Ordnung - Drei - Untergrund
Wenn man Hektor das erste Mal begegnete, konnte er einem schon das Fürchten lehren. Ein Mann von seiner Statur war durch und durch Respekt einflößend. Auf den ersten Blick dachte man, was für ein Riese er war. Bastet überragte er mit Sicherheit um zwei Köpfe. Mit seinen breiten Schultern und kräftigen Armen würde er es bestimmt schaffen, einen Bären niederzuringen. Trotz seines Alters, was nur durch den grauen Vollbart zu erkennen war, denn auf seinem Kopf herrschte gähnende Leere, war er fit wie ein Turnschuh. Er kam ganz klar aus einer Soldatenfamilie, was nicht nur durch die zerschlissene Militäruniform erkennbar war, sondern auch durch sein Auftreten und seine Art. In einem Raum voller Leute wäre gleich in der ersten Sekunde klar, wer das Sagen hatte.
Nun stand er vor ihr, gab keinen Ton von sich und starrte sie nur durchdringend aus seinen blassblauen Augen an. Und zu allem Übel hatte sie Thore in ihrem Rücken. Super Aussichten, wenn die Situation eskalierte. Muskelberg plus halben Muskelberg gegen zierliche Göttin. Da würden noch nicht einmal ihre Kräfte helfen. Besonders da der Truppenführer des Spähtrupps nach ihrer kleinen Drohung nicht so gut auf sie zu Sprechen war. Und zu alledem würde sie noch immer die aufgewühlte Amara beschützen müssen. Es war also nicht gerade die beste Idee gewesen auf diese Art hier aufzutauchen. Wieso machte sie das nochmal? Welcher grandiose Plan hatte sie in diese Lage gebracht? Und wie lange würde das Schweigen noch anhalten? Vielleicht sollte sie endlich den ersten Schritt machen, nachdem sie im Tunnel große Töne geschwungen hatte.
Um die heikle Situation zu entspannen, fing sie ein lockeres Gespräch an. »Wie lange ist es nun her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben? Zehn Jahre?«
»Eher achtzehn!«, durchdrang sein tiefe Stimme sie bis in jeden Winkel ihres Körpers.
»Nun gut! Der Grund meines Besuchs ist, dass ich diese junge Frau gerne bei euch unterbringen möchte. Nur hier ist sie in Sicherheit.«
Nun musterte Hektor Amara. »Vor wem in Sicherheit?«
»Vor Seth!«
Eine hochschwangere Frau in einer Ecke des Raumes aus bloßem Beton japste angsterfüllt auf. Ihre grünen Augen waren geweitet und das Wasser in der Karaffe, die sie hielt, schwappte über den Rand. Thore wand sich der Frau zu. Kaum war er bei ihr, warf sie sich in deine Arme und brach in Tränen aus. Er drückte seine Lippen auf den Scheitel der Frau. Das ein so kräftiger, bisher nur bedrohlich wirkender Mann, eine so sanfte Seite an sich hatte.
»Die Beiden haben ihren Sohn an die Sethets verloren. Wir wissen nicht, ob er noch lebt oder tot ist. Sie haben ihn verschleppt, aber wir konnten bis heute nicht herausfinden, wohin. Dem nächsten Kind darf so etwas nicht passieren«, erklärte Hektor leise, sodass nur Bastet es hören konnte.
Noch eine zerstörte Familie. Nahm dieses Unglück denn niemals ein Ende? Auch Amara war von ihrer Familie weggerissen worden, einen Verlust, den sie nicht wettmachen konnte. Wie gerne hätte sie die junge Frau zurück zu ihren Eltern gebracht, die ihre Tochter über alles liebten und vermissten. Aber sie konnte es nicht. Bei Amaras Familie würde Seth zuerst nach ihr suchen lassen. Und womöglich würden sie alle töten. Dieses Wagnis war die Familie Tebbe mit bestem Gewissen eingegangen. Bastets Aufgabe war es nur Amara zu beschützen, trotzdem machte sie sich Gedanken um die anderen Nachkommen von Linus. Sie sollte sie bei nächster Gelegenheit besuchen, ihnen von ihrer Tochter erzählen und sichergehen, dass es ihnen gut ging.
