Gleichgewicht - Fünfzehn - Verborgene Kraft

Ohne die Wächtersteine war es doch unmöglich, die Weltentore zu öffnen und die Gottheiten auf ewig wegzusperren, oder etwa nicht? Heather war sich unsicher, denn Res Reinkarnation schien sich sicher zu sein, dass sie auch ohne diese magischen Steine in die Duat gelangen könnten. Sicher, sie hatte es einmal mit Melons Hilfe geschafft, aber dieses Wesen gab es nun nicht mehr und seine Fähigkeiten ebenso.

»Heather ist einmal der Duat entkommen, sie kann auch ein zweites Mal hinein und wieder heraus«, sagte Re und duckte sich weg, als Milan an ihn herantrat. »Die Duat ist eine der drei Welten, die wir unter den richtigen Voraussetzungen auch ohne die Wächtersteine betreten können. Von dort aus lässt sich das Tor bedienen, wenn ...«

»Willst du etwa andeuten, dass wir sie umbringen?«, herrschte Milan ihn an.

»Nein!« Der Junge sprang von seinem Platz neben Cara auf. »Keiner muss für diesen Plan sterben.«

»Und wie gelangt ihr dann in die Duat?«

Gute Frage, dachte Heather. Weder die Gottheiten noch die Wächter konnten so einfach von der einen in die andere Welt wechseln, deshalb existierten die Weltentore und die Wächtersteine, die unter den Wächterfamilien aufgeteilt worden waren – bevor Seth sie zerstört hatte.

»Ich kenne einen Weg«, beharrte Re.

»Knirps, deine Geschichte, dass du Res Reinkarnation wärst, war schon ein schlechter Scherz, aber das geht zu weit.«

»Ich bin nicht Res erste Reinkarnation.« Er fasste sich an den Kopf und wischte sich feine Haarsträhnen aus dem Gesicht, während er etwas an seinen Fingern abzählte und offenbar rechnete. »Aarón. Sagt euch der Name etwas?«

»Nein.« Milan schüttelte den Kopf.

»M-mir sagt dieser Name etwas«, sagte Cara und atmete aus. »Ich habe seine Tagebücher gefunden.«

»Aarón war ein Kaufmann aus Spanien; zur Zeit der Spanischen Inquisition«, erklärte der Junge und Milan rollte die Augen. »Aarón war Res Reinkarnation.«

»Ja, er ist ihm in seinen Träumen erschienen und hat den Mann schließlich übernommen.« Cara drückte ihr Kreuz durch. »Milan, Heather! Es muss stimmen. Woher sollte ein Junge, der erst seit ein paar Jahren auf dieser Erde lebt, so ein Detail kennen, wenn er nichts mit Re zu tun hat? Die Tagebücher gibt es nicht mehr und es ist unmöglich, dass ihm irgendjemand etwas von Res Reinkarnation erzählt hat, bis auf Re selbst.«

»Re wollte die Weltentore damals öffnen, damit die ägyptischen Gottheiten zu neuer Stärke finden konnten, aber er ist gescheitert, was gut war, wenn wir uns die heutige Welt anschauen. Die Tore hätten auf ewig geschlossen bleiben sollen, aber so ist es nicht. Wir können sie schließen, aber dafür müssen wir in die Duat und mit wir meine ich ...«

Draußen vor der Scheune gab es einen metallischen Knall. Milan winkte ein paar junge Männer zu sich und öffnete die Tür. War Seth ihnen gefolgt? Hatten seine Sethets ihr kleines Versteck gefunden?

Heather schob Re tiefer in die Scheune hinein und tauschte einen Blick mit Cara, die sich ebenfalls für einen Kampf oder die Flucht bereit machte. Ihre Augen leuchteten golden und Heather stieß mit dem Fuß gegen einen muffigen Strohballen, griff in das feuchte Stroh. Schreie erklangen und Cara huschte ins Freie, während Heather, Re und die Übrigen sich versteckten.

