Ordnung - Fünf - Schmerzhafte Erinnerungen

Die seichte Frühlingsbriese wehte durch ihre braunen Strähnen. Es war schon so lange her, dass Bastet diesen Ort besucht hatte. Anfänglich war sie jedes Jahr im Mai hier gewesen, hatte sich in das grüne Gras gehockt und stundenlang mit ihrer besten Freundin geredet. Doch mit der Zeit wurde es schmerzhafter, besonders, weil sie so viele zu Grabe getragen hatte. Ihre Eltern, Nate und Linus. Hoffnungslosigkeit, das war es, was sie mit diesem Ort verband. Rund herum nur Tote. Ebenfalls hatte sie diesen Ort gemieden, weil sie die Befürchtung hatte von Seth gefunden zu werden. Wo wenn nicht hier, würde man sie vermuten. Aber in letzter Zeit war so viel passiert und sie wusste momentan nicht wohin. In solchen Momenten suchte sie den Friedhof immer auf. In der Hoffnung es würde ein Wunder geschehen und die Toten würden ihr den Weg weisen. Auf irgendeine Art und Weise klang das ziemlich armselig.

Leicht strich sie mit den Fingerspitzen über den kalten Marmor und über die Lettern, die Ausdruck darüber gaben, dass hier ein ihr geliebter Mensch lag. »Hallo Heather. Tut mir leid, dass ich so lange nicht hier war. Hatte viel zu tun!«, begrüßte Bastet ihre Freundin. »Alles Gute zum Todestag!« Gedankenverloren musste sie kichern. Was für eine skurrile Situation. Da saß sie nun, sie eine Göttin, auf einem menschenleeren Friedhof vor dem Grab ihrer besten Freundin und lachte darüber, dass sie ihr zum Tod gratulierte. Was war nur aus ihr geworden? Wie gut, dass niemand sie so sah. Niemand. Sie war alleine. Wehmütig erinnerte sie sich an ihren letzten Besuch an Heathers Grab. Ein weiterer Grund für ihre jahrelange Abwesenheit. Eine alte Bekannte hatte sie überrascht, ein Aufeinandertreffen der biestigsten Art. Noch nie hatte sie sich mit Nephthys verstanden, noch nicht einmal, als sie beide noch sterblich und Studentinnen an der Freyer-Akademie waren. Außerdem hatte diese Göttin Bastet im Alten Ägypten ermordet aus Rachsucht, weil Seth die Katzengöttin ihr vorzog. Und an der Akademie ging die Schikane weiter. Erst war ihr Status der Grund und dann ein Kerl. Obwohl nicht irgendein Kerl, sondern Jade oder besser gesagt Seth. Ein Teufelskreislauf, der sich durch die Geschichte zog. Immer wieder kam es zu dieser Dreiecksbeziehung: Nephthys – Seth – Bastet. Nahm das nie ein Ende? Dabei hatte die platinblonde Göttin doch jetzt gewonnen. Sie wich kaum von Seth' Seite. Keine andere Gottheit war ihm so nah. Und er ließ es auch zu, schickte sie nicht weg. Aber wen wunderte es auch, schließlich waren sie eigentlich verheiratet. An jenem Tag, als sie genau an dieser Stelle stand, warf Nephthys ihr vor, dass Seth nie von ihr loskommen würde. Dass er noch nicht über Bastet hinweg sei. Das schürte Wut und Hass in Nephthys. Hätte Bastet sich damals nicht auf der Stelle zurückgezogen, hätte sonst was passieren können. Und da Seth' Rechte Hand sie gesehen hatte, hat sie den Ort gemieden. Eine lange Zeit war seitdem vergangen.

Bastet legte sich ins Gras neben Heathers Grab und schaute gen Himmel. Die Sonne durchbrach die Wolkendecke nur leicht. Die grauen Wolken ließen auf Regen schließen. Aber noch war sie nicht bereit zu Gehen.

