Ordnung - Vier - Gift

Nachdem sie aus der Kanalisation geklettert war, dauerte es nur ein paar Sekunden, bis sie klitschnass war. Es regnete in Strömen und es sah nicht danach aus, dass es bald nachließ. Sie zog sich die Kapuze von ihrem hellbraunen Umhang über den Kopf und eilte dann durch die Straßen auf der Suche nach einem Unterschlupf. An einer alten Bushaltestelle fand sie einen Unterstand. Die Scheiben des Bushäuschens waren zerschlagen und die Scherben lagen nach all der Zeit noch zerstreut am Boden. Einige kräftige Ranken hatten sich der Metallbank und Pfosten bemächtigt und zeigten mit ihren blauen Blüten ihre wunderschöne Pracht. An vielen Orten auf der Welt sah es so aus, gerade an den unbewohnten. Die Natur holte sich das zurück, was die Menschheit zerstört hatte.

Da die Bank nicht mehr sehr stabil wirkte, setzte Bastet sich im Schneidersitz auf die von Unkraut überwucherten Steine. Ihren Ellenbogen stützte sie auf ihrem Bein auf, sodass sie ihre Wange an die Hand legen konnte. Wie sah nun ihr nächster Schritt aus? Sie konnte nicht wie bisher ziellos umherstreifen. Das hatte ihr in der Vergangenheit nicht viel gebracht. Erreicht hatte sie nur etwas, wenn sie einem Auftrag oder Hinweis nachgegangen war, wie die Sache mit Amara. Vielleicht war diese junge Frau auch die Lösung für ihre Ziellosigkeit. Schließlich hatte sie eine Bitte an Bastet geäußert. Wenn die Göttin sich nun erstmal auf die Suche nach dem jungen Burschen Carlos machte, würde sie mit Sicherheit auch ein paar Informationen über Seth bekommen.

Es war also beschlossen, sie würde zurück zu dem Wohnhaus gehen und von da aus weiter nach Norden, in die Richtung, in die man Carlos gebracht hatte. Sie hatten nun ungefähr einen Tag Vorsprung. Doch wenn sie schnell war, würde sie den voll beladenen Wagen mit den Sklaven einholen.

Der Regen ließ nach und Bastet ergriff die Chance. Leichtfüßig rannte sie durch die Straße, übersprang liegengebliebene Autos und Schutt von eingestürzten Gebäuden. Der Wind wehte durch ihre offenen braunen Haare. Es war ein befreiendes Gefühl, sich so durch die Gegend zu rennen. Als Sterbliche war sie nie so wendig und geschickt gewesen, damals war sie eher über ihre eigenen Füße gestolpert.

Bald erreichte sie die in Trümmern liegende Brücke. Sie hielt kurz an, um für einen kurzen Moment zu Atem zu kommen. Auf einem der Steine lag eine hauchdünne Schicht Sand. Bastet strich darüber und zerrieb die Körner zwischen ihren Finger. Die Macht, die Sand und Wind sie auf dem Hinweg spüren ließen, war verschwunden.

Plötzlich verspürte sie einen tiefgehenden Stich in ihrem Hals. Von diesem Punkt aus breitete sich ein brennendes Gefühl in ihrem gesamten Körper aus. Bastet versuchte, sich gegen den festen Griff zu wehren, der sie gepackt hatte, doch ihre Arme wurden schlaff und auch ihre Beine gaben unter ihr nach. Innerlich verfluchte sie sich dafür, dass sie sich nur auf die Sandkörner konzentriert hatte und in diesem Moment ihre Umgebung außenvorgelassen hatte. Sie war unachtsam geworden, jetzt wo sie Amara nicht mehr als Anhängsel hatte. Ihre Gedanken schweiften in immer weitere Ferne, bis sie gänzlich das Bewusstsein verlor.