Die Scheunentore klapperten in ihren Rahmen. Rufe. Gebrüll. Schritte. Wie viele Angreifer standen ihren Freunden entgegen? Woher kamen sie und wie viele würden noch kommen?

Ihr Versteck war gleichzeitig ihr Käfig und Heather haderte mit sich, ob eine Flucht nicht angebrachter gewesen wäre. Sie war hungrig, müde und all ihre Muskeln schmerzten, sogar die, von denen sie bis heute noch nicht gewusst hatte, dass sie sie besaß.

»Heather!«, kreischte Re auf einmal und warf sich gegen einen Mann, der vom Heuboden gefallen war. Er war kein Sethet, stellte sie fest, sondern einer ihrer Verbündeten.

In seiner Hand blitzte die Klinge eines Messers auf. Er packte den Jungen im Nacken, stieß ihn – unbeeindruckt von seinem Gezappel – von sich und stürmte auf Heather zu, die Klinge sauste auf ihren Bauch zu und sie kniff die Augen fest zusammen. Dieser Mann wollte sie töten. Dieser Mann würde sie töten, aber sie wollte nicht sterben. Nicht noch einmal und schon gar nicht auf diese Weise.

Ein Knall ohne Schmerz. Ein tonloser Schrei, der ihrer Kehle entfloh und im Nichts verschwand. Ihre Augenlider flatterten auf, überall was gleißendes Licht. Es nahm ihr die Sicht. Ihr Kopf dröhnte und sie verlor die Kraft in ihren Beinen, sackte auf dem Boden zusammen und griff in das Stroh, das die nackte Erde bedeckte.

»Oh nein«, hörte sie jemanden neben sich sagen. Re.

Der Mann, der Heather eben noch ein Messer in den Bauch rammen wollte, lag einige Meter von ihr entfernt in der eingerissenen Scheunenwand. Durch das Loch blickten Cara und Milan. Er hielt sich eine Hand vor den offenen Mund und sie blinzelte einige Male in das immer noch flackernde Licht hinein.

Heather schaute hoch, aber das Licht kam nicht von der Decke über ihrem Kopf, sondern aus ihrem Kopf. Sie japste nach Luft, kroch auf ihrem Hinterteil so weit von ihren Freunden weg, bis sie das Stroh im Rücken spürte.

»Was ist passiert? Wieso seht ihr mich so an?«, fragte sie verstört und war kurz davor, sich die Augen zu zuhalten, damit sie das Licht nicht länger sehen musste. Das Licht, das aus ihrem Kopf entsprang. »Nein! Nein, kommt nicht näher! Keiner von euch, bitte.«

Sie begriff nicht, was mit ihr geschehen war und was noch immer mit ihr geschah. Der Mann, der sie angegriffen hatte, regte sich kaum noch und als ein paar der Reinkarnationen ihn fesselten, erlaubte sich Heather eine Sekunde Auszeit – nicht mehr. Energie pulsierte in ihrem Körper, sauste von ihren Zehen bis in ihre Nasenspitze.

Milan ging sicher, dass der Angreifer fest zusammengeschnürt war, bevor er auf Heather zuging, doch Re stellte sich vor ihn und sagte etwas, dass Heather nicht verstand. Ihr Herzschlag polterte in ihren Ohren und sie musste sich vornüberbeugen, hätte sich beinahe erbrochen.

»Dir geht es gut«, flüsterte Re. »Es ist alles in Ordnung.«

Das sagte ihr ausgerechnet ein Junge, der einige Jahre jünger als sie war, ganz gleich, ob eine Gottheit in ihm wohnte oder nicht, sie wollte allein auf die Beine kommen. Doch ihre Beine verweigerten ihren Befehl.