Plötzlich legte sich ein Schatten auf sie. Jemand hatte sich ihr genähert und sich in das Licht der Sonne gestellt. »Hallo, Cara!«, begrüßte eine männliche Stimme sie.

Es war merkwürdig diesen Namen zu hören. Seit Jahren hatte sie niemand mehr so genannt. Sie hatte ihn fast vergessen. Für alle war sie nur noch Bastet. Die meisten, die sie unter ihrem sterblichen Namen kannten, waren bereits gestorben. Nur noch die anderen Gottheiten wussten, wer sie einmal gewesen war. Einer von ihnen stand nun direkt neben ihr. »Lange nicht gesehen, Horus!«

»Also ehrlich! Milan! Das ist mein Name! Jedenfalls will ich das du mich so nennst.« Sein Blick wurde trüb und ließ tiefe Trauer durchblicken. »Wenn wir uns nicht gegenseitig an unser altes Leben erinnern, wird es in Vergessenheit geraten. Oder ist dir Bastet lieber?«

Sie gab keinen Ton von sich. Er hatte recht. Sie hatte ihren sterblichen Namen beinahe vergessen. Cara Jackson. Bevor alles seinen Lauf genommen hatte, war sie eine einfache Studentin für Geschichte gewesen an einer Universität für Reiche. Und da hatte auch ihr normales, sterbliches Leben ein Ende gefunden. Viel zu viel hatte sie durch die Zeit dort verloren. Ihre Familie. Ihre Liebe. Und ihre beste Freundin, an deren Grab sie jetzt saß. Sie hatte ihr Leben gegeben um sie alle zu retten. Ein hoher Preis. Wäre sie an jenem Tag an dem Tor gewesen, hätte sie es nicht zugelassen, dass Heather sich opfert. Aber sie war in Gefangenschaft gewesen. Schuldgefühle übermannten sie aufs Neue. Aber was brachte es weiter darüber nachzudenken? Nichts. Sie konnte die Vergangenheit nicht ändern. Doch jedes Mal wenn sie Horus traf, brachte er diese Gedanken und Gefühle zum Vorschein. Sie wollte nur noch Abstand von dem was war. »Cara Jackson existiert nicht mehr«, teilte sie ihm als Antwort mit.

»Aber...«, Horus hockte sich zu Bastet, die daraufhin direkt aufsprang.

»Ich habe Cara hinter mir gelassen. Die Erinnerungen an damals sind einfach zu schmerzhaft! Warum kannst du das denn nicht verstehen!« Sie beugte sich, packte sich an die Brust und drückte gegen ihr schmerzendes Herz. »Ich habe dich nicht ohne Grund zweihundert Jahre gemieden!«

»Bist du immer noch beleidigt wegen dem, was ich damals sagte?«

Noch immer wagte die Göttin es nicht ihm in die Augen zu sehen. Sie hatte keine Lust mit ihm über alte Zeiten zu reden. »Du hast gesagt, ich solle verrecken! Als ob wir das könnten.«

Enttäuscht schnaubte Horus, dann legte er ihr eine Hand auf die Schulter, die sie direkt abschüttelte. »Es tut mir leid! Ich war sauer, dass du so schnell bereit warst alles über den Haufen zu werfen!«

»Schnell?!« Sie schnellte zu ihm herum und schaute direkt in seine trüben, goldenen Augen. Sie hatte kein Mitleid mit ihm, denn sie machte genau das gleiche durch wie er. Aber er schaffte es nicht los zu lassen. »Wir sind über hundert Jahre durch die ganze Welt geeiert, nur um eine Möglichkeit zu finden die Unsterblichkeit rückgängig zu machen. Hundert Jahre! Für mich eine verdammt lange Zeit und definitiv nicht schnell. Jeden einzelnen Tag hast du die Vergangenheit wieder aus der Schublade gezogen, in der ich sie verstaut habe. Ich war mit meinen Kräften am Ende, mich hatte der Mut und die Hoffnung verlassen. Es gibt einfach keinen Weg unsere Unsterblichkeit Rückgängig zu machen!«

