Gleichgewicht - Sechzehn - Gefühlschaos
Stunde um Stunde lag Cara wach da, betrachtete durch das riesige Loch im Dach den sternenklaren Himmel. Keine einzige Wolke verdeckte den Anblick. Kleine Diamanten auf einem nachtschwarzen Stoff. Der sichelförmige Mond ließ ihre Umgebung erhellen. Sie drehte ihren Kopf nach rechts, wo Re in sich zusammengerollt neben ihr lag. Sein sanftes, friedliches Gesicht, das so unschuldig wirkte, ließ nicht darauf schließen, dass einer der größten Gottheiten in seinem Inneren steckte. Leicht bewegten sich seine Augenlider und für einen kurzen Augenblick zuckte sein Mundwinkel nach oben. Wovon er wohl träumte? Vielleicht von vergangenen Tagen, wo sich noch alles im Einklang mit Maat befand.
Auf ihrer andern Seite lag Heather, fest umschlungen in Milans Armen. Geborgenheit. Ein Gefühl, dass sie seit der Zeit an der Freyer Akademie nicht mehr erlebt hatte. Einen Partner, der alles für einen Opfer würde, der um einen kämpfte.
Cara richtete ihren Blick wieder gen Himmel, ihre Augen brannten und sie versuchte die Tränen wegzublinzeln. Sie schlang die Arme um sich. In ihrem Inneren zog sich alles zusammen. Dieser kleine Teil in ihrem Herzen, die Leere, die sie jahrelang unterdrückt hatte, breitete sich weiter aus. Ungewollt schweiften ihre Gedanken immer wieder zu ihm. Warum konnte sie ihn nicht vergessen? Warum hielt sie noch an ihm fest, nach allem, was er getan hatte?
Nach einer gefühlten Ewigkeit war Cara es leid einfach nur da zu liegen. Der Schlaf wollte sich einfach nicht über sie legen. Sie stand auf und auf leisen Füßen, so geräuschlos wie die Samtpfoten einer Katze, entfernte sie sich von der zerfallenen Scheune und ihren schlafenden Freunden. Nicht einmal die drei Männer aus Hektors Truppe, die draußen Wache hielten, bemerkten sie.
Der Mond stand noch klar sichtbar am Himmel, doch ein zartes rotes Leuchten kündigte bereits den nächsten Tag an. Der Morgen brachte Nebel. Eine leichte Brise umspielte Caras ohnehin schon zerzaustes Haar. Genüsslich schloss sie ihre Augen und nahm jedes Kitzeln des Windes an ihrer Nase wahr. Wieder führte ihr Weg sie zwischen die Bäume und in Richtung Akademie.
Das Knacken von Zweigen ließ sie aufhorchen. Eine schattenhafte Gestalt schlich durch die Dunstschwaden und Cara versteckte sich hinter einem Baum. Es war eindeutig ein Mann, der in ihre Richtung kam. Die breiten Schultern und der wehende Umhang, allein schon der aufrechte, erhabene Gang, ließ ihn erkennen. Aber was machte er hier außerhalb des Palastes, ohne seine Anhänger oder Wachen. Hatte er etwa erahnt, dass sie hier sein würde?
Sie zögerte, unsicher, ob sie sich ihm offenbaren sollte. Vorsichtig schielte sie um den Baum. Dort stand er, nicht unweit entfernt und schaute in ihre Richtung. »Du kannst ruhig hinter dem Baum hervorkommen.«
Er hatte sie also doch gesehen. »Wo sind deine Wachen?«
»Auch ich weiß, wie man sich aus meinem Palast schleicht. Manchmal brauche ich auch mal Zeit für mich. Besonders seit eurem Eindringen verlässt Nephthys kaum noch meine Seite.«
»Wie tragisch«, warf sie ihm spöttisch entgegen. Erwartete er jetzt tatsächlich Mitleid von ihr. »Du hast wenigstens keine Verluste zu verzeichnen.«
»Habe ich nicht?«
Cara wurde wütend. »Nein. Ich glaube weniger, dass du Sethets als Verlust bezeichnest. Sie sind für dich doch ersetzbar. Aber ich ... er war ein Freund.« Verzweifelt versuchte sie, die Tränen zurückzuhalten, doch je länger sie ihn ansah, desto wütender wurde sie und die Tränen kullerten ihre Wange entlang. Sie wischte sich mit den Handballen über die Wangen und atmete tief durch. Dann blickte sie wieder auf und begegnete Seths Blick. Ihr Atmen stockte. Jegliches Licht war aus seinen Augen gewichen und er schaute ins Leere. Wenn Cara Seth nicht besser kennen würde, dann könnte man denken, dass er trauerte. Aber der Gott des Chaos kannte so etwas wie Trauer nicht. »Es gibt jemanden, den wir endgültig verloren haben. Wir beide. Jemand Wichtigen.«
»Ich weiß nicht, von wem du sprichst. Milan und Heather geht es zum Glück gut, aber die beide sind dir nicht wichtig, als das du ihren Verlust betrauern würdest. Und die Leute auf deiner Seite sind mir im wahrsten Sinne des Wortes egal.« Cara verschränkte die Arme vor der Brust. Was machte sie hier eigentlich? Sie hatte Besseres zu tun. Fest entschlossen wand sie sich ab und war bereits auf dem Weg zurück zur Scheune.
