Still und leise hockte sie auf der Mauer dieses riesigen Wohnkomplexes. Beide Hände lagen auf dem kalten Stein, ein Bein war angewinkelt und das andere lang ausgestreckt. Sie beobachtete die Menschen, die zusammengepfercht in diesem Gebäude lebten. Auf jede Wohnung kamen ungefähr zehn Leute. Zu viele für diese kleinen Wohnungen. Es gab nur zwei Schlafzimmer, in denen die Bewohner Matratze an Matratze schliefen. Dabei war es egal ob es Männer oder Frauen waren. Geschlechtertrennung war hier egal. Wahrscheinlich hoffte er nur darauf, dass sie sich fortpflanzten. So würde er mehr Sklaven bekommen.
Sie beobachtete diese Menschen bereits seit Tagen. Mittlerweile war die Nacht hereingebrochen. Was sie festgestellt hatte war, dass sie nicht glücklich waren. Sie hatten Angst und litten an ihren kleinen Gefängnissen. Doch schon bald würden sie diese warmen Behausungen verlassen und für irgendwelche Sachen in seinem Dienst eingesetzt. Die Männer würden wahrscheinlich für eins seiner imposanten Bauten herhalten müssen. Und die Frauen würden seine Dienerinnen sein, seine Sklavinnen, die kein Recht hatte über ihr Schicksal zu bestimmen. Vielleicht würde er sie sogar ein paar anderen Gottheiten als Geschenk präsentieren.
Aber sie war nicht nur hier, um zu schauen, was Seth momentan ausheckte, sondern es gab noch einen anderen Grund. Sie suchte jemanden, denn vor Jahren hatte sie einem Freund ein Versprechen gegeben. Ihre kleinen Spione hatten das Mädchen ausfindig gemacht. Irgendwo hinter dieser Gebäudefassade war das gerade mal achtzehn Jahre alte Mädchen.
»Herrin, hier drüben«, schallte eine helle Stimme durch ihren Kopf. Sie wand ihren Kopf zu einer rot getigerten Katze, die ein Stück weiter rechts auf der Mauer saß und ebenfalls ihren Blick gen Gebäude gerichtet hatte.
Sie schlich zu der Katze hinüber und kraulte ihren Kopf, während sie dem Katzenblick folgte. In der Wohnung vor ihr saß ein kleines Grüppchen auf dem Boden, sie lachten und unterhielten sich. Eine von ihnen war das gesuchte Mädchen. »Gut gemacht, Iseret!«, sagte sie zu der Katze.
Sie setzte sich auf die Mauer und ließ die Beine locker baumeln. Sie betrachtete das Mädchen. Sie sah so jung und noch sehr kindlich aus, obwohl sie nun halbwegs erwachsen war. Sonst wäre sie auch nicht hier. Ihr Name war Amara und vor einem Monat hatte Seth' Schergen sie geholt. Nur weil ihre Eltern Kontakt mit ihr aufgenommen hatten, hat sie mit der Suche nach Amara begonnen. Nur wegen diesem blöden Versprechen. Naja, so blöd war es gar nicht. Es war das Versprechen eines sterbenden Freundes. Amara sah ihm auf gewisse Weise ähnlich. Die dunklen, schwarzen Haare und die grauen Augen. Sogar ihr Gesicht war so lang und schmal wie das von Linus gewesen war. Wie lange war Linus jetzt schon tot? Vielleicht waren es schon 300 Jahre. So genau wusste sie es nicht, denn mit den Jahren verschwamm die Zeit und sie hat jegliches Gefühl dafür verloren. Wenigstens hatte Linus ein erfülltes Leben gehabt. Sie war sogar auf seiner Hochzeit gewesen und hatte die Geburt seines ersten Kindes miterlebt. Ein kleiner, strammer Bursche. Mit den Jahren waren sogar die Generationen ins Land gezogen. Amara war die Ur-Urenkelin von Linus und hatte ihn somit nie kennen gelernt. Dennoch trug sie seinen Namen: Tebbe. Obwohl Linus damals herausgefunden hatte, dass sein Geburtsname eigentlich Fine war, hatte er diesen jedoch nicht erneut angenommen. Er hatte sich als Linus Tebbe im Kampf gegen Apophis einen Namen gemacht. Dennoch hatte er seinen Geburtsnamen in ehren gehalten, indem er seinen Sohn Fine taufte.
Amara stand von dem Tisch auf und ging in den benachbarten Raum. Das Licht ging an und sie ließ sich auf eine der Matratzen fallen. Und dann zog sie einen Bilderrahmen unter dem Kissen hervor. Langsam strich sie über das Foto. Was es wohl zeigte?
