Prolog
Sie drängten sich eng an eng. Es hätte kein Blatt Papier zwischen ihre Körper gepasst, so dicht schmiegte sich einer an den anderen. Sie warteten auf ihre Chance, planten ihren Ausbruch, ihre Flucht seit drei Monaten und heute war der Tag gekommen, an dem sie ihre Freiheit zurückerlangen könnten. Wenn sie überlebten.
Ein Mann mit breitem Kreuz schob die Holzbalken beiseite, die den Abstieg in den Untergrund verdeckte. Er kletterte als Erster hinunter, griff in die lockere Erde und entzündete seine Lampe. Das Licht führte ihn in die Dunkelheit und der Rest der Gruppe folgte ihm. Stille ummantelte sie, während sie ihren Fluchtweg fortsetzten. Keiner sagte ein Wort. Kaum jemand wagte, zu atmen.
Eine junge Frau rieb sich die Augen und entblößte die roten Striemen an ihren Handgelenken. Wie lange hielt er sie alle gefangen? Seit wann arbeiteten sie für ihn? Wie viele Jahre war es her, dass er sich ihnen gezeigt und diese Gruppe gefangen genommen hatte? Das Zeitgefühl war diesen Menschen entglitten, so wie ihnen ihr Lebensmut entglitten schien. Bis heute.
Über den gegrabenen Tunnel gelangten sie in die Kanalisation und ein Mann mit grauem Bart übernahm die Führung. Die anderen wateten durch den zähflüssigen Strom, der den Geruch von Urin und Exkrementen trug, und fragten sich, wann sie aufatmen könnten.
Auf einmal stoppte der Trupp. Der bärtige Mann streckte die Hand aus und winkte jemanden heran. Sie unterhielten sich, diskutierten und die Gruppe teilte sich auf. Je weniger auf einem Haufen durch die Gänge schlichen, desto geringer war die Chance, dass sie entdeckt wurden. Wenigstens eine Gruppe müsste es schaffen und die Menschheit warnen.
Einsamkeit nahm die Menschen ein, obwohl niemand allein war. Sie wanderten durch die muffigen Gänge unter der Erde, lauschten und schlichen weiter. Hin und wieder reichten Leitern ins Abwasser, in dem sie standen, aber sie gingen an ihnen vorbei. Stunden verstrichen, vielleicht auch Tage, bis der bärtige Mann vor einem Ausgang an die Oberfläche stoppte.
Dumpfe, metallische Schritte kündigten die letzten Meter in die Freiheit an. Ein älterer Mann folgte den Jungen und blinzelte in die untergehende oder aufgehende Sonne. Zeit spielte keine Rolle. Sie kletterten aus der Kanalisation auf eine Hauptstraße, verursachten einen Stau mitten in der Stadt und starrten in fragende Gesichter.
»Michael!« Eine Frau rannte auf sie zu. Ihre Hose hatte sich mit Abwasser vollgesogen. »Wir haben es alle geschafft! Wir sind alle in Sicherheit.«
»Du ...« Michael rieb sich die Augen und putzte seine feuchten Hände an seinem Hemd ab. »Ihr habt es auch geschafft? Er hat keinen von uns erwischt?«
»Wir müssen weiter, Michael. Wir müssen es den wichtigen Leuten erzählen. Der Presse. Der Regierung.«
»Bevor es zu spät ist«, stimmte er der Frau zu und ließ seinen Blick über die blinkenden Fahrzeuge schweifen, die sie umringten. So viele Menschen lebten in Unwissenheit, lebten ihr Leben und fühlten sich sicher. Doch niemand von ihnen war sicher.
Bevor alle Mitglieder der Gruppe aus der Kanalisation gestiegen waren, ertönten bereits Sirenen und schwere Fahrzeuge hielten in einem Halbkreis an. Die Verletzten wurden zuerst versorgt und von der Straße geschaffen. Die Polizei sperrte die Kreuzung ab und verwarnte die Schaulustigen, die über die Absperrungen springen wollten.
