Ordnung - Zwei - Sandsturm

»Wie weit ist es noch? Meine Füße tun weh!«, jammerte Amara.

»Noch ein Stück«, antwortete Bastet ihr. Sie waren seit ungefähr drei Stunden unterwegs. Ohne Pause. Sie selbst brauchte auch keine, ihr Kondition hielt das aus. Das Wunder der Göttlichkeit. Aber es war womöglich an der Zeit, Amara zu liebe eine kleine Rast einzulegen. Sie schaute sich nach einer geeigneten Stelle um. Im Moment waren sie in einer eher ländlichen Gegend, verdorrte Felder rechts und links und keine Gebäude in der Nähe. Vor ihnen lag eine zerfallene Brücke, dessen Trümmer überall verteilt Lagen. Dies war ein besserer Platz als auf dem Boden zu sitzen und gab zudem noch ein wenig Deckung. Amara setzte sich auf ein Klotz Beton, rieb sich über die Beine und stöhnte erschöpft. »Jetzt mal ehrlich, wohin gehen wir?«, sagte sie zu Bastet etwas zu maulig.

»Wie gesagt: Es dauert noch ein wenig. In der nächsten Stadt gibt es ein Unterschlupf, wo wir uns erstmal verstecken können.«

»Verstecken wovor? Oder vor wem?«

So langsam verlor Bastet die Geduld. Warum konnte das Mädchen nicht warten. Sie war impulsiv und stur, genauso wie es Linus gewesen war. Unwillkürlich musste sie schmunzeln. Es war erfrischend mal wieder jemanden um sich zu haben, der einem nicht blindlings gehorchte. Um ehrlich zu sein, war es schön, überhaupt jemanden um sich zu haben, der nicht miaute und sich auf vier Pfoten fortbewegte. Dennoch: Erklärungen müssten bis zum Versteck warten. Es wurde Zeit, dass sie weitergingen.

Plötzlich sprang Amara erschrocken auf und schaute in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Was ist das?«

Der blaue Himmel schien sich von Sekunde zu Sekunde in ein tiefes Rot zu verfärben. Die Sonne verdunkelte sich und kaum ein Fünkchen Licht drang noch zu ihnen.

»Ein Sandsturm! Schnell!«, schrie sie Amara an.

Sie schob die junge Frau voran, weiter in die Trümmer rein, in einem engen Hohlraum, wo sie gerade so beide Platz fanden. Nun hieß es Ruhe zu bewahren und keinen Mucks von sich zu geben. Irgendjemand hatte geplaudert, dass sie sich in der Nähe aufhielt. Sie dachte an den Rothaarigen aus dem Wohngebäude. Hatten die Sethets ihn etwa mitgenommen und er hatte ihnen verraten, dass sie dort gewesen war. Oder jemand anderes aus dem Haus. Das war die einzige Möglichkeit. Die Sethets hatten sie nicht zu sehen bekommen. Aber eins war klar und durch den Sandsturm bewiesen: Er wusste, wo sie sich herumtrieb.

Der Sturm fegte über sie hinweg, es pfiff aus allen Richtungen. Bastet kauerte sich zusammen, zog die Beine an und schlang die Arme um sich. Ihr war kalt und sie zitterte am ganzen Leib. Sie spürte seine Macht. Die Wut, den Hass und den Willen alles zu beherrschen. Jedes Pfeifen des Sturmes hörte sich wie sein Rufen nach ihr an. Ein ganz kleiner Teil von ihr, würde seinem Rufen nur zu gerne folgen. Der Teil, der noch immer Hoffnung hatte, dass Jades Wesen noch irgendwo in ihm steckte. Zum Glück siegte die Vernunft. Die Erinnerungen an den Schmerz, den Seth ihr zugefügt hatte, hielten sie zurück. Niemals würde sie sich ihm freiwillig hingeben. Nie wieder.