Bastet fand sich in einem nicht beleuchtete, muffigen und kaltem Raum wieder. Das erste was sie sah, war ein zerschlagenes Fenster, das sich oberhalb der Wand befand und durch seine geringe Größe kaum Licht spendete. Wenigstens erkannte sie einige verschleierte Wolken, die  durch die aufgehende Sonne eine leicht rote Farbe angenommen hatten.

Genervt stellte sie fest, dass ihre Hände und Füße mit Ketten gefesselt waren. Wer war denn so blöd und versuchte, eine Göttin zu fesseln? Doofe Idee! Derjenige konnte etwas erleben! Wenigstens hatte er sich die Mühe gemacht, sie an einen Stuhl zu fesseln und hatte sie nicht auf dem Boden abgelegt. Mit einem kräftigen Ruck zog sie an den Handschellen, aber sie gaben nicht nach.

»Sie ist wach!«, hörte sie eine Frau mit einer tiefen, rauchigen Stimme sprechen.

Wieder zerrte Bastet an ihren Fesseln und dieses Mal wurde das Klirren von einem Lachen begleitet, das ihr durch Mark und Bein ging. Dieses gehässige Lachen kannte sie. Niemals hätte sie gedacht, es in einer solchen Situation zu hören.

Als Seth sich in ihr Blickfeld schob, überschlugen sich ihre Gefühle. Auf der einen Seite hatte sie Angst und wollte auf der Stelle die Flucht ergreifen. Der Gedanke, ihm ausgeliefert zu sein, brachte ihr Herz zum Rasen. Auf der anderen Seite freute sie sich, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen. Und auch aus diesem Grund schlug ihr Herz, denn die Erinnerungen an Jade, den sie tief in ihrem Inneren immer noch liebte, übermannten sie.

Er hatte sich kaum verändert, er trug schlichte schwarze Kleidung, das hatte sie bei ihm nicht erwartet. Seine karamelblonden Haare waren länger als damals und er trug sie nun offen, sodass die Spitzen auf seiner Brust ruhten. Er hockte sich vor Bastet und starrte sie aus seinen stechenden goldenen Augen an. Dennoch blieb er still. Sie wartete nur darauf, dass er seine Stimme erhob.

Die Frau durchbrach zuerst die Stille. »Sollen wi-«

Seth schnitt ihr das Wort ab, indem er seine Hand hob.

Nun wandte Bastet ihren Kopf, um zu sehen, wer sich noch im Raum befand. Vier maskierte Sethets standen an der Tür, die einzige, die aus diesem vermeintlichen Keller herausführte. Etwas näher bei ihr stand die Frau, die zuvor gesprochen hatte. Sie war wunderschön. Ihre schokoladenbraune Haut war makellos, ihr markantes Gesicht wurde von hüftlangen, schwarzen Haaren umrahmt. Sie war bewaffnet mit einem goldenen Speer, den sie kampfbereit in der Hand hielt.

Seth schien es nicht zu gefallen, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf andere richtete. Mit kräftigem Griff packte er ihr Kinn und wandte ihr Gesicht wieder ihm zu. Dann richtete er seinen Blick zu der Frau. »Geht!« Es war nur ein Wort, aber seine Stimme ließ Bastet erbeben. Nur durch das Rascheln der Kleidung vernahm sie, dass die anderen den Raum verließen und sie nun mit dem Wüstengott allein war.

Fest entschlossen starrte sie an ihm vorbei auf die kahle, graue Wand. Sie würde die Stille nicht durchbrechen, besonders, weil sie Seth nichts zu sagen hatte. Auch er hockte nur da und betrachtete sie.

