Gleichgewicht - Elf - Aufschwung
Eine Mischung aus freudiger Erwartung und der Angst vor dem, was vor ihr lag, brodelte wie kochendes Wasser in Heathers Magen. Cara hatte eine ihrer neuen Fähigkeiten demonstriert, wobei diese nur für Heather wirklich neu war. Exakt zwölf Katzen tummelten sich um ihre Freundin, spitzten die Ohren und zuckten mit der Schwanzspitze. Obwohl die kleinen Raubtiere freundlich wirkten, zögerte Heather. Sie wollte eine auf den Arm nehmen, ihre Finger in dem weichen Fell vergraben und spüren, dass sie in ihrer Welt angekommen war. Fühlen, dass das hier echt war. Doch alle gelb-grünen Augen waren auf Cara gerichtet und als sie sich regte, flitzten die Katzen zwischen die Sitzreihen, sprangen über die Gänge und huschten aus den Schlitzen, die das Theater durchlöcherten.
»Wolltest du eine von ihnen streicheln?«, erkundigte sich Cara schmunzelnd. »Ich kann sie zurückrufen.«
»Nein, du hast sie doch eben erst losgeschickt. Wohin überhaupt?«
»Zurück ins Sklavenlager.«
»Wirklich?« Heather fasste sich an ihren Arm, strich darüber und erschauderte. »Wirst du ihnen helfen? Die Katzen können wohl nicht viel ausrichten, oder?«
»Nein, die Katzen sollen etwas für mich herausfinden und Informationen sammeln. Sie sind leise. Heimlich. Die besten Spione, die wir haben.«
Heather betrachtete ihre Hände. »Danke Melon«, flüsterte sie und legte den Kopf in den Nacken. Dieses marderähnliche Wesen hatte ihr eine zweite Chance gegeben. Seinetwegen war sie wieder mit ihren Freunden vereint, auch wenn sich diese verändert hatten. Die Zeit hatte sie verändert. »Habt ihr einen Plan, um die Welt zu retten?«
»Nicht direkt«, erwiderte Cara.
»Sie hat immerhin Katzen«, knurrte Milan und schlang einen Arm um Heathers Bauch, zog sich dichter an sich. »Ich habe ein paar Menschen über die letzten Jahre zusammengesammelt, die Reinkarnationen sein könnten.«
»Was meinst du damit, sie könnten Reinkarnationen sein? Seth hat die meisten von ihnen für seine Zwecke eingespannt und ...«
»Er hat viele gefunden, aber nicht alle bekommen«, unterbrach er Cara. »Die Reinkarnationen sind schwach, haben nur einen kleinen Teil ihrer göttlichen Kräfte, weil die Weltentore verschlossen sind. Deshlab waren sie nie wirklich wertvoll für mich.«
»Jetzt, wo ich wieder da bin, könnten sie wertvoll sein«, murmelte Heather in Gedanken und sah gerade noch, wie ihre Freundin den Mund schloss und die Hände in die Seite stemmte. »Weil ich als Wächterin die Tore öffnen kann und damit könnten sie ihre vollen Kräfte erhalten.«
»Sicher nicht!« Milan riss sie hoch, warf sie über seine Schulter und wandte sich von Cara ab. »Du wirst dieses Tor nie wieder anfassen.«
»Aber Seth zerstört die Menschheit, die Welt!«
»Ich. Habe. Nein. Gesagt.«
»Du bist nicht mein Vater und ...«
Ihr Vater, ihre Mutter, ihre Großeltern und all ihre Freunde gab es nicht mehr. Sie waren tot. Weg. Für immer. Nicht einmal Nate und Linus hatten die Jahrhunderte überlebt, damit war sie nun die einzige Wächterin, die die Weltentore öffnen konnte. Falls ihre Flucht aus der Duat und die seltsame Verbindung mit Melon nichts an diesem Familienerbe geändert hatten. Ihr Herz zog sich zusammen und ihre Lippe bebte, als müsste sie sich gleich übergeben und das hätte sie gerne getan, lägen nicht alle Blicke auf ihr. Seufzend schluckte sie die bittere Erkenntnis und den säuerlichen Geschmack, der ihr auf der Zunge lag, herunter. Cara und Milan hatten die gleichen Verluste durchlebt, hatten dabei zugesehen, wie ihre Familien und Freunde alterten, während sie jung blieben. Sie hatten ihre Liebsten dabei beobachtet, wie sie starben.
