinander und Cara strich sich mit dem Handrücken die Tränen von der Wange.

»Den Traum, den du mir gerade beschrieben hast, hatte ich auch. Nur aus Horus Sicht«, sprach Milan plötzlich. »Unser Treffen in den Gängen des Palastes, sowie das Gespräch über Seth. Dies war ebenfalls der erste Traum, in dem Bastet vorkam.«

Die Stipendiatin war schockiert. »Was ist, wenn Jade diesen Traum auch hatte? Dann hat er gesehen, wie er mich ..., wie er Bastet ...«

»Du brauchst nicht mehr sagen. Ich weiß was du meinst. Aber ich glaube nicht, dass er diesen Traum bereits hatte. So hat er sich vorhin nicht verhalten.«

»Ich kann noch immer nicht glauben, dass in ihm die Seele von Seth stecken soll. Er war an Weihnachten so freundlich und liebenswert. Und nun meide ich ihn, nur wegen einem Traum, der womöglich nicht wahr ist. Das hat er nicht verdient. Ich sollte mit ihm reden. Er wird mich hoffentlich verstehen und mir verzeihen.«

Milan reagierte nicht gleich, sondern schaute betreten zu Boden. Cara hatte den Verdacht, dass er ihr etwas über Jade verheimlichte. Doch als er anfing zu reden, ließ er seinen Freund außer Acht. »Ich glaube schon, dass unsere Träume der Wahrheit entsprechen. Schon allein deswegen, weil wir von dem gleichen Erlebnis geträumt haben. Ich vermute, dass es Erinnerungen sind, die durch die göttlichen Seelen in uns übertragen werden.«

Sie konnte nicht anders, als ihm zu zustimmen.

Mittlerweile war es schon Nachmittag und somit Zeit für die heutige Vorlesung. Milan schlug vor Cara noch bis zu dem Gebäude zu begleiten, indem der Hörsaal zu finden war. Gemeinsam verließen sie das Zimmer. Auf dem Weg fragte der Student nach, wie er Heather näher kommen könnte. Er wollte sie beeindrucken. Bevor sie antworten konnte, sah sie, dass erneut eine Traube Studentinnen zu ihnen unterwegs war. »Playboys mag sie ganz und gar nicht, besonders welche, mit einem großen Fanclub.«

Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen und betrat das Vorlesungsgebäude. Der Hörsaal war kaum besucht. Viel Studenten sparten sich die letzten Vorlesungswochen vor den Prüfungen. Cara setzte sich ziemlich in die Mitte des Saales und packte ihre Unterlagen aus. Sie schaute sich die Notizen der letzten Vorlesung an die sie besucht hatte, dies war noch vor Weihnachten gewesen. So einiges hatte sie verpasst, manches hatte Heather ihr noch gezeigt, da sie nach den Ferien zu den Vorlesungen gegangen war, während sie Selber verschwunden und dann zu tiefst deprimiert war. Hoffentlich bekamen sie heute gesagt, was genau sie für die Klausuren zu lernen hatten. Aber sie bezweifelte es. Schließlich war das erste Semester dafür da, um die schwächeren Studenten auszusieben. Nur die besten würden das Studium an der Freyer Akademie abschließen.

Plötzlich setzte sich Jade auf dem Platz rechts neben sie. Er lächelte sie an, doch es war eher ein kaltes Lächeln seinerseits.

»Anscheinend ist das kleine Geheimtreffen zwischen dir und Milan zu Ende«, sagte er mit leichtem Zorn in der Stimme.

Cara wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Schließlich war sie sich unsicher, ob er ebenfalls davon Bescheid wusste, dass sie eine Reinkarnation war. Theoretisch hätte sie ihn fragen können, doch konnte man ihm vertrauen? Wie viel ging von der göttlichen Seite auf einen über.

»Äh ... ja. Er weiß jetzt ganz genau, wie er Heather rumbekommt. Das meint Milan zu mindestens. Ob es auch klappt, ist eine andere Frage.«

Der Professor betrat das Podium und öffnete am Computer seine Präsentation, so wie er es immer machte. Jade holte seinen Ordner mit Unterlagen aus seiner Taschen. Dann lehnte er sich zu ihr herüber. »Können wir nach der Vorlesung miteinander reden?«, flüsterte er.