Hektor trat näher und bedeutete ihr, ihm in einen anderen Bereich des Untergrundes zu führen. Er wollte ein Gespräch unter vier Augen führen. Amara sollte hier bei den anderen warten. Nur sehr widerwillig ließ Bastet sie hier zurück, aber auf dieses Ereignis würde es schlussendlich hinauslaufen. Amara würde bleiben und sie fortgehen.
Der Bereich zu dem Hektor sie führte war deutlich kleiner als der Vorherige. Er war kaum beleuchtet, ein paar Kerzen waren auf einem voll beladenen Schreibtisch entzündet. In einer Ecke erkannte sie eine alte Funkstation, von der sie wusste, dass Hektor mit ihr zu anderen Untergrundgruppen Kontakt hielt. Der Riese setzte sich auf einen abgesessenen Schreibtischstuhl und lehnte sich zurück. Dennoch würde er sich jederzeit auf sie stürzen können.
»Nun, warum soll das Mädchen genau hierbleiben? Jeder von uns brauch Schutz vor Seth. Mit welchem Recht hat sie unseren Schutz verdient?«
Bastet wägte ab, wieviel sie ihm erzählen sollte. Bis auf die Gottheiten, wusste kaum einer von den Wächtern. Wenn die Sterblichen wüssten, wie es zu diesem Chaos gekommen war und dass es noch schlimmer werden könnte, würde es zu einem Aufstand kommen. Es bestand sogar die Möglichkeit, dass die Menschen sich gegen die Wächter stellen würden und sie vernichten. Die Katzengöttin streckte ihre telepathischen Kräfte nach dem Geist des Mannes aus. Eigentlich hatte sie sich geschworen, ihre Kräfte nicht bei den Sterblichen anzuwenden. Um mit ihren Verbündeten, den Katzen zu kommunizieren, war diese Kraft nützlich. Aber als es nach einigen Jahren anfing, dass sie mit dem Geist von Sterblichen Kontakt aufnehmen konnte, scheute sie sich davor. Es war ein Eindringen in die persönlichsten Sehnsüchte und Geheimnisse. Doch jetzt musste sie wissen, ob sie Hektor vertrauen konnte. Ob er sie verraten würde. Sie sah Stärke in seinem Geist, Durchhaltevermögen und die Fähigkeit zu Führen. Sein hartes Leben als Kind, wie sein Vater ihn gedrillt hat. Schon er war Anführer des Untergrundes. Ebenfalls erkannte sie seinen Hass auf die Gottheiten und dass er alles tun würde, um sie zu vernichten. Sie war hin und her gerissen. Aber wenn sie diesen Menschen hier keinen Vertrauensvorschuss gab, könnte sie die Welt direkt aufgeben und Seth einfach freie Hand lassen.
»Sie ist eine Wächterin!« Hektor warf ihr einen fragenden Blick zu. So weit zu gut, er hatte also bis jetzt noch keinerlei Infos und konnte somit nicht voreingenommen sein. Das machte ihr Mut weiter zu sprechen. »Wächter haben die Kraft mit Hilfe von bestimmten Steinen die Weltentore öffnen. Durch die Öffnung der Tore erhalten wir Götter unsere Kräfte, aber man kann sie so auch wieder wegsperren. Und genau das ist der Grund, warum ich Amara in Sicherheit wissen möchte!«
Der kräftige Mann wand ihr den Rücken zu, strich sich mit den Händen durchs Gesicht, wobei er den Kopf in den Nacken legte, und schnellte dann wieder zu ihr zurück. Für einen kurzen Augenblick dachte sie, er würde sich auf sie stürzen. Aber er hielt inne, die Hände erhoben, bereit sich um ihren Hals zu schlingen. Seine Augen waren geweitet und ein Anflug von Wahnsinn lag darin. Bastet wagte es nicht sich zu bewegen. Sie wartete einfach nur ab, um zu schauen wie Hektor sich entscheiden würde. Plötzlich senkten sich seine Arme und er trat ein paar Schritte zurück.