Bastet streckte ihre eigene Macht aus, umhüllte Amara und sie, um wirklich sicher zu gehen, dass Seth sie nicht fand. Sie war gut darin, sich vor ihm zu verbergen, sich in die Schatten zu hüllen und wie eine Katze im Dunkeln zu lauern. Ihre Kraft reichte bei Weitem nicht an seine ran. Seine Gier und sein Machthunger machten ihn stark und ihre Selbstzweifel und der Unwille auf ein unsterbliches Leben schwächte sie. Aber sie würde alles daran setzen, gegen ihn anzukämpfen. Ihm zu unterliegen, war ihre größte Angst.

Der Sandsturm verzog sich. Bastet entspannte ein wenig, wartete jedoch noch einen Moment, bevor sie aus dem Versteck kletterte. Kein Sandkorn war zu sehen, seine Macht war fort und mit ihr sein Rufen. Dennoch wollte sie so schnell wie möglich aus dem offenen Gelände raus. Sandstürme blieben unberechenbar und ein weiterer könnte aufziehen.

Amara krabbelte auf allen Vieren unter dem Geröll hervor und klopfte sich den restlichen Sandstaub von ihrer braunen Stoffhose. Sie hob die Arme, ging sich durch die Haare und blieb dann mit den Händen auf ihrem Kopf vor der Göttin stehen.

»Bekomme ich dafür eine Erklärung?«

Bastet entging der missfallende Tonfall nicht. »Das war kein normaler Sandsturm«, erklärte sie. »Den hat Seth geschickt, um uns zu finden.«

»Warum?«

Bastet schnaubte. Schon wieder Fragen. »Können wir damit warten, bis wir uns ein Versteck gesucht haben. Dann erkläre ich dir alles. Versprochen.«

»Na schön!« Amara streckte sich noch einmal und teilte dann mit, das sie nun weitergehen könnten.

Es dauerte nicht lange, da tauchten die Skyline der nächsten Stadt auf. Bastet wusste, dass es eine größere Stadt war, in der sie schon öfters gewesen war. Die riesigen Wolkenkratzer zeichneten sich deutlich am Horizont ab. Nicht mehr lange und sie würden die Vorstadt erreichen, doch ihr Ziel war das Zentrum der Stadt. Oder eher gesagt: der Untergrund.

Viele Städte waren seit der Offenbarung der Gottheiten leer gefegt. Man hatte selbst in den Großstädten das Gefühl, in einer Geisterstadt zu sein. Viele Menschen versteckten sich, doch der Großteil befand sich in Lagern und Kolonien, je nachdem wie nützlich sie waren. Ältere Menschen lebten in Städten, um die eine riesige Mauer gezogen worden war. Und jüngere Menschen wie Amara lebten in Lagern oder in solchen Wohnhäusern, wo man sie jederzeit zu Sklaven machen konnte. Es war traurig, so viele Häuser glichen Ruinen.

Seit hundert Jahren nicht mehr bewohnt und gepflegt, fielen sie wie Kartenhaus zusammen. In vielen Städten sah es ähnlich aus. Nur in den Kolonien herrschte Leben, aber auch diese Städte hatten sich verändert. Riesige Pyramiden waren mit der Zeit errichtet worden. Um diese Bauwerke herum Palastkomplexe und Tempel, damit die Menschen den ägyptischen Göttern, die auf Seth' Seite standen, huldigen konnten. So viele hatten sich dem Gott des Chaos angeschlossen. Auch wenn sie nicht über seine Macht verfügten, so schafften sie es doch die Menschen zu unterdrücken. Mit den Jahren wechselten seine Anhänger, da die neu geborenen Reinkarnationen nicht mit der Macht aus der Duat in Berührung gekommen waren, ihre menschliche Hülle starb und die göttliche Seele in einem neuen Körper wiedergeboren wurde. Nur zwei Anhänger waren stetig an seiner Seite. Bianca und Elias. Oder nun bekannt als Nephthys und Schu. Natürlich waren sie ebenfalls durch die Ereignisse unsterblich. Bastet wusste zwar noch von weiteren unsterblichen Gottheiten, die während der Zeit der Toröffnung reinkarniert waren, jedoch war sie noch keinem von ihnen begegnet. Vielleicht gab es noch mehr, die sich im Verborgenen hielten und nicht in Seth' Blickfeld gerieten.