»Eine gibt es schon, aber wir waren beide nicht bereit diesen Schritt zu gehen.«

Wie gerne hätte Bastet ihm jetzt eine rein gehauen. Klar gab es einen Weg, doch das beinhaltete, dass Seth die Wächtersteine rausrückte. Und das würde niemals geschehen. Sie von ihm stehlen war auch keine Möglichkeit, nicht bei den Schutzmaßnahmen, die er getroffen hatte. »Sieh es endlich ein, Horus. Es gibt kein zurück mehr!«

Wutentbrannt schlug er mit seiner Faust auf einen Grabstein. Ein heftiger Windstoß kam auf und riss Bastet beinahe um. »Ich kann nicht aufgeben!«, knurrte der Gott. »Bin ich der Einzige, der noch Hoffnung hat?«

»Nein. Nur ich habe eine andere Hoffnung als du. Du hoffst, dass alles so wird wie früher. Ich glaube an eine bessere Zukunft, dass das Böse besiegt werden kann und wir wieder friedlich Leben können!«

»Wie soll die Zukunft besser werden, wenn sie nicht da ist?« Horus hockte sich vor Heathers Grabstein und zeichnete jeden einzelnen Buchstaben mit seinem Zeigefinger nach. »Ich weiß, dass wir sie zurückholen können. Sie existiert noch, ich habe sie gesehen. Sie ist in der Duat, in dem Teil wo unsere göttliche Kraft gefangen war. Sie ist noch nicht vors Totengericht getreten!«

Es brach Bastet das Herz ihn so leiden zu sehen. Er hielt so verzweifelt an der Vergangenheit fest. Wie gerne würde sie ihm helfen, aber ihr fehlte die Kraft dafür. Mit Tränen in den Augen, stellte sie sich hinter den Gott und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du musst damit aufhören! Schließ endlich damit ab! Siehst du nicht, wie es dich kaputt macht. Du krallst dich so fest, aber es ändert nichts, Horus!«

»Nenn mich nicht so!«, zischte er. »Sie lebt! Ich weiß es!«

»Du klingst schon völlig wahnsinnig. Ich wünschte auch man könnte sie zurückholen, aber Heather ist tot. TOT. Hast du das endlich begriffen!« Sie brach zusammen, kauerte sich hin und lehnte sich gegen seinen Rücken. Schmerzerfüllt und verzweifelt weinte sie und benetzte so Horus blaues, etwas zerschlissenes Oberteil mit ihren Tränen.

Nur einen Moment später drehte er sich um und schlang seine Arme um sie. Er hielt sie, bis das beben ihres zierlichen Körpers nachgelassen hatte. Seitdem alle ihre Liebsten verstorben sind, hatte niemand sie mehr so gehalten. Diese Geborgenheit, die der Falkengott gerade ausstrahlte hatte ihr all die Jahre gefehlt.

»Heather würde nicht wollen, das wir vergessen!«, flüsterte er mit den Lippen an ihrem Ohr. »Wir hatten damals auch schöne Tage, an die wir uns erinnern sollten. Heather hätte nie zugelassen, dass du Cara Jackson verleugnest. Denn sie hat Cara geliebt. Und Cara hat dich zu der gemacht, die du heute bist. Verstoße deine andere Seite nicht, denn dieser Teil ist es, der gerade Tränen vergießt!« Sanft legte Horus ihr etwas kaltes und metallisches in die Hand.

Nachdem er sie aus der Umarmung entlassen hatte, warf sie einen Blick auf den Gegenstand in ihrer Handfläche. Unkontrolliert fingen die Tränen wieder an zu laufen. Es war die Kette, die Heather ihr hinterlassen hatte. Der kleine Skarabäus-Anhänger und die silberne Kartusche mit ihrem Namen. Mit ihrem sterblichen Namen. Cara.