Iseret miaute. Irgendetwas stimmte nicht. Es war ein warnendes Miauen. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit von dem Mädchen mit dem Foto ab und wandte sich den drei kräftigen Männern zu, die auf dem Weg zum Eingang des Gebäudes waren. Sie waren in schwarze Roben gekleidet und ein rotes Symbol prangte auf ihrem Rücken. Eine Pyramide mit dem Seth-Tier. Es waren seine Schergen. Die Sethets. Sie kamen, um neue Leute in die Arbeitslager zu schaffen.
Jetzt musste sie handeln, ansonsten könnte es zu spät für eine Befreiung sein. Sie sprang von der Mauer und hangelte sich von Baum zu Baum zu der Fassade des Hauses. Auf einem Fenstersims fand sie halt. Langsam und mit Geschick öffnete sie das Fenster und glitt in den stockdunklen Raum dahinter. Leichtfüßig schlängelte sie sich zwischen den schon schlafenden Bewohnern hindurch. Nachdem sie die Wohnung verlasse hatte, fand sie sich im grauen, leblosen Flur wieder. Amara wohnte zwei Stockwerke weiter oben. Sie rannte zum Treppenhaus und spang eine Stufe nach der anderen hinauf. Von weiter unten hörte sie die schweren Schritte der Männer. Und das Geschrei von Sterblichen, die aus ihren Wohnungen gezogen wurden. Sehr gut, sie arbeiteten sich von unten nach oben durch. Einen kleinen Vorsprung verschaffte ihr das.
Bewohner kamen ihr entgegen, die von den Schreien der anderen geweckt worden waren. Sie traten zum Treppenabsatz und schauten über das Geländer nach unten. Keiner von ihnen wirkte panisch oder machte Anstalten zu fliehen. Sie waren nervös und beteten, das man sie nicht mitnahm.
Sie schlängelte sich durch die Bewohner und suchte die Wohnungstür von Amara. Es war viel schwieriger hier drin jemanden zu finden als draußen auf der Mauer, von wo man in die Wohnungen und die Leben der Bewohner beobachten konnte. Sie hatte nur eine grobe Richtung, wo sie jetzt suchen musste. Wenigstens war sie auf der richtigen Etage, dann müsste sie auch die richtige Wohnung finden.
Ein sehr rothaariger Bewohner torkelte durch den Gang und rempelte sie mit voller Wucht an. Sie wankte zurück konnte aber katzenartig ihr Gleichgewicht finden. Der rothaarige Bewohner mit den zahlreichen Sommersprossen im Gesicht schaute sie entschuldigend an, schreckte dann jedoch zurück. »E-e-ein-e G-g-g-göt-tin!«, stotterte er verängstigt und krabbelte auf allen vieren von ihr weg. Die anderen im Gang wandten sich ihr zu und wichen ebenfalls zurück. Nun lag große Angst in ihren Augen.
Weitere Türen öffneten sich und Köpfe lugten an den Rahmen vorbei. Sie erkannte den schwarzen Schopf sofort und rannte auf Amara zu. Noch bevor sie verschreckt davonrennen konnte, packte sie sie am Arm und zog sie aus der Wohnung raus. Amara schrie auf und suchte panisch nach Hilfe. Aber niemand kam, keiner wollte sich einer Göttin in den Weg stellen. Nun war sie daran einen Fluchtweg aus dem Gebäude zu finden. Wieso hatte sie das Gebäude nicht vorher ausgekundschaftet, bevor sie sich auf die Lauer gelegt hatte. Zurück zum Treppenhaus ging nicht, da waren die Sethets unterwegs. Durch ein Fenster ging auch nicht, sie würde überleben, aber Amara nicht. Also bestand nur die Hoffnung, dass es in der anderen Richtung ein zweites Treppenhaus gab.
Ein rotes Fellknäul kreuzte ihren Weg. Die bernsteinfarbenen Augen der Katze durchbohrten sie und in ihrem Kopf hörte sie die helle Stimme. »Der Ausgang ist hier drüben, Herrin!« Iseret sprang voraus und sie folgte ihr mit Amara im Schlepptau. Die Katze hatte tatsächlich ein weiteres Treppenhaus gefunden. Es war wesentlich enger als das andere, aber auch niemand hielt sich hier auf. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, schnellten sie die Treppe nach unten. Es blieb keine Zeit mehr. In jeder Sekunde könnte man sie entdecken. Auf keinen Fall durfte man sie fassen.
Frische Luft füllte ihre Lunge. Vor ihnen lag freie Fläche bis zur Mauer. Aber sie waren auf der Rückseite rausgekommen und dort war kein Durchgang in der Mauer. Es gab nur einen gegenüber des Haupteinganges. Doch dort war die Chance hoch entdeckt zu werden. Aber welche Wahl hatten sie schon? Augen zu und durch.