Plötzlich hob er seine Hand und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Entsetzt zuckte sie bei seiner Berührung zusammen. Seine Hand war eiskalt und diese Kälte übertrug sich auf sie. Bastet erschauderte. Erneut berührte er ihre Wange, glitt hinab zu ihren Lippen und fuhr sie langsam ab. »Du bist genauso schön wie eh und je!« In seinen Worten lag kein Anflug von Hass oder Verbitterung. Beinahe klang er wie der Mann, in den sie sich verliebt hatte. Aber sie traute seiner plötzlichen Sanftmut nicht. Mit Sicherheit war es nur ein weiteres Täuschungsmanöver. Schon damals hatte sie solche Tricks von ihm erfahren. Nur lebhaft erinnerte sie sich daran, wie seine Täuschung zu ihrer Gefangenschaft im Institut geführt hatte.

Bastet richtete sich etwas weiter auf, sodass sie sich seiner Berührung entzog. »Wo ist deine Geliebte, die dir eigentlich nie von der Seite weicht? Ich habe sie gerade nicht gesehen.«

Seth erhob sich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nephthys ist im Palast. Ein wahrer Segen! Sie wurde betäubt, sodass sie erst gar nicht auf die Idee kommen konnte, mich zu begleiten.«

»Seit wann kann man denn Gottheiten betäuben?«

»Ich habe einige Wissenschaftler etwas herumexperimentieren lassen. Mit dem gleichen Mittel hat Sachmet auch dich betäubt.«

Nun wurde ihr einiges klar. Kein Wunder, dass sie ihren Angreifer erst zu spät erkannt hatte. Von allen ägyptischen Gottheiten war die Löwengöttin Sachmet ihr am ähnlichsten. Nur ihr Wesen war rauer und härter. Sie war gnadenlos und scheute nicht vor Blutvergießen zurück. Es gab eine Zeit in den alten Tagen, wo Bastet als Kriegsgöttin gegolten hatte. Aber irgendwann war sie ihrer jüngeren Schwester unterlegen. Von da an hatte sie nur noch ihr friedfertiges Dasein als Katzengöttin geführt.

»Seit wann gehört sie zu deiner Gefolgschaft?« So langsam taute Bastet etwas auf. Ihr war bewusst geworden, dass dies die beste Chance war an Informationen zu kommen.

»Seit gut hundert Jahren. Sie ist mir sehr nützlich und treu ergeben. Mehr als manch andere Gottheit.«

»Wir können nicht alle so perfekt sein«, teilte sie ihm scharfzüngig mit.

Hämisch grinste er. »Damit meine ich doch nicht dich, meine Liebe.«

»Ich bin schon lange nicht mehr deine Liebe! Schon vergessen, was du mir angetan hast?«

Plötzlich schnellte er vor und packte sie an der Kehle. Da war er wieder, der hasserfüllte, reizbare Gott. »Du wirst immer mein sein! Egal, wie gut du dich verstecken magst!«

Bastet keuchte und er ließ sie los. Er atmete tief durch und sein Körper entspannte sich sichtlich. »Du wirst zu mir zurückkehren. Ich werde dich zu nichts zwingen, du wirst freiwillig kommen. Früher oder später!«

Finster funkelte sie ihn an. »Wenn du das glauben möchtest.«

»Das tue ich! Du wirst es schon sehen. Und wenn es soweit ist, wirst du in meinem Palast mit offenen Armen empfangen. Naja ... Außer von Netphthys natürlich.«

Seth war so selbstsicher. Wie konnte er erwarten, sie würde jemals freiwillig zu ihm kommen. Bei allen Göttern, das würde niemals geschehen. Lieber würde sie sich von einem Apis-Stier zertrampeln lassen.

»Kommen wir nun zu der wesentlichen Frage.« Er schlich um sie rum, blieb hinter ihr stehen und beugten sich zu ihr herunter. Seine Lippen lagen an ihrem Ohr. »Wer war die Frau bei dir?«

Darum ging es ihm also. Er wusste von Amara. Aber kampflos würde sie ihm nichts preisgeben. »Ich weiß nicht, von wem du sprichst.«

»Ach ...«, seufzte Seth. Seine langen Finger strichen über rechte Seite ihres Halses. Mit jedem Moment erwartete sie das erwürgende Gefühl. »Meine liebste Bastet ... Wieso belügst du mich?«

Sie schluckte schwer. »Das tu ich nicht!«

»Man hat euch gesehen, wie ihr das Wohngebäude verlassen habt. Sie muss also jemand wichtiges sein, wenn du sie vor mir schützen willst.«

Bastet brachte kein Wort mehr heraus. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Verzweifelt schüttelte sie den Kopf.