Cara nickte nur, denn der Professor begann mit der Vorlesung.

Die ganze Zeit über versuchte sie aufmerksam zu zuhören, doch dies war gar nicht so einfache. In ihrem Kopf schwirrten so viele andere Dinge herum, um die sie sich kümmern musste. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Jade sich fleißig Notizen machte. Worüber er sich wohl mit ihr unterhalten wollte? Hatte er womöglich doch den Traum gehabt? Schnell verwarf sie diesen Gedanken. Hätte er den Traum gehabt, würde er sich wahrscheinlich ihr gegenüber anders verhalten.

Der Professor verstummte. Die Vorlesung war zu Ende. Cara ärgerte sich, die ganze Zeit hatte sie gegrübelt und das nicht über die Vorlesung. Mit einem leisen Stöhnen packte sie ihre Unterlagen zusammen und stand von ihrem Platz auch. Jade wartete bereits auf sie. Er schlug vor, ein wenig auf dem Gelände spazieren zu gehen. In den hinteren Teilen, wo die großen Bäume standen konnten sie sich in Ruhe unterhalten.

Draußen war es kalt, sodass die Studentin sich in ihren warmen Schal kuschelte. Ihre Hände rieb sie aneinander, denn ihre Handschuhe lagen in ihrem Zimmer. Schweigend gingen sie nebeneinander her, bis sie die ersten Baumreihen erreicht hatten. Jade blieb stehen und wand sich Cara zu. Er schaute sie mit seine grünen Augen durchdringend an.

»Seit unsrem Date an Weihnachten haben wir uns nicht mehr gesehen. Ich war am nächsten Tag bei deinem Zimmer, doch deine Mitbewohnerin meinte, du seist nicht da. Und auch in den darauffolgenden Tagen konnte ich dich nirgends finden. Wo warst du?«

Ganz genau überlegte sie, wie sie ihm am besten antworten konnte. Sie schwang zwischen der Wahrheit und einer Ausrede hin und her. Milan hatte zwar gesagt, dass der Mann vor ihr wie sie war, doch wusste er das auch? Was soll ich nur machen? Sie entschied sich für eine Halbwahrheit, um zu prüfen, wieviel er von ihr wusste.

»Ich war krank. Oder besser gesagt: schwer verletzt. Man hatte mich ins Institut gebracht, dort wurde ich medizinisch versorgt.« Sie konnte ihm nicht in die Augen schauen. Betreten guckte sie an ihm vorbei zu den Bäumen.

Ein erschrockenes Japsen erklang von dem Studenten. »Das Institut?« Auf einmal nahm er ihr Gesicht in beide Hände. Er zwang sie förmlich in anzusehen. »Das kann nicht sein. Das darf nicht sein! Du ... du kannst nicht wie ich sein!«

Cara packte ihn an den Handgelenken und nahm seine von ihr. Mit einem kleinen Schritte brachte sie Abstand zwischen sie. »Du meinst eine Reinkarnation? So ist es. Ich trage die Seele der ägyptischen Göttin Bastet in mir. So ist es jedenfalls in meinen Träumen.«

Verwirrt und aufgebracht setzte sich der junge Mann in Bewegung. Er tigerte aufgewühlt hin und her. Leise fragte sie ihn, ob er sie noch nicht im Traum getroffen hatte, so wie sie ihn.

»Nein«, antwortete er darauf. »Du sagst, du hättest mich im Traum gesehen. Dann weist du wer ich dort bin?« Seine Stimme wurde betrübter und nun war er es, der traurig zu Boden schaute.

Cara sagte nichts, sondern nickte nur leicht. Nun war sie sich sicher, dass er den besagten Traum noch nicht hatte. Ebenso hoffte sie, dass er ihn auch nie haben würde. Eins war klar, Cara würde darüber kein weiteres Wort verlieren. Doch konnte sie auch nicht so weiter machen wie bisher.

»Jade, dies alles ist für mich noch ziemlich neu. Und ich muss erstmal Einiges verarbeiten. Milan hat mir viel erzählt und ...«

»Darüber habt ihr also geredet! Es ging gar nicht um Heather«, unterbrach der Student sie. »Wieso bist du damit zu Milan gegangen, wenn du schon gewusst hast, dass ich auch eine Reinkarnation bin? Wieso bist du nicht zu mir gekommen?« Er klang leicht beleidigt und auch seine Augen drückten das aus.