»Heather ist nicht die einzige, lebende Wächterin.« Cara fuhr sich durch die Haare und presste die Lippen aufeinander, die ihre Farbe verloren. »Während Milan Reinkarnationen gesammelt hat, habe ich die Jahre auch nicht verschwendet, sondern eine Gruppe gefunden, die sich gegen Seth stellt und Menschen rettet. Sie passen momentan auf Linus Nachfahrin auf. Diese junge Wächterin kann und wird uns helfen, braucht nur etwas Unterricht in Sachen Wächtersein. Die anderen der Gruppe machen mir mehr Sorgen.«
»Warum? Sie sind gegen Seth und damit verfolgen wir das gleiche Ziel.«
»Das schon, aber sie verabscheuen die Götter und alles, was mit ihnen zu tun hat.«
»Also werden sie nicht mit den Reinkarnationen zusammenarbeiten.« Milan setzte die junge Frau ab, trat einen Schritt zurück und nahm Abstand zu ihr.
»Nun ja, sie vertrauen mir. Wenn wir sie einander geordnet vorstellen, kann es funktionieren. Wenn wir den Anführer der Gruppe davon überzeugen können, dass von den Reinkarnationen keine Gefahr ausgeht, wird es schon klappen.«
»Ich hätte nie gedacht, dass sich die Menschen einmal vor Reinkarnationen fürchten würden. Damals wart ihr kaum von den normalen Menschen zu unterscheiden und alles andere als gefährlich.«
»Ja, bis zu dem Tag, an dem wir die Tore geöffnet und die Welt ins Chaos gestürzt haben«, warf Milan ein und verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Blick traf Heathers. »Damit endete die Menschheitsgeschichte, wie du sie noch kennst. Ich hätte auch nie damit gerechnet, dass Seth uns hinters Licht führt, aber das hat er nun mal getan und alle mussten und müssen mit den Konsequenzen leben.«
Er litt, das sah ihm Heather an, aber sein Leiden brachte sie nicht weiter. Es schien, als hätte dieses Leid, das er mit sich herumschleppte, ihn und Cara auseinander getrieben. Niemand von ihnen hatte eine leichte Zeit hinter sich, doch Heather wollte, dass sie zusammenarbeiteten.
»Ist das jetzt unser Plan?«, fragte sie schließlich in die Runde und stellte sich zwischen die zwei. »Alle zusammentrommeln, die sich gegen Seth und seine Anhänger auflehnen würden? Ziemlich dürftig.«
»Ich weiß, aber wir müssen irgendwo anfangen. So wie wir die letzten Jahre leben mussten, so wie Seth und seine Sethets die Menschen behandelt haben ... so kann es nicht weitergehen. Wir haben schon zu lange gezögert.«
Heather hatte erst kurze Zeit bei den heutigen Menschen, die wie Sklaven gehalten und unterdrückt wurden, verbracht und die Zeit, aus der sie stammte, noch nicht vergessen. Dennoch hatten die wenigen Tage im Lager ihre Spuren hinterlassen. Sie würde Carlos und die anderen nicht vergessen und die Tatsache, dass Cara zumindest ihre Katzen als Spione losgeschickt hatte, nahm eine kleine Last von ihrem Herzen. Die Menschen brauchten eine Chance, einen Lichtblick, der sie in eine bessere Zukunft führte. Doch ob diese beiden Gottheiten vor ihr das Licht sein konnten und wollten?
Es war falsch, dass Seth die Welt beherrschte und ja, sie hätten ihm damals nicht trauen dürfen, doch für ein schlechtes Gewissen war es nun zu spät – 300 Jahre zu spät.