»Hey, lass mich endlich los!«, wehrte sich Amara gegen den Griff.
»Wir müssen schnell weiter«, fauchte sie.
Amara verschränkte die Arme vor der Brust und starrte sie vorwurfsvoll an. »Ich weiß aber nicht mal, wer du bist. Warum sollte ich dich begleiten? Außerdem ist es echt nicht nett, jemanden einfach aus seiner Wohnung zu ziehen. Ich habe nichts dabei.«
Sie schmunzelte. Wie ähnlich sie Linus war. So offen und nahm kein Blatt vor dem Mund. »Ich bin eine Freundin deiner Familie. Reicht dir das?«
»Nein!«
Die Göttin rollte mit den Augen und drehte sich zu dem jungen Mädchen um. Das Licht des Mondes fiel ihr ins Gesicht und sie wusste, was Amara nun erkennen würde. Den goldenen Schein in ihren Augen, das Merkmal einer Gottheit.
Amara zuckte kurz zusammen, aber in ihren Augen stand keine Angst. Nein, in ihnen stand Erkennen und Verständnis. »Du bist die Göttin, die über meine Familie wacht. Die mit meinem Ururgroßvater befreundet war. Dein Name ist Bastet, richtig?«
»Ja. Und nun komm endlich. Wir müssen jetzt gehen! Weitere Erklärungen folgen später.« Sie schlich weiter voran, versteckte sich hinter einem Gebüsch und hielt Ausschau nach den Männern von Seth. Sie hielten sich an der Wand des Gebäudes und umrundeten es. Auf der Vorderseite standen mehrere Sethets wache. Ihre Gesichter waren hinter schwarz-goldenen Seth-Masken verborgen. Bastet konnte kaum ausmachen, wo die Blicke der Männer hinfielen. Fürs erste sollten sie weiter in dem Gebüsch abwarten, bis die Männer verschwanden.
In diesem Moment kamen die ersten Bewohner aus dem Gebäude, flankiert von weiteren Sethets. Männer und Frauen, die verängstigt nach Hilfe suchten. Aber keiner kam und Bastet würde ihnen auch nicht helfen können. Amara hier rauszubekommen war wichtiger. Sie gehörte zu einer der beiden letzten Blutlinie der Wächter. Seth sollte auf keinen Fall die Chance bekommen die Duat erneut zu öffnen und seine Macht zu stärken. Wer wusste schon, wer sonst noch entkommen würde. Vielleicht sogar Aphophis selbst. Sie hatten so viel geopfert um ihn einzuschließen. Jade, Heather und ihre Sterblichkeit.
Amara japste nach Luft. »Carlos!« Die junge Frau wollte aufspringen und losstürmen, doch Bastet packte sie von hinten und zog sie weiter ins Gebüsch hinein. Amara zappelte und wollte sich losreißen, doch dank ihrer göttlichen Stärke, hatte sie keine Chance. Es dauerte eine ganze Weile bis Amara sich beruhigt hatte. Tränen quollen aus ihren Augen und am ganzen Leib zitterte sie. Bastet lockerte ihren Griff, hielt einen Moment inne um auf die Reaktion der Frau zu warten und zog sich dann zurück. Amara kauerte sich zusammen und presste ihre Handflächen gegen die Augen.
Bastet warf einen Blick aus dem Gebüsch raus. Sie erkannte einen jungen Mann mit braunen, kurzen Haaren, einem kantigen Gesicht und schmalen Lippen. Er war in der gleichen Wohnung gewesen wie Amara. Und nach ihrer Reaktion zu schließen, standen sie sich sehr nahe.
»Sie dürfen ihn nicht mitnehmen. Bitte rette ihn!«
Bastet biss sich auf die Zähne. Wie gerne würde sie ihrem Wunsch nachkommen, doch das ging nicht. Sie würde noch mehr Aufmerksamkeit erregen, als sie es ohnehin schon hatte. Wenn einer von den Bewohner eine Quatschtante war und den Sethets von ihrer Anwesenheit berichtete, dann würde genau die Person von ihr erfahren, die es nicht durfte. Seth. Würde sie jetzt aus dem Gebüsch springen und Carlos befreien, würde er mit Sicherheit davon erfahren und auch ihre Mission wäre in Gefahr. Für sie war es wichtiger Amara hier ohne weitere Komplikationen rauszubekommen, als einen unwichtigen Sterblichen zu retten. »Tut mir leid, ich kann ihm nicht helfen.«
»Aber du bist doch eine Göttin. Du hast die Macht ihm zu helfen!« Amara griff nach dem Kragen ihrer schwarzen Lederjacke und zerrte an ihr.