»Ich konnte nicht!«, platzte es aus ihr heraus. Als Jade sie fragend ansah, sprach sie weiter. »Ich wusste nicht wie ich mit dir reden sollte. Die Verletzung, wodurch ich ins Institut gekommen bin, die hast du ... nein, die hat Seth mir zugefügt. Noch immer sehe ich vor meinen Augen, wie er mich mit deinen Augen bösartig anstarrt und mir einen Dolch in den Leib rammt. Noch immer wird mir eiskalt dabei.«

Tränen flossen ihre Wange hinunter. Sie konnte sie nicht zurückhalten. All der Schmerz, die Trauer und die Wut kamen nun hervor. Sie hatte Angst davor, wie er reagieren würde. Jade stand wie versteinert vor ihr. Seine Augen waren weit aufgerissen, er schaute sie schockiert an. Dann kam er auf einmal näher, die Arme ausgestreckt um sie in die Arme zu schließen. Aber die Stipendiatin wich vor ihm zurück und sofort ließ er die Arme senken.

»Noch immer hast du Angst vor mir wegen der Sache, die mein göttliches Ich im Traum getan hat«, sagte er. »Dann wäre es wohl besser, wenn wir uns in Zukunft aus dem Weg gehen.« Der junge Mann drehte sich um und ging zurück zu den Universitätsgebäuden.

»Jade, warte!«, rief sie.

Er drehte sich zu ihr um. Seine Augen waren ausdruckslos, was Cara nur noch mehr verängstigte. Lieber würde sie Trauer oder Wut sehen an ihm, als diese ausdruckslose Miene. So konnte sie nicht erahnen, was er womöglich dachte.

»Gib mir Zeit, um mit allem klar zu kommen. Bitte!«

Ohne ein Wort wand er sich ab und ging, er ließ Cara einfach stehen. Nun flossen die Tränen noch stärker und es sah nicht danach aus, dass sie verebbten.

Aus ihrer Tasche kramte sie ihr Handy hervor. Mit zitternden Händen suchte sie Heathers Nummer heraus und drückte auf Anrufen. Geduldig wartete sie auf das Freizeichen und darauf, dass ihre Freundin den Anruf entgegen nahm, doch statt dem gewöhnlichen Tuten, ertönte eine weibliche Stimme. »Der gewünschte Gesprächspartner ist zur Zeit nicht erreichbar.« Enttäuscht legte sie wieder auf und steckte das Handy wieder weg. Wie schön wäre es jetzt gewesen die Stimme ihrer Freundin zu hören, dies hätte sie nun dringend gebraucht. Heather hätte sie bestimmt ein Wenig aufheitern können. Wo sie jetzt wohl war?

Die Studentin machte sich auf den Weg zurück zum Wohnheim. Jade war bereits in der Ferne verschwunden. Vor den Gebäuden tummelten sich glücklicherweise nicht allzu viele Studenten. Mit gesenktem Kopf schlich sie sich ins Wohnheim und zurück in Heathers Zimmer. Sie wollte jetzt einfach nur alleine sein. In dem Raum war es kalt, das Fenster stand noch immer offen. Leider war Chione noch nicht zurückgekommen. Das kleine Fellbündel hatte immer eine tröstende Wirkung auf sie. Sie zog sich um und wusch sich in Bad das Gesicht. Die roten Augen waren im Spiegel nicht zu übersehen. Sie musste sich ablenken. Cara beschloss, am nächsten Morgen in die Stadt zu fahren. Es fanden keine Vorlesungen statt, somit hatte sie den Tag frei. Dort würde sie auch keinen bekannten Gesichtern über den Weg laufen. Die meisten Studenten verließen während der Lernphase vor den Klausuren die Akademie nicht. So konnte sie auch Jade aus dem Weg gehen. Beim Gedanken an ihn begannen die Tränen wieder zu fließen. Sie warf sich aufs Bett und trank das Kopfkissen mit dem salzigen Tropfen. Es dauerte lange, bis sie sich in den Schlaf geweint hatte.