»Warum?« Sein Blick war getrübt und es schien so, als ob der Mann gleich in Tränen ausbrechen würde. »Warum hast du all die Jahre dann nichts unternommen? Du wärst in der Lage gewesen dieser Schreckensherrschaft ein Ende zu setzen. Da sieht man es: Auch du hängst an deiner Macht.«
Wenn es doch nur so einfach wäre. Dann hätte sie alles getan um das hier zu beenden. »Seth besitzt etwas, das die Wächter zum Öffnen der Tore benötigen. Also konnte ich nichts tun. Zudem brauch man mindestens drei Wächter, ansonsten würde es das Leben der Wächter kosten!« Das Bild ihrer besten Freundin tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Sie wand ihren Blick von dem Mann ab, er sollte ihre Trauer nicht sehen.
Hektor atmete tief ein. »Na schön. Das Mädchen darf vorerst bleiben!«
Plötzlich durchbrach lautes Geschrei den sonst so stillen Ort. Quälende Rufe einer einzelnen Frau hallte von den Wänden wieder und versetzte jeden im Untergrund in Schrecken. Bastet und Hektor stürmten los. In dem Hauptraum, dort wo sie Amara zurückgelassen hatte, war überfüllt mit Menschen.
»Was ist passiert?«, fragte Hektor mit tiefer befehlender Stimmer.
Amara kam auf sie zu gehüpft. Sie sah gar nicht verängstigt aus, sondern eher in freundlicher Erwartung. »Das Baby kommt!«
Es dauerte mehrere Stunden bis man das zarte Weinen des Neugeborenen hörte. Die Menschen um Bastet herum lachten und feierten, denn dieser Moment war für sie ein Hoffnungsschimmer. Es wurde reichlich Alkohol ausgeschenkt und selbst sie bekam einen Becher ab. Sie roch an der Flüssigkeit. Der beißende Geruch lies ihr Gesicht verziehen. Allein ein kleiner Schluck brannte auf ihrer Zunge. Unwillkürlich musste sie husten. Schon zu ihrer sterblichen Zeit hatte sie nie viel Alkohol getrunken, aber wenn niemals so ein widerliches, brennendes Zeug.
Endlich tauchte Thore mit einem kleinen Bündel im Arm auf. Er strahlte und seine Augen leuchteten vor Freude. In diesem Moment waren alle Sorgen vergessen, nur das Baby zählte gerade. Von seinem vorherigen Gram war keine Spur mehr. Er war einfach nur glücklich. Lauthals verkündete er die Geburt seines Sohnes. Alle traten zu ihm, beglückwünschten ihn und begutachteten das Kind.
Es war nur ein kurzer Wimpernschlag, ein Windhauch, der kommt und geht. Ein Gefühl des Erkennens überkam Bastet. Eilig schob sie sich durch die Menge, immer näher an den Vater und das Neugeborene. Aufgeregtes Gemurmel umgab sie, aber sie ignorierte alle, selbst Thore. Die Göttin berührte das weiche, wohlig warme Gesicht des Babys. Der Vater wollte ihr das Kind entziehen, aber mit einem kräftigen Griff an seinem Arm hielt sie ihn bei sich. Die Augen des Säuglings waren noch geschlossen, aber Bastet musste einfach sichergehen. Vorsichtig öffnete sie das linke Auge mit ihrem Zeigefinger. Ihr Gefühl hatte sie nicht betrogen. Thore japste erschrocken auf. Das Auge seines Kindes war golden. Das Gold der Götter.
»W-wie kann das sein?«, stammelte der frisch gebackene Vater. Es musste für ihn schwer zu verstehen sein. Ein Mann wie er, der die Götter über alles hatte. Wie sollte er es nur verkraften, dass sein Kind eins dieser verhassten Wesen war.