Bastet ergriff ihre Handgelenke und löste ihren Griff. »Wenn ich jetzt eingreife, kommen wir hier nicht weg. Es ist wichtiger dich in Sicherheit zu wissen als ihn.«
Böse schaute Amara die Göttin an. »Für mich nicht!«
Bastet untermauerte ihre Entscheidung mit einem direkten Blick und wand Amara den Rücken zu. Sie beobachtete das Geschehen am Tor. Ein massiger Wagen mit Gespann fuhr vor und weitere Sethets erschienen in ihrem Blickfeld. Die Bewohner wurden einer nach dem anderen auf die Ladefläche gezogen und platziert. Carlos war einer der letzten und saß so ziemlich am Rand. Er schaute sich suchend um. Ob er wohl nach Amara Ausschau hielt? Er musste schließlich mitbekommen haben, wie sie aus der Wohnung gezogen worden war. Trotz alledem wirkte er nicht verängstigt wie die anderen auf dem Wagen, sondern besorgt. Der Sethet auf dem Bock schnalzte mit den Zügeln und die vier schwarzen Pferde setzten sich in Bewegung.
Viel hatte sich verändert, seitdem Seth die Macht übernommen hatte. Er scheute jeglichen Fortschritt. Das erste was zusammen gebrochen war, war das Verkehrsnetz. Es waren keine Flugzeuge mehr gestartet und bald darauf fuhren auch keine Züge mehr. Autos und sonstige fahrbare Untersetzer hielten noch ein wenig länger aus, bis Seth dafür sorgte, dass Pipelines kein Öl mehr führten. So waren viele Menschen wieder aufs Pferd umgestiegen, wenn sie eins zur Verfügung hatte. Die meisten waren Anhänger von Seth und haben sich mit seiner Herrschaft abgefunden. Das Einzige, was er uns an moderner Technik gelassen, war das Stromsystem. So funktionierten wenigstens noch Lampen und ein Herd zum Kochen konnte auch noch benutzt werden. Und zum Glück gab es noch Wasser, das durch Leitungen in die Haushalte gelangte. Zwar war es nicht immer war, aber besser als wenn alle Menschen stanken, um es gelinde auszudrücken.
Die letzten Sethets verließen das Gelände. Ungefähr dreißig Bewohner hatten sie mitgenommen. Dreißig neue Sklaven, die Seth dienen würden. Bastet ballte die Fäuste. Wie lange würde sein Wahnsinn noch weiter gehen? Sie wollte etwas tun, doch ihr waren so ziemlich die Hände gebunden. Bis jetzt hatte sich keine andere Gottheit ihr angeschlossen, niemand wollte sich Seth zum Feind machen. Sie konnte es sogar verstehen. Er war mächtig und spielte mit der Angst von jedem. Sogar mit der der anderen Götter. Aus diesem Grund wollte sie auch auf keinen Fall in sein Blickfeld geraten. Er würde alte Wunden aufreißen, die sie mit Mühe zu vergessen versuchte. All die schmerzhaften Erinnerungen an die Akademie.
Amara riss sie aus den Gedanken. »Sie sind weg! Können wir endlich aus diesem Busch raus?« Ihre Arme waren verschränkt und mit einem beleidigten Blick, der aber zugleich auch böse war, schaute sie die Göttin an.
Seufzend wand sie sich Amara zu. »Es tut mir leid, dass ich deinem Freund nicht geholfen habe. Doch hierbei geht es um Wichtigeres.«
»Und um was?«
»Das erkläre ich dir, wenn wir ein sicheres Versteck erreicht haben.«
Wiederwillig stimmte Amara zu und gemeinsam verließen sie das Versteck. Zunächst hielten sie sich weiter an der Mauer um die Lage zu überschauen. Als Bastet es für sicher hielt, überquerten sie das Gelände zum Ausgang des Komplexes. Vorsichtig begutachtete sie die Straße, zum Glück waren alle Sethets verschwunden, sodass sie ungehindert ihren Weg fortsetzen konnten. Bastet schlug den Weg entgegengesetzt der Richtung ein, in die die Sethets gegangen waren. Innerhalb eines halben Tagesmarsches würde eine größere Stadt kommen. Dort gab es einen sicheren Ort, wo sie Amara unterbringen wollte. Einen Ort, den Seth oder seine Leute niemals finden würden. Wohin sie sich noch nicht einmal wagen würden.
Wenn alles so lief, wie sie es wollte, wäre Amara ein Teil des Schlüssels, um Seth seine Macht zu entreißen. Es durfte nicht so weitergehen. Er musste aufgehalten werden. Auch wenn das bedeuten konnte, dass sie ihn töten musste. Sie würde jeden Preis bezahlen. Wirklich jeden.
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