Sie verharrte in ihrem Schritt, als der Wind ihr Seths leises Flüstern in die Ohren wehte. »Unsere Tochter!« Ihr Herz setzte kurz aus und schlug dann nur stockend weiter. Wie versteinert blieb sie stehen, ihre Hände wurden nasskalt. Sie ballte sie zur Faust, so fest, dass ihre Fingernägel sich tief in die Haut bohrten. Wie konnte er sie nur erwähnen? Er hatte den letzten Teil ihres Kindes vernichtet.
Ein Schauer lief über ihren Rücken, als er sich von hinten näherte. Jetzt war er ganz nah, sie spürte seinen warmen Atem an ihrem Ohr. Seine Hände legte er um ihre zitternden Fäuste. »Glaubst du mir jetzt, dass ich auch einen Verlust zu betrauern habe?«
»Du! Du hast die Steine zerstört!«
»Weil ihr mir keine Wahl gelassen habt.«
Ruckartig riss sie sich von ihm los und wirbelte herum. »Willst du mir die Schuld dafür geben?!«
Ein kühles Lächeln huschte über seine Lippen. »Keinesfalls. Ich weiß, was dir die Steine bedeutet haben. Genauso viel wie mir. Aber ich konnte nicht zulassen, dass sie der Wächterin in die Hände fällt. Ihr dürft das Tor nicht öffnen und uns wieder in die Duat verbannen. Die Welt braucht uns.«
»Guck dir die Welt an! Die Menschen leiden und leben in Sklaverei, die du eingeführt hast. Das Leben war besser vor alledem, trotz der Probleme, wie Hunger, Armut und Krieg. Aber die Menschen waren frei und konnten ihrem eigenen Willen folgen. Und ich hasse die Unsterblichkeit. So viele habe ich verloren. So viele Tode. Ich kann es nicht mehr ertragen. Ich will sterben. Meine letzten Jahre genießen, alt werden und dann friedlich vor das Totengericht und Osiris treten.«
Seth hob seine rechte Hand und strich eine Haarsträhne zur Seite, die ihr ins Gesicht geweht war. Sein Zeige- und Mittelfinger berührten seicht ihre Haut auf der Stirn und wanderten ihre Schläfe entlang bis zu ihrem Ohr. Caras Atem stockte und ihr verräterisches Herz machte einen kleinen Satz. »Ich kann nicht zulassen, dass du die Welt der Lebenden verlässt. Mit allen Mitteln werde ich verhindern, dass du Anubis begleitest«, hauchte er. Was war nur mit Seth los, dass er ihr gegenüber so sanftmütig erschien.
Sie stand wie versteinert da, wehrte ihn nicht ab und ließ es einfach zu. Ganz leicht berührten seine Lippen ihre. Nur ganz sanft, er testete ihre Reaktion. Es fühlte sich an wie ihr erster Kuss mit Jade, zärtlich mit einem Hauch Bestimmtheit. Sie schloss ihre Augen, dachte an Jade und gab sich dem Kuss hin. Sie erwiderte ihn sogar. Ihre Hände legte sie auf seine Brust und je intensiver der Kuss wurde, desto höher wanderten sie, bis ihre Arme schließlich seinen Hals umschlang. So sehr hatte sie dieses Gefühl vermisst. Die Geborgenheit. Die Liebe. Noch im Kuss verharrend öffnete Cara ihre Augen und traf auf seinen glühenden Blick. Die düsteren, goldenen Augen loderten. Ihre Illusion war zerstört. Sie presste ihre Hände gegen seine Brust und schob ihn von sich, dennoch löste sie ihre Berührung nicht von ihm. Ihr Kopf sackte zwischen ihre ausgestreckten Arme und Tränen verschleierten ihren Blick auf den laubbedeckten Waldboden.