»Dann werde ich mal meine Reinkarnationen holen.« Milan schnappte sich Heathers Hand und mit einem gleißenden Licht breitete er seine Schwingen aus. Staubpartikel flimmerten in der Luft, sanken zu Boden und auf ihre Haut. »Wir treffen dich später, Cara.«
»Moment!« In dem Bruchteil einer Sekunde war Cara bei ihnen und versperrte Milan den Weg ins Freie. »Du kannst sie nicht mitnehmen. Das ist zu gefährlich.«
»Erstens, kann ich sie mitnehmen und zweitens, werde ich sie beschützen.«
»Was, wenn die Sethets euch finden? Was, wenn Seth euch findet? Willst du etwa allein gegen ihn und seine Anhänger kämpfen?« Die junge Göttin ergriff Milans Hand, woraufhin er mit den Flügeln auf den Boden schlug. »Milan, du hast Heather endlich gefunden, mach doch jetzt keine Fehler.«
»Es wäre ein Fehler, sie aus den Augen zu lassen!«
Heather atmete durch, denn ihre Freunde verhielten sich wie kleine Kinder, die sich um ein lebloses und stummes Spielzeug stritte. Doch sie war weder stumm noch leblos, also schlug sie Milans Hand von sich und stieß die beiden auseinander.
»Hört endlich auf über mich zu reden, während ich neben euch stehe!« Beide Gottheiten, die sehr wohl in der Lage gewesen wären, ihr ihren Willen aufzuzwingen, schreckten zurück und starrten sie an. »Wir klären das jetzt wie vernünftige Erwachsene. Milan, du holst deine Verbündeten und bringst sie in Caras Versteck, wo wir auf dich warten. Bevor du mich unterbrichst, ohne mich bist du als Gottheit viel schneller unterwegs und viel schneller wieder zurück. Bei Cara bin ich gut aufgehoben. Einverstanden?«
Er schüttelte den Kopf und legte die goldschimmernden Flügel an seinen Körper, die eine Art Kokon um ihn bildeten. Zwei Schritte reichten aus und sie stand vor ihm, berührte seinen Arm. Die feinen Härchen auf seiner Haut stellten sich auf. »Ich kann dich nicht noch einmal verlieren«, wisperte er, während sie seine Hand an ihre Wange führte. »Bitte, komm mit mir.«
»Du weißt, es ist besser, wenn du alleine gehst ... fliegst, richtig?«
Er nickte, rieb mit dem Daumen über ihre Wange.
»Dann ist dir auch klar, dass ich bei Cara sicher bin, oder?«
Abermals nickte er, schloss die Augen und sog die Luft hörbar ein.
»Und ich weiß, dass du nur auf mich aufpassen möchtest, aber Cara wird auch auf mich aufpassen. Sie war schon immer vernünftiger als ich, oder?«
Milan verzog das Gesicht und riss sie an sich. Die weichen Schwingen strahlten eine seltsam kalte Wärme aus, die sich wie ein Sommerregen auf ihre Haut legte. Trotz seiner offensichtlichen Unzufriedenheit weigerte er sich nicht gegen die Vernunft.
»Es ist die vernünftigste Entscheidung, du Idiot«, betonte Heather und strich ihm die Haarsträhnen aus den goldenen Augen. Er senkte seinen Kopf, bis seine Stirn ihre berührte, dann machte er sich auf den Weg, um seine Reinkarnationen zu suchen und sie zu Caras Gruppe zu bringen. Das war der Plan. Das war der erste Schritt auf dem Weg in eine bessere Zukunft.
Heather und Cara verließen das Theater und ein kräftiger Wind blies ihnen entgegen. Auch die hohe Häuserschlucht bot keinen Schutz vor dem leichter Regen, der ihre Haut wie Nadelstiche benetzte. Cara bemerkte, wie Heather erschauerte. Kein Wunder, sie war nur mit einem dünnen, langärmligen Shirt bekleidet. Cara zog ihren Mantel aus und reichte ihn ihrer Freundin. Die blaugrauen Augen wanderten zwischen ihr und dem Kleidungsstück hin und her.