»Woher hast du diese Fähigkeit?« Re kniete sich vor ihr auf den Boden und tippte ihr mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. Etwas brannte auf ihrer Haut. »Das habe ich noch nie bei einem Menschen gesehen.«

»Verflucht!« Mit einem Rums landete Re im Stroh und Heather in Milans Armen. »Knirps, du machst es nur schlimmer. Lass sie in Ruhe, oder ich werde mich vergessen.« Behutsam hielt er Heather fest und strich ihr über den Rücken. »Sag, wenn du wieder stehen kannst oder wenn ich dich loslassen soll.«

»Wi...willst du nicht wissen, was eben passiert ist?«

»Es war eine Druckwelle aus Licht«, fasste er nüchtern zusammen und rückte sie weiter auf seinen Schoß. »Das Licht kam von dir und als der Knirps dich berührt hat, sind drei leuchtende Punkte auf deiner Stirn erschienen.« Er nahm ihr Gesicht in seine Hände, die zitterten, und drehte ihr Gesicht zu seinem. »Sie sind noch immer da.«

»Drei Punkte?« Sie erinnerte sich an die drei Punkte, die Melon, das kleine marderartige Geschöpf, das sie aus der Duat gebracht und sich geopfert hatte, auch besessen hatte. »Sind es ganz genau drei?«

»Ja, zwei unten und einer oben drüber.« Milan betrachtete sie genauer, hielt den Kopf schräg und grinste. »Sie stehen dir ganz gut.«

»Das ist doch vollkommen unwichtig!«, krächzte sie und wand sich aus seinen Armen. »Wieso sind sie auf meiner Stirn? Warum haben sie den Mann durch die Gegend geschleudert?«

»So sah es zumindest aus.« Cara wirkte besorgt und rieb sich über den Arm. »Du hast dich nicht verletzt, oder?«

Heather schüttelte den Kopf.

»Sind diese Punkte und das Licht ein Mitbringsel aus der Duat?«, wollte sie wissen.

»Ich befürchte, ja.« Heather presste die Lippen aufeinander und legte den Kopf in den Nacken. »Mich hat ein Ichneumon aus der Duat gebracht, natürlich kein wirkliches Mardertier, aber etwas, das so aussah. Dieser Ichneumon hat mir sein Leben geschenkt, damit ich aus der Duat rauskomme und er hatte auch drei golden leuchtende Punkte auf der Stirn. Ich kann mir die Punkte nur so erklären, aber diese Energiewelle ...«

Abermals pochte und schmerzte ihr Kopf. Ihr Körper hatte sich auf einen Schlag gegen sie gewandt, wobei es vielleicht auch gar nicht mehr ihr Körper war – jedenfalls nicht der, den ihre Freunde vor Hunderten vor Jahren beerdigt hatten. Galle kroch ihren Rachen hinauf, brannte in ihrer Kehle und legte sich bitter auf ihre Zunge. Angst flutete ihre Glieder und ihren Verstand. Was, wenn sie eine Gefahr für die anderen darstellte? Sie hatte dieses Licht nicht bewusst eingesetzt, es war einfach aus ihr herausgeschossen.

»Die Energiewelle hat dein Leben gerettet«, mischte sich Re wieder ein, »und das Wesen, das dir in der Duat begegnet ist, auch. Diese drei Punkte sind das Zeichen deiner Kraft beziehungsweise der Kraft dieses Wesens, die sich wohl mit deinem Wächterblut vermischt hat.«

»Diese ... Meine Kraft ist instabil«, erwiderte sie streng.