»Bastet?«
Nein. Sie war nicht mehr nur die Göttin. Und er war nicht ihr Jade. Sie konnte es nicht zulassen. Sie verriet sein Andenken. Wie konnte sie sich nur so verlieren?
Sie sackte zu Boden und kniete nun vor ihm, mit gebeugtem Rücken und gesenktem Kopf. Weiter Tränen tropften auf das ohnehin schon vom Morgentau feuchte Laub. Ihre Hose saugte am Knie die Feuchtigkeit auf, doch ihr war es egal. Die stummen Tränen wandelten sich in ein Schluchzen und Wimmern. Cara wusste nicht mehr, was sie fühlte. Alles war so verwirrend. Ein Hin und Her zwischen Hass und Liebe.
»Wir gehören zusammen. Du kannst es nicht leugnen.« Seth legte seine Hand auf ihre Schulter, ein leichter Druck und dann verschwand sie. Seine Schritte entfernte sich hinter ihr immer weiter bis sie nur noch im Stillen da saß.
Nach einiger Zeit waren ihre Tränen versiegt. Trotzdem blieb sie weiter am Boden, mit leerem Blick in die Gegend starrend. Ihre Gedanken fassten kein klares Bild. Sie schweiften von einem Moment zum anderen. Erinnerung aus ihrem früheren Leben als Bastet, wo sie von Seth auch zärtliche Seiten kennengelernt hatte. Dann wieder Erinnerungen an seine Grausamkeit, vermischt mit Gedanken an Jade. Ihr Kopf schien zu zerspringen. Wie sollte sie zu ihm stehen? Es wäre alles so viel einfacher, wenn sie es schafften, das Tor zu öffne und Seth in die Duat zu verbannen. Auch wenn es nicht gewiss war, dass Jade dadurch zu ihr zurückkam. Denn wer wusste schon, wie viel von seiner Seele übrig geblieben war.
Plötzlich legte sich erneut eine Hand auf ihre Schulter. Sie hatte nicht gemerkt, dass sich ihr jemand genähert hatte. Cara schreckte auf und erwartete schon, Seth wieder vor ihr zu sehen. Doch er war es nicht. Sorgenvolle graue Augen betrachteten sie.
»Amara!«
»Ist alles in Ordnung? Warum hockst du hier?«
»Ich... wollte nur ein wenig nachdenken. Konntest du Carlos finden?«
Die schwarzhaarige Frau schnaubte. »Ich hab ihn zwar gesehen, konnte aber nicht mit ihm sprechen. Die Sethets geben jetzt viel besser Acht.«
»Gut zu wissen. Wir müssen nämlich noch einmal an diesen Ort.« Cara stand auf, klopfte sich das Laub von der Hose und ergriff dann Amaras Hand. »Komm! Wir sollten zum Lager. Da erzähle ich dir von unserem Plan.«
Im Bauernhaus war es still. Beinahe totenstill. Die Ruhe machte Heather Angst, denn sie schien ihren Plan, die Gottheiten auf ewig von dieser Welt auszuschließen, zu verharmlosen. Doch dieser Plan beinhaltete, dass Re und sie in die Duat gehen mussten – und wieder heraus. Außerdem hatte sich die Kraft, die einst Melon besessen hatte, in ihr manifestiert. Irgendeine merkwürdige Energiewelle war aus ihr herausgeschossen, hatte einen Mann bewusstlos zurückgelassen und sollte ihr jetzt dabei helfen, in die Duat einzutreten. Konnte es noch verrückter werden?
Milan wechselte ein paar Worte mit den anderen. Jeder konnte ihm ansehen, dass ihm der Plan missfiel, aber Seth und seine dunklen Kräfte von dieser Welt zu verbannen, war ihre einzige Chance auf Frieden.
»Und, bereit für deine Kräfte?«, fragte Re sie und tippte ihre Schulter sachte an.