»Woher kommt ihr?«, wollte ein Polizist wissen und zählte dabei die Leute, die sich zusammengerauft hatten. »Können Sie mir ihre Namen nennen?«
»Michael, aber das ist unwichtig«, sagte der Mann und näherte sich dem Polizisten. »Sie müssen mir zuhören, wir sind alle in Gefahr.«
»Was meinen Sie damit?«
»Die ägyptischen Götter sind auf dem Vormarsch. Einer von ihnen hat uns gefangen genommen und uns für sich arbeiten lassen ... Irgendwo im Untergrund, in einer alten Ruine.« Michael deutete auf die Menschen, die hinter ihm auf einander hockten. »Wir konnten fliehen und müssen etwas unternehmen, sonst ...«
»Moment, wir hören uns Ihre Geschichte auf dem Revier an«, erklärte der Polizist und winkte zwei Männer herbei.
»Nein, Sie verstehen mich nicht, ich flehe Sie an, hören Sie mir zu. Die Götter werden uns versklaven, wenn wir nichts unternehmen.«
»Gehen Sie bitte mit diesen Herren mit. Alles weitere klären wir auf dem Revier und Ihre Freunde ... Denen helfen wir auch.«
Diese Hilfe, die den Geflohenen versprochen wurde, endete in einer Psychiatrie. Niemand berichtete von den Göttern und der Gefahr, der von ihrem Anführer ausging. Schleichend kam die Gefahr näher. Sie schlich sich in die Psychiatrie ein. Mit jedem Schritt, den sie in Gestalt eines Menschen tat, fiel ein anderer Mensch tot um. Das Grauen ohne Gesicht tötete die Angestellten und die Ärzte, zerquetschte sie, als wären es Fliegen.
Vor einem Zimmer machte der Mörder Halt. Mit einem Knall riss er die Tür aus den Angeln und katapultierte diese in den Raum. Ein Mensch drängte sich an die Wand, die Augen weit aufgerissen und die Zähne zum Zerbersten aufeinander gepresst.
»So sieht man sich wieder, mein kleiner Bote«, lachte die dunkle Gestalt und stellte sich vor den Mann. »Michael, richtig?«
Er nickte.
»Kannst du dir denken, warum ich hier bin?«
Er nickte.
»Das macht es einfacher.« Die Gestalt umschloss mit einer Hand Michaels Hals. »Du hast deine Aufgabe nicht erfüllt und ich habe nicht einmal viel von dir verlangt. Du solltest es den Menschen von mir berichten und nun sieh dich um!« Er wirbelte den Mann herum und schleuderte ihn gegen die andere Wand. »Sie haben dich als Wahnsinnigen hier eingesperrt und deine Sippschaft ebenso. Keiner hat dir geglaubt und deshalb muss ich ihnen einen Beweis für meine Existenz geben.« Er spähte zur Kamera an der Decke. »Dein Tod und derer in dieser Anstalt sollte Beweis genug sein. Ich bin Seth, Gott des Chaos und des Verderbens und werde die Menschheit für meine Zwecke nutzen.«
Michaels Gesicht lief rot an und verlor dann seine Farbe, während Seth sein Leben aus ihm herausdrückte. Die Arme zuckten noch ein, zwei Mal und der Gott ließ von seinem Opfer ab, verließ das Zimmer und das Gebäude. Doch die Menschheit verstand seinen Hinweis nicht, tat ihn als Amoklauf ab und hatte die Morde wenige Wochen später bereits vergessen.
Was die Menschheit jedoch niemals vergessen wird, war der Tag, an dem Seth seine Stimme erhob, die wie Donner über die Stadt fegte und die Häuser niederriss. Durch ihn bebte die Erde und das Beben zerstörte all das, was der Sturm nicht mit sich nahm. Die Menschen flohen, aber ihre Flucht endete im Chaos des Gottes, den sie lernten, zu fürchten. Ihre Unwissenheit und ihr Unglaube sollten die schlimmste Katastrophe der Menschheitsgeschichte entfachen.
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