Am nächsten Morgen war die Studentin sehr erschöpft. Obwohl der Tag sich schon dem frühen Mittag zu wand, hätte sie noch einige Student schlafen können. Gequält stand sie vom Bett aus und suchte sich Klamotten für den heutigen Tag aus. Eine kleine Shoppingtour würde sie wenigstens von Jade ablenken. Sie backte eine Umhängetasche und verließ dann ihr Zimmer.

Auf direktem Weg verließ sie das Gelände der Freyer Akademie. Nur ein paar Schritte von dem eisernen Tor war eine Bushaltestelle zu finden, wo regelmäßig ein Shuttle in die Innenstadt abfuhr. Cara hatte den Zeitpunkt genau richtig abgepasst, denn kaum das sie dort angekommen war, erkannte sie schon vom weiten den kleinen Bus. Quietschend kam er vor ihr zum Halten. Die Türen glitten auf und sie stieg ein. Keiner saß drin, außer dem Fahrer, der ihr etwas grummelig vorkam. Schnell setzte sie sich nach ganz hinten, bevor das Shuttle losfuhr. Die Fahrt würde circa dreißig Minuten dauern, aus diesem Grund kramte die Studentin ein Buch hervor, welches sie sich aus der Universitätsbibliothek ausgeliehen hatte. So hatte sie später auch nicht ein allzu großes, schlechtes Gewissen, dass sie an dem vorlesungsfreien Tag die Akademie verlassen zu haben, statt am Schreibtisch zu sitzen und zu lernen.

Der Bus hielt am Hauptbahnhof und Cara stieg aus. Vom sitzen während der holprigen Fahrt, schmerzte ihr Rücken leicht. Die Sitze im Bus waren auch sehr unbequem. Von überall her hörte man das Dröhnen der stehenden Motoren der ganzem Busse. Viele Leute liefen alle durcheinander, rannten in unterschiedliche Richtungen um ihren passenden Bus noch zu erwischen. Die junge Studentin schaute sich das Spektakel in Ruhe an. Es wurde geschupst, gedrängelt und lauthals geschrien.

Mit schnellen Schritten ließ sie den Bahnhof hinter sich. Sie überquerte die Straße und dann war sie auch schon direkt in der Fußgängerzone. Obwohl es Mitten in der Woche war und zudem noch Mittags, war die Stadt gut bevölkert. Kinder gingen zusammen mit ihren Eltern einkaufen, ältere Leute machten sich einen schönen Mittag in den Cafés und Schüler liefen umher, schauten in die Schaufenster und machten alles, außer an die Schule zu denken. Was Cara leicht wehmütig stimmte und ihr einen Stich ins Herz versetze, waren die vielen Pärchen, die Hand in Hand und sehr verliebt eine Stadtbummel machten. Kaum war sie Jade näher gekommen, war ihre Beziehung auch schon wieder beendet. Sie versuchte die Paare zu ignorieren, was gar nicht so leicht war. Warum waren es nur so viele? Valentinstag war erst in einem Monat. Betrübt suchte sie ihr Handy raus und versuchte nochmals Heather zu erreichen. Jedoch wurde sie erneut von der Telefonansage abgewimmelt. Wo zum Teufel steckte sie nur, fragte sie sich.

In der großen Einkaufspassage sah es ähnlich belebt aus wie in der Fußgängerzone. Sie musste sich durch viele Menschen drängeln um zu dem Laden zu kommen, wo sie hinwollte. Cara war nicht auf Kleidung aus, sondern eher auf Bücher. Zum Glück war die Buchhandlung nicht so voller Leute, sodass sie in Ruhe stöbern konnte. In der Geschichtsabteilung fand sie einige interessante Bücher über das Alte Ägypten. Zuerst Sammelte sie einige zusammen und dann setzte sie sich mit dem Stapel in einen leeren Gang auf dem Boden. Sie blätterte durch die Seiten. Aus irgendeinem Grund entspannte sie sich unheimlich dabei. Kurz überlegte sie, wann sie das letzte Mal so unbeschwert gewesen war. Das war schon lange her, damals war sie noch mit ihren Eltern auf Reisen gewesen. Seitdem sie an der Freyer Akademie ist, hatte sich ihr Leben auf den Kopf gestellt. Früher hätte sie nie im Leben daran gedacht, dass die ägyptischen Gottheiten wirklich existieren. In Wahrheit glaubte sie es jetzt auch noch nicht richtig.

Plötzlich fiel der Bücherstapel neben ihr um. Ein Mann in ihrer Nähe hatte ihn versehentlich umgestoßen.