»Kannst du mir etwa in wenigen Stunden beibringen, wie ich die Seele und die Fähigkeiten eines Wesens, das ich in der Duat kennengelernt habe, kontrolliere?«
»Nein, das wäre zu viel verlangt. Aber ich kann dir zeigen, wie du deine Seele befreist.«
»Meine Seele ...«
»Dank Melon hat deine Seele einen neuen Körper gefunden. Dein alter wurde schließlich beerdigt«, sagte er. »Dein neuer Körper ist durchlässiger, das bedeutet, dass deine Seele mit viel Konzentration und Übung deinen Körper verlassen kann.«
»Würde mich das nicht umbringen?«
»Ja. Deshalb müssen wir uns auch beeilen, den Weg in die Duat und dort das Tor finden. Außerhalb deines Körpers kann deine Seele nicht lange überleben. In der Duat ist das jedoch anders, denn das Jenseits ist dafür geschaffen, menschliche Seelen zu beherbergen. Dort bist du erstmal sicherer.«
»Was meinst du mit sicherer?«, wollte Milan wissen, der dazugestoßen war.
»Die Duat ist kein sicherer Ort für menschliche Seelen, die noch an ihrem Leben hängen. Das kann ich nicht schönreden«, erklärte Re. »Es ist und bleibt eine gefährliche Mission.«
Milan schwieg, was Heather verunsicherte, und Re seufzte.
»Ich werde Heather beibringen, wie sie ihre Seele befreit und mithilfe meines Wissens werden wir eine Brücke zur Duat aufbauen.«
»Wie genau sollen wir das machen?« Heather brauchte konkrete Anweisungen, etwas Handfestes, um damit weiterarbeiten zu können. Ihre Konzentration allein würde sie nirgends hinbringen und sicher nicht vor dem schützen, was sie auf dem Weg und in der Duat selbst erwartete.
»Früher bauten die Menschen in den Grabstätten Berührungspunkte zwischen den Welten auf, damit die Seelen der Verstorbenen in die Duat übergehen konnten.« Re kratzte sich am Hinterkopf. »Da wir aber weder jemanden töten, noch eine Grabstätte errichten können, werde ich dir mit meinem Wissen in Form von Sargtexten helfen.«
»Sargtexte?«
»Sie dienen den Verstorbenen als Wegweiser ins Jenseits und wir werden sie genauso benutzen. Es ist schwer zu erklären, aber es wird funktionieren.«
»Dafür, dass du es nicht erklären kannst, klingst du ziemlich überzeugt von dir und deinem Plan«, merkte Milan nun an.
»Ich werde mich auf keinen Streit mit dir einlassen, Horus«, erwiderte dieser und etwas in seiner Stimme veränderte sich. »Ich habe schließlich einen Plan und ihr könnt mir vertrauen, oder euch etwas anderes einfallen lassen.«
»Wir sind stark.« Heather sprach nicht nur sich, sondern auch allen Umstehenden Mut zu. »Wir haben schon andere Dinge geschafft, die unmöglich schienen. Diese Welt ist kaputt, aber wir stehen noch und müssen jede Möglichkeit ergreifen, um diese Welt zu retten. Wir müssen bereit sein, etwas opfern und dieses Mal opfern wir eben unsere eigene Sicherheit.«
»Ich weiß.« Milan nahm sie in den Arm. »Ich weiß, dass du stark bist. Stärker als ich. Es ist meine Angst um deine Sicherheit, die dir die Freiheit nimmt, aber ich kann nicht anders. Dich noch einmal zu verlieren, würde ...« Ihm stockte der Atem, doch er fing sich rasch und flüsterte in ihr Ohr. »Sei dir sicher, dass ich dich dieses Mal aus der Duat holen werde, solltest du nicht von allein zurückkommen.«
»Keine Sorge, ich passe auf sie auf.« Re ließ die Finger knacken. »Also? Sollen wir beginnen, Heather?«
Sie nickte und löste sich von Milan. »Gut, lass uns anfangen. Ich habe nämlich die Befürchtung, dass dieses Training ziemlich lange dauern wird.«
Und damit lag Heather nicht allzu falsch. Stundenlang saßen Re und sie zusammen, um ihr ein Gefühl für ihre eigene Seele und den Körper zu geben. Sie sollte meditieren, sollte sich auf ihre Gliedmaßen, auf jede Faser ihres Körpers, auf ihren Herzschlag, ihre Atmung, das Rumoren in ihrem Magen konzentrieren und dabei alle anderen Gedanken beiseite schieben. Etliche Male war sie aufgesprungen, im Kreis gelaufen und hatte sich über diese Übung aufgeregt.