»Nun, niemand kann eine neue Kraft auf Anhieb perfekt meistern.« Re klang jetzt tatsächlich wie ein uralter Mann, der seiner Urenkelin das Leben erklärte, und nicht wie der Teenager, der er äußerlich und menschlich war. »Aber die Tatsache, dass du die Kräfte eines Wesens der Duat besitzt, macht den Übergang in ebendiese Welt der Toten wesentlich einfacher.«

»Bitte was?«, meldete sich Milan zu Wort. »Du willst Heather zurück in die Duat bringen? Ich dachte, dass ich dir das bereits verboten haben!«

»Milan.« Heather klopfte ihm auf den Arm. »Wer von uns kann denn sonst dorthin und das Tor öffnen oder besser gesagt: schließen?«

»Du wirst nicht noch einmal dieses dämliche Tor anfassen und dein Leben riskieren!« Röte breitete sich in seinen Wangen aus und der Wind frischte auf, stahl sich durch das riesige Loch in der Scheunenwand. »Du gehst nicht allein in die Duat und du wirst das Tor nicht noch einmal allein betätigen. Bitte, Heather, tu dir und uns das nicht an.«

»Sie ist nicht allein. Ich werde mit ihr in die Duat gehen. Der Geist des Wesens lebt in ihr weiter und verbindet sie mit diesem Ort. Es sollte also ein Klacks sein, dort rein zu kommen.«

»Re, du bist ein Teenager, du kannst nicht ...«, begann Heather.

»Hey, ich bin auch eine Gottheit. Nicht irgendeine Gottheit, sondern Re!« Er plusterte sich auf, aber niemand wirkte eingeschüchtert. »Ich gehe mit Heather.«

»Selbst wenn du mitgehst, sie kann das Tor nicht allein schließen, ohne ihre Lebensenergie zu verlieren. Diese neuen Kräfte kann sie weder gezielt einsetzen, noch werden sie das Tor in irgendeiner Weise beeinflussen können, denn das können nur die Wächter«, hielt Cara dagegen. Auch sie würde es sich nicht verzeihen können, wenn Heather sich noch einmal für sie opfert.

»Aber Amara ist eine Wächterin. Sie kann von der anderen Seite aus das Tor aktivieren.« Heather schluckte den bitteren Geschmack, der ihr immer noch im Mund herumschwamm, herunter. »In ihr fließt das Blut einer alten Wächterlinie. Ihre Berührung sollte genügen und wenn wir die Kräfte des Weltentores gemeinsam ertragen, werden wir vermutlich nicht sterben.«

»Vermutlich?«, knurrte Milan. »Das reicht mir nicht. Außerdem möchte ich gerne klären, wie ihr zwei wieder aus der Duat herauskommt?«

»Sobald wir am Tor sind und es schließen, werden sich die Gottheiten von ihren menschlichen Hüllen trennen. In diesem Moment werden die Gottheiten, die auf unserer Seite stehen, Heather und mich zurück auf die Erde befördern, bevor sie auf ewig verschwinden.« Re ließ die Finger knacken. »Das verspricht euch Re, der mächtigste Gott, der je über die Welt gewacht hat! Es dient alles dem Ziel, Seth zu bezwingen und wegzusperren, damit die Menschheit sich erholen kann. Um Seth wird sich dann in der Welt der Götter gekümmert.«

»Das ist doch Wahnsinn!« Cara strich sich mit der Hand über den Kopf, verfing sich in ein paar Strähnen ihres braunen Haars und raufte sie sich. »In all den Aufzeichnungen, die ich gelesen habe, steht, dass mindestens die drei Wächter der Hauptfamilien das Tor öffnen müssen. Ansonsten wird zu viel Kraft verbraucht und die Wächter sterben. Das Ganze haben wir schon durch. Heather ist gestorben! Wir haben Glück, dass sie es irgendwie wieder aus der Duat geschafft hat. Wir können nicht noch mal ihr Leben und das von Amara aufs Spiel setzen.« Das würde sie nicht schon wieder ertragen können.

»Cara«, Heather trat einen Schritt auf sie zu, Wehmut blitzte in ihren Augen auf.

»Nein...«, hauchte die Göttin. »Ich bin dagegen. Ich kann meine beste Freundin nicht noch einmal verlieren. Das Risiko ist zu groß, da bin ich mit Milan einer Meinung.«

Der Falkengott zog seine Augenbrauen in die Höhe. Ein seltener Moment. Bastet und Horus waren sich einig. Man sollte diesen Tag im Kalender markieren.