»Ich seh doch, dass dir kalt ist«, seufzte Cara. »Und ich brauche den Mantel nicht so dringend. Als Unsterbliche friere ich nicht mehr so schnell wie früher.«
Ohne zu murren, zog Heather ihn an und schaute sich in der Gegend um. »Okay, wie geht es jetzt weiter? Wo ist dieses Versteck der Anti-Seth-Fraktion?«
»Ich hab nie genau nachgemessen, aber ich würde schätzen, dass es um die 200 Kilometern entfernt von hier liegt.«
»200 Kilometern? Das ist nicht gerade um die Ecke! Wie sollen wir da hinkommen? Vielleicht steht hier irgendwo ein Auto rum, das wir kurzschließen können.«
Cara gluckste. »Schön wär's ... Ich hab seit 300 Jahren kein Auto mehr fahren sehen. Und wenn wir eins finden würden, das noch nicht zum Schrott zählt, gäbe es kein Benzin.«
»Heißt das, wir müssen die Strecke laufen? Dafür brauchen wir ewig.«
Heather hatte recht. Allein würde Cara nur zwei Tage brauchen, aber mit einer Sterblichen an ihrer Seite, die nicht einmal annährend so viel Energie besaß wie sie, bräuchten sie mindestens eine Woche.
Für einen Moment sondierte sie die Lage. »Nicht allzu weit entfernt gibt es Stallungen, wo die Pferde und Ochsen der Sethets untergebracht sind. Der Ort wird nur spärlich bewacht.«
»Ich wusste schon immer, das mit dir gut Pferde stehlen ist«, witzelte Heather und forderte Cara auf voranzugehen.
Sie warteten bis zur Dämmerung, sodass Caras Kräfte – sich in Dunkelheit zu hüllen – die beste Wirkung zeigten. Die Sethets waren unaufmerksam, hatten es sich in der Runde gemütlich gemacht und ließen reichlich Bier fließen. Anscheinend wurden die Stallungen nicht oft von Vorgesetzten kontrolliert. Und wer kam schon auf die Idee, Pferde zu stehlen, die im Grunde Seth' Eigentum waren? Ach ja ... Cara selbst.
Ohne Probleme schafften sie es, zwei Pferde mit schwarzem Fell von der Koppel zu holen. Und ohne dass die Wachen auch nur einen Laut hörten, schlich Cara sich in einen Schuppen und besorgte Zaumzeug und Sättel.
»Es ist ewig her, dass ich auf einem Pferd saß«, teilte Heather mit, als sie sich bereits ein Stück von den Stallungen entfernt hatten. »Als Kind hatte ich Reitunterricht, hab aber irgendwann die Lust daran verloren.«
»Darum kommst du so gut klar. Mein neuer Kumpel hier will einfach nicht dahin, wo ich hin will.« Verzweifelt krallte die Göttin sich in die Mähne, aus Angst, sie könne runterfallen. Im Gegenzug zu Heather schaffte sie es nicht geradeaus zu reiten, sondern zog Schlangenlinien ohne Ende.
Ihre Freundin lachte und verlangsamte ihr Tempo, damit sie gleichauf waren. »Du siehst wie eine Katze aus, die es hasst hochgehoben zu werden und sich am Boden festkrallt. Richte dich gerade auf und lass die Zügel locker. Halt findest du über deine Schenkel.«
Ganz vorsichtig richtete Cara sich auf. Ungern wollte sie den sicheren Halt verlieren. Aber als sie das umsetzte, was Heather sagte, wurde das Tier ruhiger und folgte einer geraden Linie.
»Siehst du. So schwer ist Reiten nicht.« Sie strahlte über beide Ohren. Man merkte, wie Heather die Situation genoss, den Wind, der durch ihre blonden Haare wehte, der angenehme Duft der hohen Gräser, durch die sie ritten, und einfach das Gefühl zu leben.
»Wie war es? Ich meine ... in der Duat?«
Das Lächeln verschwand aus Heathers Gesicht. Ihre Augen wurden trüb und ihr Blick richtete sich tunnelartig nach vorne. Als sie kreidebleich wurde, bereute Cara ihre Frage.