Sie war verwirrt. »Aber ich habe doch ...«

»Ich habe damals aus der Ferne beobachtet, wie du die Kette hier zurückgelassen hast. An dem Tag hast du endgültig mit deinem sterblichen Leben abgeschlossen. Nachdem du weg warst, habe ich sie an mich genommen, damit ich sie dir irgendwann wiedergeben konnte.« Horus stand auf, klopfte sich Erde von der Hose und reichte ihr seine Hand. Freudig ergriff Bastet sie und wurde von ihm auf die Beine gezogen.

Sie drückte die Kette an die Brust. »Danke!«

Er lächelte herzlich. »Ich werde jetzt gehen und dich noch etwas mit ihr alleine lassen. Und wenn du dir über einiges klar geworden bist und begreifst, dass ich bezüglich Heather recht habe, dann komm zu mir! Ich habe mich in Heathers Elternhaus einquartiert!«

Plötzlich erhob sich ein starker Wind und mit einem Mal stand ein geflügelter Mann vor ihr. Ohne das sie noch etwas entgegnen konnte, erhob er sich in die Lüfte und schnellte davon. Bastet schaute noch lange in den Himmel bis er vollkommen von den Wolken verschluckt wurde. Eins musste sie ihm lassen, das war eine wirklich praktische Fähigkeit, auf die sie etwas neidisch war.

Erneut setzte Bastet sich vor das Grab ihrer besten Freundin und betrachtete die Kette. Heather hatte immer gewusst, wer sie wirklich war. Von allen anderen hatte sie den Menschen hinter der Göttin gesehen. Sie berührte ihren Namen auf der Kartusche, geschrieben in Hieroglyphen. Es war eine Zusammensetzung aus ihrem sterblichen und göttlichen Selbst. Sterblicher Name und altägyptische Schrift. Heather hatte sie einfach zu gut gekannt.

Die ganzen Emotionen, die über sie hereingebrochen waren, machten sie schläfrig. Der Vorteil die Natur einer Katze in sich zu haben war es, dass sie egal wo Schlaf fand. Also legte sie sich einfach ins wohlduftende Gras und schloss die Augen. Dabei hielt sie die Halskette fest in ihrer Hand, die sie an die Brust drückte. Sie hatte sich dafür entschieden, sobald sie wieder aufwachte, die Katzengöttin und Cara Jackson zu sein. So wie sie es damals gewesen war, als Heather noch lebte. Nur mit ein paar Kräften. Sie ließ ihre Gedanken wegschweifen, weg von allen Sorgen und hinein in die Traumwelt.

Es war heiß und der Rauch um sie herum ließ sie kaum Atmen. Überall waren schreiende Menschen. Sie flohen vor der Dunkelheit, die dabei war die Welt zu verschlingen. Sie wollte ihnen helfen, jedoch fühlte sie sich machtlos. Nicht einmal Zuspruch konnte sie ihnen geben, denn kein einziges Wort entrann ihrer Kehle. Mit jedem Moment wurde die wabernde Dunkelheit größer, wuchs empor und verschlang die mehrstöckigen Häuser um sie herum. Was sollte sie der Dunkelheit nur entgegensetzen? Ihr Licht war verschwunden. Erloschen, als sie die Hoffnung verloren hatte. Entmutigt starrte sie auf ihre zitternden Hände. Sie konnte nichts tun. Unfähig zu allem.

Ein Rufen löste sie aus ihrer Erstarrung. »Verdammt! Cara Jackson, rette ... rette mich!«

Die Göttin wand sich der Dunkelheit zu und da sah sie die Person, die gerufen hatte. In Mitten der alles verschlingenden Dunkelheit war sie. Heather. Und sie sah noch genau so aus, wie an dem Tag, an dem sie gestorben war.

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