»Es tut mir leid, ich kann das auch nicht erklären. Mir ist nach all den Jahrhunderten immer noch unklar, wie eine Gottesseele ihre Hülle aussucht. Warum ist jetzt ausgerechnet dein Kind betroffen? Warum ist Bastets Seele damals in mir wiedergeboren? Fragen auf die ich selber noch nach Antworten suche.«
Hektor griff nach Thores Schulter um ihm Beistand zu leisten. Mit ernsten Augen sah er die Göttin an. »Weißt du wer es ist?«
Bastet legte eine Hand auf die Stirn des Babys und schloss die Augen. Sie beendete alles um sich herum aus und konzentrierte sich nur auf dieses kleine Bündel. Wärme und Geborgenheit stiegen ihr entgegen, Empfindungen aus dem Mutterleib. Sie drang weiter in die Gedankenwelt ein, tiefer in die Erinnerungen des Gottes in dem Kind. Eine nächtliche Umgebung zeigte sich ihr. Ein kleiner, dicklicher Mann, der wild herumtanzte, während die Sterblichen in den Lehmhäusern um ihn herum tief schliefen. Aus der gewaltigen Wüste vor ihm krochen Schlangen, die begierig darauf waren die Menschen anzugreifen. Ohne lange zu Zögern schnellte das Männlein los und erschlug ein Reptil nach dem anderen.
Die Katzengöttin schreckte hoch, löste ihre Gedanken von denen des Kindes. »Er ist Bes!«
»Und das soll mich in wie weit aufheitern?« Thore war frustriert und versuchte es nicht zu verbergen.
»Bes ist ein friedfertiger Gott, der immer auf der Seite der Menschen stand und sie schützte«, erklärte sie sachlich. »Außerdem war er in der alten Zeit nie ein Freund von Seth. Wenn dein Sohn eines Tages alt genug ist, wäre er euch mit Sicherheit eine große Unterstützung. Ich weiß zwar nicht, ob sich bei ihm Kräfte entwickeln werden, aber sein Wissen ist von unschätzbarem Wert.«
Thore hatte genug gehört. Er ging und ließ die anderen kommentarlos stehen. Bastet verstand ihn, er hatte viel zu verarbeiten.
Nachdem Hektor ihr kurz zugenickt hatte, entfernten die beiden sich von der Menge. »Wie sieht jetzt dein Plan aus?«, fragte der Riese.
»Einen genauen Plan habe ich noch nicht. Amaras Rettung und Sicherheit hatte für mich Vorrang. Dieses Ziel habe ich nun erreicht. Und jetzt werde ich sehen, wohin mich mein Weg führt. Aber eins ist klar: Ich muss herausfinden, was Seth vorhat.«
»Wenn du einen Weg findest all das zu beenden, dann wende dich an mich. Auf uns hier kannst du zählen.«
Bastet blinzelte ungläubig. Niemals hätte sie von Hektor solche Worte erwartet. Besonders nicht nachdem sie seine Gedanken vernommen hatte. Eine Wärme umhüllte ihr Herz, lange hatte sie solche Freundlichkeit vermisst.
»Ich danke dir, Hektor!« Mit diesen Worten verabschiedete sie sich von ihm. Amara hatte hier einen Platz gefunden, also war es für sie an der Zeit weiter zu ziehen.
Bastet fand Amara freudig lachend bei einer Gruppe junger Frauen. Sie bedeutete ihr zu folgen. Die Göttin wollte nicht einfach so verschwinden ohne sich zu verabschieden. »Hektor erlaubt, dass du hierbleiben kannst! Also bist du vorerst in Sicherheit.«
»Dankeschön!«
»Pass auf dich auf und geh Ärger aus dem Weg!«
Amaras Augen weiteten sich. »Aber ... Bleibst du nicht hier?«
»Ich bin eine Göttin! Für mich ist hier kein Platz. Außerdem muss ich noch paar Sachen erledigen.«
»Wann wirst du wiederkommen?«
»Keine Ahnung!« Bastet zuckte mit den Schultern. »Dann wenn es die Zeit erlaubt.«
Betreten schaute die achzehnjährige zu Boden. Bastet würde sie vermissen, das wurde ihr in diesem Augenblick bewusst.
»Danke, dass du mich gerettet und hierhergebracht hast!«, führte Amara an.
»Gern geschehen!« Nun war es an der Zeit. Die Göttin wand sich um und war bereit zu gehen.
Plötzlich packte Amara sie am Arm. »Wenn du auf deiner Reise Carlos begegnest, rette ihn und bring in zu mir!«
Bastet nickte. »Versprochen!«
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