»Entschuldigung«, sagte er.

Die Studentin stand auf und sammelte die Bücher wieder zusammen. »Macht nichts«, flüsterte sie.

Der Mann bückte sich ebenfalls und hob auch einige auf. Dann spürte sie seine Blicke auf ihr, was sie als unangenehm empfand, aber sie schaute weiterhin zu Boden und auf die Bücher.

»Irgendwie kommst du mir bekannt vor«, bemerkte der Fremde.

»Was für eine schlechte Anmache«, sagte sie schnippisch. Dann schaute sie ihn an und direkt in seine grau-blauen Augen. Verwundert betrachtete sie ihn genauer. »Das darf doch nicht wahr sein! Du. Hier. In dieser Stadt. Das ist doch nicht möglich?!« Cara war schockiert, jedoch auch sehr erfreut.

»Wow, Cara Jackson! Dass ich dich noch mal wiedersehe, habe ich nicht erwartet.«

»Ich von dir auch nicht, Linus«, gab sie zurück.

Linus Tebbe war ein alter Bekannter der Stipendiatin. Sie lernte ihn mit fünfzehn Jahren kennen, als sie für einige Zeit zusammen mit ihren Eltern in Kairo gelebt hatte. Er war zur gleichen Schule gegangen wie sie. Von Anfang verstanden sie sich gut und haben Freundschaft geschlossen, mit der Zeit ist sogar mehr daraus geworden. Er war ihre erste große Liebe gewesen. In einer Welt, in der sie Schwierigkeiten hatte überhaupt Freunde zu finden. Aber ihre Beziehung endete, als sie mit sechzehn Jahren erneut mit ihren Eltern umzog.

Cara erkannte ihn kaum wieder, denn in den vier Jahren hatte er sich sehr verändert. Früher war Linus genauso groß wie sie gewesen, schlaksig und mit strubbeligen, schwarzen Haaren. Er hatte nicht wie ein typischer Junge von sechzehn Jahren ausgesehen. Nun stand vor ihr ein richtiger, junger Mann. Er war mit Sicherheit einen Kopf größer als sie. Sein Kopf übersät von langen, schwarzen Rasterlocken. Durch den Stoff seines schwarzen Shirts, welches er unter einer Collegejacke trug, zeichneten sich kräftige Muskeln ab und tiefer an seinem Hals lugte ein Tattoo hervor. Er war braungebrannt, als ob er direkt aus einem sonnigen Urlaub kam.

»Du hast dich kaum verändert«, sagte Linus. »Du bist nur noch hübscher geworden.«

Ihre Wangen fingen an zu brennen, sie merkte, wie sie rot wurde. Schnell schaute sie verlegen auf ihre Füße und murmelte ein leises »Danke«.

Linus lachte kurz auf und lud sie dann in ein Café ein. Dankbar nahm sie seine Einladung an. Sie unterhielten sich kaum, bis sie etwas bestellt hatten. Irgendwie fühlte Cara sich unbehaglich. Es war merkwürdig, jemanden zu treffen, den man vor ein paar Jahren das letzte Mal gesehen hatte. Die Getränke kamen, für Linus ein Kaffee und für sie ein Latte Macchiato.

»Also, was machst du so?«, fragte der einundzwanzig Jährige.

»Ähm ...«, sie überlegte wo sie anfangen sollte. »Ich studiere Geschichte an der Freyer Akademie.«

»Die Freyer Akademie? Gehen da nicht nur diese reichen Bonzenkinder drauf?«

»Ja, eigentlich schon. Ich habe es mit einem Stipendium geschafft!«

Linus lächelte. »Hätte ich mir denken können. Du warst schon früher sehr intelligent.«

Wieder wurde sie verlegen, aber musste auch leicht kichern.

»Und du? Was machst du so?« Sie versuchte von sich selbst abzulenken, denn sie mochte es nicht gerade, wenn man über sie redete. Außerdem war sie kein großes Gesprächsthema. Die spannenden Dinge musste sie eh verheimlichen, wie zum Beispiel die Sache mit den Reinkarnationen.