Die beiden Frauen durchquerten mehrere Straßen, dabei achtete Bastet darauf, dass sie sich in den Schatten fortbewegten. Man wusste nie, welche Augen einen beobachteten. Die Städte waren gefährlich, überall lauerte Gefahr von Menschen, die sich versteckten, nichts mehr hatten und Diebstähle begangen. Diejenigen, denen das Glück vergönnt war nicht von den Sethets gefangen worden zu sein, erging es mit den Jahren immer schlechter. Da die komplette Wirtschaft zusammengebrochen war, standen sie alleine da. Die Läden waren schnell geplündert gewesen und Nachschub gab es nicht. Die einzige Lösung in so einem Fall: Reisende überfallen, in der Hoffnung, dass diese etwas dabei hatten. Der Tod war ein ständiger Begleiter. Besonders, da es auch keine medizinische Versorgung außerhalb der Kolonien und Lager gab. Ungefähr fünfzig Jahre nach der Offenbarung war eine große Seuche ausgebrochen. Viele der Verstoßenen hatten es nicht überlebt. Bastet konnte nicht sagen, wie viele es nicht geschafft hatten, aber sie wusste, dass die Menschheit um einiges reduziert worden war. Seth war dies nur zu Gute gekommen. Was sollte er schließlich mit so vielen Menschen anfangen? Sie hatte den Kranken so gut wie möglich geholfen, aber auch sie hatte ihre Grenzen. So viele waren in ihren Armen gestorben. Denen, den sie helfen konnte, waren ihr auf ewig dankbar gewesen und mit einigen ihrer Nachfahren war sie noch heute bekannt. Ein paar von ihnen befanden sich sogar in dieser Stadt.

Bastet führte Amara in eine Seitengasse in der Nähe des hiesigen Hauptbahnhofes. Die Hauswände rechts und links waren mit Hieroglyphen getaggt, die soviel hießen wie »Alle Macht dem Seth« oder »Gepriesen sei unser große Gottheit Seth«. Hin und wieder sah man Wörter wie »Tot den Göttern«, aber solche Wandbemalungen wurden schnell von den Sethets vernichtet. Unter einem »Gehorcht Seth« befand sich am Boden ein Gitter, das zu den U-Bahn-Tunneln der Stadt führte. Sie öffnete es und wies Amara an hinabzusteigen.

Die Achtzehnjährige zögerte. »Wie jetzt? Da runter? Da ist es dunkel und dreckig! Und bestimmt durch die vielen Jahre voller Spinnweben. Wie lange fährt schon keine U-Bahn mehr? Zweihundert Jahre? Und was ist, wenn ich da unten bin und dann von irgendetwas angegriffen werde?«

Oh Ra, schenke mir Geduld, dachte Bastet. So eine Reaktion hätte sie von einem verwöhnten Prinzesschen erwartet, die es auf der Freyer Akademie zu Hauf gegeben hatte. Was aus denen wohl geworden war? Für die war das plötzliche Leben in Sklaverei bestimmt ein Umschwung gewesen. Keine Partys, kein Geld und keine Privilegien mehr. »Nun mach schon. Da ist nichts Schlimmes, ich bin in den letzten Jahren öfters Mal da unten gewesen!«

Widerwillig kletterte Amara die Leiter nach unten. Bastet folgte ihr sogleich. Die Tunnel waren stockdunkel, sodass man nicht einmal seine eigene Hand vor Augen sehen konnte. Eine Taschenlampe oder eine andere Lichtquelle hatten sie nicht dabei. Bastet ergriff die Hand der jungen Frau und führte sie durch die Dunkelheit. Das war das schöne an ihren Kräften. Sie konnte bei Dunkelheit sehen. Katzenaugen halt. Amara würde niemals alleine aus diesem Gängesystem, dass sich wie ein Labyrinth zusammensetzte, herausfinden.