Re trat ihr gegenüber, nahm ihre geballte Faust in beide Hände und schaute sie eindringlich an. Sein goldener Blick drang tief in ihre Seele ein und ließ sie die väterlichen Gefühle ihr gegenüber erkennen. Sie erkannte ihn durch die Hülle dieses Kindes mit den zerzausten schwarzen Haaren und der gebräunten Haut, so wie er gewesen war. Ihr Vater, zu dem sie mit all ihren Problemen gegangen war und er ein offenes Ohr für sie hatte. Seine jetzige Nähe, auch wenn seine Gestalt zu einer bizarren Situation führte, war tröstlich. »Du wirst Heather nicht verlieren!«

Sie schüttelte den Kopf, entzog sich ihm und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie kannst du so sicher sein?«

»Weil wir beide da sind und den Wächterinnen zur Seite stehen werden.«

Fragend schaute sie sich in der Runde um, aber auch Milan und Heather schienen sich darauf keinen Reim zu machen.

»Wenn ich mit Heather das Tor auf der Duat-Seite berühre und du mit Amara auf der anderen, dann wird der Plan aufgehen.«

»Wieso?«

Der Junge schnaubte, so als ob es jetzt jeder begriffen haben müsste. »Weil wir beide die Tore erschaffen haben. Vielmehr das Schloss.«

Der Abend, an dem ihr Kind zu den Wächtersteinen geworden war und alle Götter in die Duat verbannt wurden, kam ihr ins Gedächtnis. »Ich verstehe!« Cara warf Heather einen Blick zu. »Wenn du wirklich sicher bist, dass du es schaffen kannst, dann werde ich dich nicht aufhalten. Jetzt mussten sie nur noch Amara finden und sie in ihren Plan einweihen. Sie würde ihnen helfen, das wusste Cara. Amara war starrsinnig, aber stark und sie hatte es gut aufgenommen, einer Wächterfamilie abzustammen. Eine junge Wächterin und eine, die ihr Leben bereits aufgegeben hatten, würden die Tore mit ihrer und Res Hilfe ein für alle Mal schließen. Sie würden vereint die Welt retten.

Ein leichtes Lächeln umspielte Heathers Lippen. »Es wird Zeit, Seth ein Ende zu setzen!«

»Und was ich will, wird mal wieder vollkommen ignoriert!« Milans Faust rammte einen der Holzbalken, sodass die Reste des Heubodens vibrierten. Er stürmte aus der Scheune.

Kurz herrschte eine bedrückende Stille. Selbst die anderen Reinkarnationen und die Leute der Untergrundorganisation schwiegen. Die ganze Zeit über hatten sie ihr Gespräch aufmerksam verfolgt. Heather durchbrach die Stille. »Ich sollte ihm besser folgen und mit ihm reden.«

Cara nickte ihr zustimmend zu und sah ihrer Freundin hinterher, wie ihr blonder Schopf die Scheune verließ. Sie rieb sich mit beiden Händen über Wangen und Lippen. Es stimmte wirklich, was man sagte: Zu viele Köche verdorben den Brei. Sie atmete tief ein und hörbar aus. Dann wendete sich dem anderen Problem zu. Seit der Eskalation hockte Heathers Angreifer in einer Ecke, flankiert von zwei Reinkarnationen. Er saß zusammengekauert da, die Beine aufgestellt und seine Arme um die Knie geschlungen. Gefesselt. Ganz leicht wippte er hin und her. Sie setzte sich im Schneidersitz vor ihn und beobachtete seine Reaktion. Er nestelte an seinen zitternden Fingern und sein Atem ging so schnell, dass er schon beinahe hyperventilierte. »Das ist das Ende. Wir werden alle sterben«, zischte er kaum hörbar.