In der Nacht fiel ihr die Meditation plötzlich leichter – nicht einfach, aber es gelang ihr zum ersten Mal, an nichts zu denken und ihrem eigenen Herzschlag zu lauschen. Dann sollte sie ihren Herzschlag nur mit ihrem Willen verlangsamen und beschleunigen. Sie wusste nicht, wie oft sie es versucht hatte und gescheitert war, ehe es ihr gelang. Das Training bestand aus unzähligen Fehlschlägen und vereinzelten Siegen, die sie nicht einmal genießen konnte.
»Du hast jetzt ein relativ gutes Gespür für deinen Körper«, sagte Re und wirkte genauso erschöpft wie Heather. »Mehr können wir in der kurzen Zeit auch nicht verlangen. Jetzt musst du lernen, deine Kräfte bewusst freizusetzen, denn an diese Kräfte, die einst Melon gehörten, ist deine Seele gebunden.«
Heather fehlte die Kraft, um mit den Augen zu rollen. Nicht einmal ein genervtes Stöhnen kam über ihre Lippen. Sie schloss einfach die Augen und erinnerte sich an den Moment, in dem diese Kräfte aus ihr herausgebrochen waren, an die Angst und Hilflosigkeit. Ihr Körper zitterte, ihre Finger kribbelten und in ihrem Bauch braute sich eine fremde Wärme zusammen. Ihr wurde übel. War das richtig? Sie fokussierte sich auf die Wärme, auf das Kribbeln und ihr Körper erschauderte. Hitze und Kälte waren wie ein Wechselbad, das ihren Körper flutete.
»Leuchten die drei Punkte auf meiner Stirn?«, fragte sie und biss die Zähne zusammen, weil sie fürchtete, sich übergeben zu müssen.
»Nein.«
»Verflucht!« Sie öffnete die Augen, rappelte sich auf und trat gegen einen Strohballen in der Scheune. »Wie soll ich auf diese dämlichen, unsichtbaren Kräfte zugreifen? Erkläre es mir Schritt für Schritt, anders verstehe ich es nicht.«
»Konzentriere dich auf dich selbst.«
»Das tue ich doch schon die ganze Zeit!« Sie atmete durch, trat erneut gegen den Strohballen und schlug auf diesen ein, bis sie keine Kraft mehr hatte.
»Brauchst du eine Pause?« Milan hatte sie bisher nicht gestört. Jetzt stand er hinter Heather.
»Nein, schon okay, ich muss nur kurz meine Batterien aufladen.« Sie wandte sich ihm zu und schlang ihre Arme um ihn. Eine Minute verstrich, dann zwei, dann drei. »Danke, das muss erstmal reichen.«
Er schenkte ihr ein Lächeln, strich ihr eine feuchte Strähne aus der Stirn und hatte ein seltsames Funkeln in den Augen. »Du bist stark, vergiss das nicht, und dickköpfig.«
Sie lachte und ging wieder zu Re. »Also noch einmal von vorne.«
Re ritze verschiedene Zeichen in ein großes Holzbrett, das er zwischen sich und Heather gelegt hatte. Die Zeichen reihten sich aneinander und schienen eine Geschichte zu erzählen, die Heather nicht lesen konnte. Keine Linie kreuzte die andere und allmählich nahm diese Geschichte die Form eines Bootes ohne Mast an.
»Ist das die Sargschrift, von der du gesprochen hast?«
»Das ist sie. Es wird Zeit, dass wir in die Duat gehen. Wir haben nur diese eine Chance, bevor du zu erschöpft von den Übungen bist. Konzentriere dich jetzt nur auf dich. Ich mache hier weiter, damit wir unseren Weg finden.«
Minuten wurden zu Stunden, während Heather die Kräfte in ihrem Inneren suchte. Ihr Kopf dröhnte und ihre Gedanken verschwammen ineinander. Sie hielt die Augen geschlossen, weil sie hoffte, dass die Dunkelheit ihre Konzentration stärkte. Bald verlor sie nicht nur ihre Gedanken, sondern auch ihr Zeitgefühl. Es rauschte in ihren Ohren, ihr Herzschlag beschleunigte und sie schaffte es, ihn mit ihrem Willen wieder zu verlangsamen. Plötzlich wurde es still in ihr. Es war, als würde sie schweben. Gedankenlos. Gefühllos. Die Dunkelheit lichtete sich wie ein Vorhang, den jemand aufschob – nicht jemand, sondern sie selbst. Es war, als verließe sie ihren Körper, aber etwas hielt daran fest.