Sie irrten bestimmt seit einer viertel Stunde durch die Tunnel, als sie plötzlich umzingelt waren. Mehrere Männer und Frauen mit Nachtsichtbrillen und Schlagstöcken versperrten jede Fluchtmöglichkeit.

»W-was ist hier los?«, stammelte Amara, die nichts sah, aber bemerkt hatte, dass sie nicht mehr alleine waren.

»Hab keine Angst!«, flüsterte Bastet ihr zu. Niemals würde sie zulassen, dass der jungen Frau was passierte. Diese Leute sollten es ruhig mal versuchen, sich mit ihr anzulegen. Aber sie bezweifelte, dass sie sich würde wehren müssen. Diese Menschen würden es nicht wagen sie anzugreifen. Sie wand sich zu der Gruppe: »Wir kommen mit guten Absichten!«

Ein Mann trat vor, hob den Schlagstock und hielt ihn unter Amaras Kinn. Sie wimmerte, denn sie konnte die Bedrohung nicht ausmachen. Ihre Hände waren ganz feucht vor Angst und ihr zittern hallte in Bastet wieder. Liebend gerne würde sie ihr Mut zu sprechen, aber der Zeitpunkt gab keine aufmunternden Reden her. »Wen hast du uns denn hier mitgebracht!«, fragte er mit einer rauchigen, tiefen Stimme.

»Jemanden, der euren Schutz benötigt!«, antwortete Bastet ihm.

»Wir nehmen keine weiteren Streuner auf! Wir können jetzt kaum alle Mäuler stopfen. Bring sie woanders hin«, grummelte der Mann und wand ihnen den Rücken zu. Nachdem er kurz seine Hand gehoben hatte, öffnete sich eine Lücke in der Umzingelung. Der Weg zurück zum Ausgang.

Bastets Augen funkelten und sie starrte erzürnt zu dem Mann. So einfach würde sie sich nicht abspeisen lassen. Sie war eine Göttin und das würde diese Gruppe auch zu spüren bekommen. Sie fuhr quasi ihre Krallen aus und ging in Angriffsstellung. »Das Mädchen bleibt hier!« Sie war wild entschlossen. Dieses Versteck war momentan der sicherste Ort vor Seth und seinen Leuten. Amara würde hier gut aufgehoben sein. Außerdem wollte sie sich nichts von Leuten sagen lassen, die keine Entscheidungsgewalt hatten. Sie würde nur das Wort ihres Anführers akzeptieren.

»Wie heißt du?«, fragte sie den Mann, der sich hier als Anführer aufspielte.

Er verschränkte die Arme vor seiner Brust, baute sich vor ihr auf und antwortete ihr mit stolzer Stimme. »Thore!«

»Nun gut, Thore! Du hast zwei Möglichkeiten. Erstens: Du bekommst die Kraft einer unsterblichen Gottheit zu spüren, auch wenn ich davon kein Fan bin. Oder Zweitens: Du packst jetzt deine Leute und führst uns zu deinem Anführer. Denn ob du es glaubst oder nicht, egal was du tust, ich werde nur den Worten von Hektor vertrauen. Also ... Wofür entscheidest du dich?«

Sie beobachtete, wie der lautstarke Thore tief schlucken musste. Unwillkürlich grinste sie. Wenn Heather diesen Moment doch nur miterlebt hätte, dann wäre sie bestimmt begeistert, was für eine starke Persönlichkeit aus ihr geworden war.  

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