»Warum hast du Heather angegriffen?« Caras Stimme war klar und energisch. Sie wollte den Mann verstehen, seine Beweggründe kennen, um dann ein Urteil zu fällen. Jemanden wie ihn konnten sie in der Gruppe nicht gebrauchen. Aber er schien verwirrt, nicht bei Sinnen. Vor Seths Herrschaft hätte jedes Gericht seinen Zustand wahrscheinlich als instabil gesehen und ihn statt ins Gefängnis in die Psychiatrie eingewiesen. Dennoch wollte sie wissen warum. Warum hatte er so viel auf sich genommen, ein Ablenkungsmanöver vor der Scheune gestartet und dann den Angriff auf Heather begangen. »Rede!«

Der Mann legte seine rechte zitternde Hand an die Lippen und begann an seinen Fingernägeln zu knabbern. »S-seit sie aufgetaucht ... ist ... r-rückt das Ende näher ...«, nuschelte er zwischen seinen Fingern hindurch. »H-Hektor ist t-t-tot ... Ihretwegen.«

Plötzlich legte sie eine Hand auf Caras Schulter. Sie schaute auf und erkannte Thore. Seine getrübten Augen waren auf den Mann vor ihr gerichtet. »Darf ich mich seiner annehmen? Ich werde dafür sorgen, dass man sich um ihn kümmert. Er ist in Trauer und verwirrt.«

»Na gut.« Sie richtete sich auf und war im Inbegriff zu gehen, da drehte sie sich noch einmal zu dem verwirrten Mann um. »Es war nicht Heathers Schuld, es war meine. Ich habe euch um Hilfe gebeten.«

Cara verließ die Scheune und ging an die frische Luft. Der Abend war hereingebrochen, der Wind roch nach feuchtem Gras und das leise Zirpen der Grillen hatten eine beruhigende Wirkung auf sie. Wann würden das Leiden, der Tod und der Wahnsinn endlich ein Ende finden. Die ging wieder zum Waldrand und richtete ihren Blick in das Geäst einer hohen Fichte. Ein kurzes Schnalzen und die weiße Katze Cora sprang ihr vor die Füße. Sie hockte sich zu dem Vierbeiner und kraulte ihren Kopf zwischen den Ohren. »Ich möchte, dass du zur Akademie gehst und dort nach Amara Ausschau hältst. Führe sie hier hin, wir brauchen sie«, befahl sie ihr.

Cora gab ein hohes, pfeifendes Miauen von sich und verschwand zwischen den Bäumen.

Sie setzte sich an den Stamm und legte ihren Kopf in den Nacken. Sie beobachtete die dünnen Äste, wie sie mit dem Wind schwangen. Eine der Fichtenzapfen wackelte locker hin und her, sodass sie die Befürchtung hatte, er würde gleich fallen und genau in ihrem Schoß landen. Dieses Gefühl hatte sie etwas vermisst, nur sie und die Natur. Jahrelang hatte sie die Einsamkeit gesucht und am Liebsten war sie durch die Wälder gestreift. Natürlich war sie froh ihre Freunde wiederzuhaben, doch beim Anblick der vielen Menschen in der Scheune, wollte sie nur davon laufen. Es war zu viel. Auf jegliche Bedürfnisse musste sie achten. Alleine war es einfacher.

»Aber die Freude fehlt«, führte die hohe Stimme von Re ihre Gedanken fort. Er hörte sich an wie ein Jugendlicher im Stimmbruch.

Augenblicklich setzte sie sich gerade hin. Re stand vor ihr, den Kopf leicht zur Seite geneigt und lächelnd. »Seit wann kannst du meine Gedanken lesen?«, fragte sie ihn.