»Gut, du hast deine Seele gefunden«, hörte sie Re in der Ferne. »Lass nicht los. Sie klammert sich an deinen Körper und das soll vorerst auch so bleiben. Erst musst du deine Kräfte aktivieren. In kleinen Schritten, hörst du?«
Sie hörte ihn, konnte aber nicht antworten. Die Schwerelosigkeit zerrte an ihrer Seele, wollte sie von ihrem Körper und der Welt trennen. Melons Kräfte waren voller Energie und Licht gewesen, also öffnete sie die Augen. Nichts. Sie blinzelte, erkannte ihre Umgebung nicht und entdeckte nicht einmal Umrisse, die sie Menschen oder Gegenständen zuordnen konnte. Um sie herum wirbelte eine weiße Masse. Automatisch streckte sie ihre Hand aus, schloss etwas davon ein und mit einem Mal machte das Weiß dem Schwarz Platz. Sie hielt die Helligkeit in ihrer Hand fest, doch nach und nach brach das Licht zwischen ihren Fingern hindurch.
In kleinen Schritten – erinnerte sie sich an Re's Worte. Sie öffnete ihre Hand nicht, sondern löste einen Finger nach dem anderen. Das Licht schoss nicht aus ihrer Handfläche heraus, es floss stattdessen über ihre Haut, ihren Arm entlang zu ihrer Brust und schlängelte sich ihren Hals hinauf. Ein stechender Schmerz erfüllte ihren Kopf für eine Sekunde, dann war es vorbei.
»Kannst du mich sehen?«, fragte Re.
Heather drehte sich eilig um. War das hier die Duat? Hatte ihre Seele doch ihren Körper verlassen? Was war hier los?
»Schon gut, du kannst jetzt loslassen.«
Wen sollte sie loslassen? Verwirrung schwang um in Panik und sie rannte durch die Finsternis. Doch sie erreichte nichts und niemanden. In ihrer Hand schwappte das Weiß, die Helligkeit. Sie zeichnete die Spur nach, die Heather in der Finsternis hinterlassen hatte. Achtsam ging sie den Weg zurück.
»Lass jetzt deinen Körper los. Du hast die Kraft gefunden«, sprach Re zu ihr. »Kannst du sie nicht spüren? Ich sehe sie auf deiner Stirn – die drei Punkte. Du musst loslassen, um zu mir zu kommen. Du steckst noch fest, verstehst du?«
Nein, ehrlich gesagt, verstand Heather nicht sehr viel von dem, was er da sagte. Egal, sie glaubte ihm und glaubte daran, dass sie ihre Kräfte gefunden hatte. Wie ließ sie jetzt ihren Körper los?
Sie starrte auf ihre Hand und das Licht darin. Die Spur, der sie eben gefolgt war, war nicht verschwunden. Es schien, als würde sie Heather wie eine Schnur an etwas binden, also ließ sie das Licht los. Es floss durch die Finsternis, als wäre es ein Strom aus Lava, doch statt zu versiegen, füllte das Licht seltsame Zeichen auf. Die Zeichen, die Re zuvor in das Brett geritzt hatte.
Heather lief den Zeichen nach und fand ihn endlich. »Re!«, rief sie. Auf seinem Kopf leuchtete eine sonnenähnliche Scheibe, die ihnen weitaus mehr Licht spendete als Heathers Punkte.
»Du hast es geschafft!« Überglücklich kam er ihr entgegen. »Allerdings werden wir schon erwartet.«
Die Finsternis löste sich nicht auf, aber sie nahm Formen an. Eine Decke, ein Boden und ein Fluss, der diesen auftrennte, erschienen. Heather schrie auf und hielt sich rasch eine Hand vor den Mund, um ihren Schrei zu dämpfen. Unheimliche Schlangen mit Beinen und Flügeln schwammen in dem Fluss. Sie krochen an Land – einige von ihnen mit mehreren Köpfen.
»Das Licht zieht sie an.« Re trat zurück. »Unser Licht zieht sie an und führt ihn zu uns.«
»Wen?«
Donnergrollen ließ den Boden erbeben und der See flammte auf. Ein Feuermeer brodelte und aus diesen Tiefen schallten die Schreie anderer Seelen, die dort unendliche Qualen erleiden musste.
»Apophis.« Re schaute hinauf und an der Decke erschien ein riesiges Schlangenauge, aus dem eine Gestalt hinausstieg.
Re handelte schnell und löschte sein Licht. Heather tat es ihm gleich und totale Finsternis umgab sie.
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