Verächtlich schnalzte er mit der Zunge und trat wieder in ihr Blickfeld. »Ich bin enttäuscht von dir. Außerdem konntest du nie gut lügen! Ich habe ein bisschen nachgehorcht. Die Frau ist eine Nachfahrin von deinem lieben Freund Linus und somit eine Wächterin. Kein Wunder, dass du sie vor mir verstecken willst. Ich habe sogar herausgefunden, dass sie verliebt ist. Zufälligerweise befindet sich ihr Freund in einem meiner Arbeitslager. Wollen wir die beiden nicht wieder vereinen? Sag mir wo sie ist!«

»Ich kann nicht! Ich habe es Linus versprochen.«

Für einen Moment dachte sie, er würde sie schlagen. Aber seine Faust erwischte nicht sie, sondern die Wand. Seth war aufgebracht. Linus und er waren nie so etwas wie Freunde gewesen. Eher Konkurrenten, die um die Liebe ihres sterblichen Selbst gebuhlt haben. »Wie kann dir das Versprechen ihm gegenüber wichtiger sein als das, was wir uns einst gegeben haben?«

Sie wandte den Blick von ihm ab und verweigerte eine Antwort. Egal was er sagte oder versuchte, es würde nie wieder so sein wie einst. Auch wenn sie diese Art an ihm verabscheute, ihn verachtete, war ihr Herz schwer. Auch eine gewisse Sehnsucht nach seinen Zärtlichkeiten überkam sie.

Blitzartig stürmte er zu ihr, beugte sich herab und küsste sie. Der Kuss war vereinnahmend und drängend. Trotzdem erwiderte sie ihn nicht. Sie ließ es einfach über sich ergehen. Aber da war etwas, was sie aufmerken ließ. Sie vernahm seinerseits ein Gefühl der Einsamkeit. Diese Empfindung war für Seth untypisch. Bei all der Zeit, die sie mit ihm verbracht hatte und kannte, hatte sie dieses Gefühl nie bei ihm wahrgenommen. Dieser Gott war niemals einsam gewesen. Er selbst war sich die beste Gesellschaft. War es möglich, dass er sich aller Erwartungen nach in all den Jahrhunderten doch geändert hatte?

Seth richtete sich auf. Erhaben zog er an dem Revers seines Mantels. »Du weißt, was ich von dir erwarte, Bastet.« Er griff in seine Jackentasche und zog eine Spritze heraus. »Bis zu unserem nächsten Wiedersehen.«

Er setzte die Spritze an ihrem Hals an. Erneut überkam sie ein Gefühl der Schwere und Bewusstlosigkeit.

Als sie wieder erwachte, war sie alleine und ihre Fesseln gelöst. Ohne länger auszuharren, sprang sie auf und verließ das Gebäude. Nur kurze Zeit später stellte Bastet fest, dass sie nicht weit entfernt von dem Wohnhaus war, aus dem sie Amara befreit hatte. Und nun hatte sie einen Anhaltspunkt, wo Carlos war. Aber der Gedanke an Seth hielt sie zurück. Er wusste von dem jungen Sterblichen und würde ihn nun mit Sicherheit in seiner Nähe behalten wollen. Und die Genugtuung, dass sie wirklich zu dem Wüstengott ging, wollte sie ihm nicht geben. Es tat ihr wirklich leid, aber Carlos würde vorerst etwas warten müssen, bis etwas Gras über die Sache gewachsen war. 

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