»Ach, ich reise ein bisschen durch die Gegend und versuch mich als Fotograf. Es ist zwar nicht sehr lukrativ, doch zum Leben reicht es. Vielleicht finde ich auch durch die Reisen heraus, wer ich wirklich bin.« Cara bemerkte, wie sich Linus Miene veränderte. Er wurde traurig und seine Augen strahlten Verzweiflung aus. Fragend schaute sie ihn an und er führte seine Geschichte weiter aus. »Naja, ich habe erfahren, dass ich mit vier Jahren adoptiert wurde. In den letzten Jahren wurde das Verhältnis zu meinen Adoptiveltern immer unharmonischer. Mein Vater hat angefangen zu trinken und vor zwei Jahren hat meine Mutter ihn verlassen. Da hat sie mir dann erzählt, dass ich nicht ihr leiblicher Sohn bin. Aber eigentlich hatte ich das schon lange erahnt.«

Auf einmal ergriff die Studentin ganz automatisch seine Hand, die auf dem Tisch lag. Als sie bemerkte, was sie getan hatte, zog sie diese sofort zurück. Verlegen rührte sie in ihrem Latte Macchiato herum.

Linus erzählte weiter. Er hatte sich von seinem Vater losgesagt und seit jener Zeit keinen Kontakt mehr gehabt. Seine Adoptivmutter sah er nur noch an den Feiertagen. Er sah die Fotografien in Verbindung mit dem Reisen als Chance, sich auf die Suche nach seinen leiblichen Eltern zu machen. Bis jetzt hatte er noch keine Spur von seiner Familie gefunden.

Der junge Mann tat Cara leid. Er hatte in den letzten Jahren familiär viel durchmachen müssen. Seine Adoptiveltern hatte sie nie kennen gelernt, auch hatte er nie viel von ihnen erzählt. Er hingegen kannte ihre Eltern und mochte sie früher sehr.

»Weißt du noch, wie wir uns damals in den Pausen immer in die alte, baufällige Holzhütte geschlichen haben, die am Rande des Schulgeländes stand?«, schwelgte Linus in Erinnerung.

Sie lachte. »Ja! Sie war immer voller Stroh. Noch heute weiß ich nicht, wofür diese Schule Stroh brauchte.«

»Auf jeden Fall war es gut zum Knutschen!«

Wieder merkte Cara, wie sie rot anlief. Linus brachte sie vollkommen aus dem Konzept. Leise pochte ihr Herz und alte Gefühle kamen in ihr auf. Gefühle, die sie anscheinend nie richtig aufgegeben hatte. Sie konnte damals nie richtig mit der Trennung von Linus abschließen. Die Beziehung endete nur, weil sie Kairo verlassen musste. Wer weiß, wie lange sie zusammen geblieben wären. Das Herz der Studentin stürzte sich in ein Chaos der Gefühle. Erst am vorherigen Tag wurde sie von jemanden verlassen, den sie sehr mochte. Und nun tauchte auf einmal ihre erste Liebe wieder auf. Dann kam noch die Sache mit den ägyptischen, reinkarnierten Gottheiten dazu. Da konnte man schon mal leicht durchdrehen und verwirrt sein. Vielleicht waren die Empfindungen, die sie gerade für Linus fühlte, gar nicht für ihn bestimmt. Vielleicht brachte sie ihm diese einfach entgegen, weil sie nach allem, was momentan vor sich ging, eine Person brauchte, die weit ab vom Geschehen war. Bei ihm konnte sie sich unbeschwert geben, er wusste nichts von den Problemen an der Akademie und hatte auch nichts damit zu tun.

Zu gerne wollte sie noch mehr über ihn erfahren und über seine Reisen. Sie erfuhr, dass er zuerst angefangen hatte quer durch Ägypten zu reisen und dann seinen Radius erweiterte, bis es ihn schließlich hierher verschlagen hat.

»Wie willst du deine leiblichen Eltern eigentlich finden? Hast du irgendwelche Anhaltspunkte?«

»Leider weiß ich keine Namen, auch meinen richtigen Nachnamen weiß ich nicht. Aber sie haben mir etwas hinterlassen, bevor sie mich weggegeben haben.« Linus zog an einer Kette um seinen Hals und zum Vorschein kam ein Anhänger. Ein blauer Achat in einer goldenen Fassung.