Er lachte und kreuzte seine Hände auf den Rücken übereinander, danach schritt er erhaben weiter auf sie zu. »Das kann ich nicht, aber ich sehe es in deinem Blick. Ich konnte dich schon früher gut lesen, meine Tochter!«

»Nenn mich bitte nicht so. Das ist irgendwie ... merkwürdig.«

»Wie du willst. Dann – Bastet?«

Sie überlegte. »Früher einmal wäre dieser Name für mich in Ordnung gewesen. Doch seit ich wieder Hoffnung gefasst habe, ist mir Cara lieber.«

Re nickte.

»Wie ist eigentlich dein Name? Man hat diesen Körper bestimmt nicht Re getauft, oder?«

Ein dunkles Aufschimmern durchzuckte die Augen des Jungen. »Ich weiß es nicht. Seit ich in diesem Körper erwacht bin, scheinen die Erinnerungen des Jungen wie ausgelöscht. Ob es daran liegt, dass er noch so jung ist? Oder daran, dass ich die Erinnerungen von zwei Leben mit gebracht habe? Die Verschmelzung war anders als mit Aarón. Seine ganzen Erinnerungen habe ich behalten. Nur die des Kindes dieses Mal nicht. Ich kann dir dazu keine Antwort geben. Also bleibe ich einfach nur Re.«

»Wie kommt es, dass du dich an deine vorherige Reinkarnation erinnerst? Ich habe meine Erinnerungen an Cara und die an Bastet. Aber an frühere Leben nicht.«

»Das liegt daran, dass es keine anderen gab. Nenn es Schicksal, aber Bastet musste in Cara reinkarnieren. So wie es Res Schicksal war, erst mit Aarón die Wächter zu suchen und dadurch die Wächterjäger ins Leben zu rufen. Und nun brauchtest du mich, also bin ich wiedergekommen. Es ist alles vorherbestimmt.«

Cara schnaubte. »Du klingst wie ein alter Mann. Aber ... auch wenn ich das Schicksal hasse, es macht auf seine Weise sinn.«

Schallendes Lachen dröhnte durch den Wald. Niemals hätte sie davon träumen können, Re einmal so lachen zu hören. Unwillkürlich stimmte sie ein. Die Anspannung löste sich und Freiheit breitete sich in ihrem Inneren aus. Sie genoss diese Unbeschwertheit.

»Was gibt es denn hier zu lachen. Ich will mitmachen.« Heather war zu ihnen getreten.

Im Hintergrund, nahe der Scheune, konnte Cara Milan sehen, die Arme vor der Brust verschränkt, steif wie ein Brett und mit einer Miene, als ob man gerade sein liebstes Haustier auf dem Gewissen hatte. »Konntet ihr die Sache klären?«, fragte sie ihre Freundin gewandt, ließ den Gott aber nicht aus den Augen.

»Mehr oder weniger. Er ist einfach so ein Sturkopf. Aber nach einer sehr, sehr langen Diskussion und mehreren Liebesbeteuerungen hat er mir seine Erlaubnis gegeben – als ob ich die brauchen würde, aber wenn er sich dann besser fühlt ... was solls.«

Re brachte einen Satz, wie es nur Kinder tun würden. »Dann können wir ja mit den Vorbereitungen beginnen!«

Cara schmunzelte. In einem Moment verhielt er sich wie ein Mann mit Jahrhunderten an Erfahrung auf dem Buckel und im nächsten sprang er wie ein kleines Kind durch die Gegend. So schnell wie seine kurzen Beine ihn trugen, rannte er zurück zur Scheuen.

Die Göttin stand auf und klopfte sich den Dreck von den Klamotten. Dann sah sie Heather an, die gedankenverloren hinter Re herguckte. Einem Bedürfnis nachgebend schlang sie die Arme um den Hals ihrer Freundin.

»Ähm... was ist jetzt los?«, fragte sie perplex.

»Wir schaffen das. Wir müssen es schaffen«, flüsterte Cara in Heathers Ohr. »Wir werden das beide überleben. Und nach alledem ein ruhiges Leben führen.«

Heather erwiderte ihre Umarmung. »Ja, wir schaffen das!«

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