Die Stipendiatin war geschockt. Die Kette sah bis auf den Stein genauso aus wie die von Heather. Enttäuschung überkam sie. Noch vor wenigen Sekunden hatte sie sich gefreut, dass er mit der Geschichte nichts zu tun hatte. Und nun musste sie feststellen, dass er so wie ihre Freundin war. Ihr Gegenüber schien ihre wehmütige Miene zu bemerken.

»Was ist los?«

Cara zögerte, sie musste ihren nächsten Schritt genau überlegen. »Ich kann dir vielleicht helfen. Meine beste Freundin besitzt zwei solcher Anhänger. Sie versucht momentan, ihre Geheimnisse aufzudecken. Womöglich findest du so heraus, wer deine Familie ist.«

Linus schaute sie verwundert an. Als nächstes schlug sie vor, dass er sie mit zurück zur Akademie begleite. Er war einverstanden. Schnell bezahlten sie bei der Kellnerin ihre Rechnung und machten sich auf den Weg zum Bus und zurück zur Freyer Akademie.

Beim Aussteigen weiteten sich die grauen Augen des jungen Mannes. Er war von den Gebäuden der Universität sehr beeindruckt. Ihm erging es beim Anblick des Hauptgebäudes ähnlich wie ihr, als sie vor circa einem halben Jahr hier ankam. Leicht musste sie bei dem Gedanken lächeln. Es war da noch alles so einfach gewesen, das einzige Problem war, dass sie sich von ihren Eltern trennen musste. Cara führte ihren Begleiter über den Campus, wobei er immer weiter staunte, besonders über die prunkvolle Eingangshalle. Sie erklärte ihm, wie hier alles ablief, von der Essensvergabe in der Mensa bis hin zu den Vorlesungen.

Plötzlich musste die Studentin in ihrer Erklärung stocken. Sie standen auf der Rückseite des Hauptgebäudes. Als sie Linus die verschiedenen Gebäude zeigte, fiel ihr Blick auf den Eingang des Vorlesungsgebäudes. Dort sah sie Jade und an seinem Arm hing Bianca. Die Platinblonde lachte und textete ihn zu. Der Student lächelte ebenfalls, er sah nicht so aus, als ob er gerade eine Trennung hinter sich hatte. Natürlich waren er und Cara nicht lange zusammen gewesen, doch sie hatte nicht gedacht, dass er sie so schnell abhacken würde.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Linus.

Die Stipendiatin schluckte ihren Frust herunter. »Ja, alles bestens.«

Zusammen gingen sie weiter Richtung Wohnheim. Dort wollte sie ihm alles erklären, was sie bisher wusste. Und sie wollte dann noch einmal versuchen Heather zu erreichen. Doch bevor sie bei der Eingangstür ankamen, wurden sie abgefangen.

»Hey, du!«, ertönte eine schrille Stimme. Mit staksigen Schritten näherte sich ihnen Bianca. »Weißt du, wo Heather ist? Ich versuche sie schon den ganzen Tag zu erreichen.«

»Sie ist unterwegs und hat wahrscheinlich keinen Empfang«, antwortete Cara schnippisch.

»Wie bedauerlich. Ich wollte sie zu meiner Verlobungsparty einladen, die ich plane.«

»Verlobungs- ...«, auf einmal fiel der Stipendiatin das Atmen schwer, »-party?«

»Ja! Seit heute ist es offiziell. Jade und ich werden heiraten.« Bianca drehte sich Haare wehend um und ging auf ihren High Heels davon.

Caras Herz schmerzte. Wäre sie nicht draußen und in Begleitung gewesen, wäre sie mit Sicherheit in Tränen ausgebrochen. Sie versuchte sich zusammen zu reißen. Eilig betrat sie das Wohnheim und bat Linus ihr zu folgen. Zum Glück waren kaum Studenten auf den Gängen. Heathers Zimmer war verlassen, sie hatte gehofft ihre Freundin wäre mittlerweile zurückgekehrt. Bedrückt schloss sie die Tür hinter ihrem Begleiter.

»Ist das dein Zimmer?«, fragte Linus erstaunt.

»Nein, das meiner besten Freundin. Mein Zimmer teile ich mir noch mit drei anderen Studentinnen. Hier können wir in Ruhe reden. Ich muss nur eben kurz telefonieren.«

Als die Studentin ihr Handy nahm und Heathers Nummer wählte, öffnete sich plötzlich die Zimmertür.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top