»Es gibt kein Licht, alles besteht aus wabernder Dunkelheit.« In ihrer Stimme lag keine Farbe, keine Melodie. Sie ließ Cara eiskalt erschaudern. »Schattenartige Schlangen kriechen dort überall herum. Sie sind Teil von Apophis und haben mich gejagt. Genauso wie Anubis, weil ich mich geweigert habe vor das Totengericht zu treten.«
»Und wie bist du entkommen?«
»Ein marderartiger Geist hat mir geholfen. Er heißt ... oder hieß Melon. Ich weiß nicht genau, was mit ihm passiert ist. Er hat sich quasi geopfert, um mir einen neuen Körper zu geben.« Heather starrte wehmütig auf ihre Hände. »Ich weiß noch nicht einmal, ob ich noch Ich bin.«
»Du siehst aber wie Du aus!«
Ein kleines, dennoch trauriges Schmunzeln huschte über Heathers Lippen. »Das hier sieht zwar aus wie mein Körper, aber er fühlt sich nicht so an. Er schmerzt wie ein Schuh, der nicht richtig passt. Mein richtiger Körper existiert nicht mehr, er liegt irgendwo unter der Erde, nur noch Knochen und Erde.«
Cara passte das Tempo ihres Pferdes an das von Heathers an, lehnte sich zu ihr rüber und legte ihre Hand auf die ihrer Freundin. »Ich bin froh, dass Melon dich zurück gebracht hat. Mir haben unsere Gespräche gefehlt. Mit deinem Grabstein zu sprechen war so ... einseitig.«
Die junge Frau lachte, genau das hatte sie erreichen wollen. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie du vor meinem Grab hockst.« Heather wurde wieder ernst. »Irgendwie ist das ein trauriger Gedanke. Es hört sich so an, als ob du das öfters gemacht hast. Als ob du nie über meinen Tod hinweg gekommen bist.«
»Naja ... es hat lange gedauert, aber irgendwann habe ich es hinter mir gelassen. Genauso wie Cara. Ich bin zu Bastet geworden, hab mich von allem und jedem distanziert und meinen sterblichen Namen vergessen. Bis du mich gerufen hast. Du wolltest, dass ich dich rette. Dadurch habe ich wieder zu meinem Selbst zurückgefunden.«
»Du hast mich ... gehört? Ich dachte, ich wär nicht zu dir durchgedrungen. Ich ... glaub es nicht. Du hast mich tatsächlich gehört.«
Plötzlich wurde Cara von einem tiefen, angsteinflößenden Schmerz gepackt. Ihr Kopf drohte zu zerbersten und die Qual breitete sich in ihrem gesamten Körper aus. Eine unsichtbare Hand umklammerte fest ihr Herz und drückte das Leben hinaus. Jeder Atemzug schmerzte und ließ sie nach Luft schnappen. Verzweifelte Schreie benebelten ihre Sinne. Sie konnte das Leid nicht ertragen. Cara verlor den Halt und fiel seitlich vom Pferd. Weit entfernt hörte sie Heather rufen, aber es war gedämpft, als ob sie tief unter Wasser tauchte. Immer weiter drifteten ihr Gedanken vom Hier ab und näherten sich dem Ort der Qualen.
Caras Geist war mit dem vom Iseret verbunden, der Katze, zu der sie die engste Bindung hatte. Nun konnte sie durch die Augen von Iseret das Geschehen beobachten. Sie hockte in einem Gebüsch im Sklavenlager. Vor ihr hatte sich eine große Gruppe versammelt. Es waren Sklaven und Sethets. Man hörte das Wimmern von Frauen und schmerzerfüllte Schreie. Doch ein anderes Geräusch ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Ein scharfes Zischen, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Knall. Ein paar männliche Sklaven lagen am Boden, den Rücken entblößt und mit blutigen Striemen überzogen. Die Sethets ragten über ihnen auf und holten zum nächsten Schlag mit der Peitsche aus. Nur zu gerne wäre Cara in das Geschehen hineingerannt und hätte diese Gräueltat beendet. Erschrecket stellte sie fest, dass sich unter ihnen ein Mann mit roten Schopf befand. Er hatte sich verändert, sein Gesicht war kantiger und sein Körper muskulöser, aber sie erkannt ihn eindeutig. Carlos. Amaras Freund, den sie versprochen hatte zu befreien. Dieser Anblick, wie er mit leidendem Gesicht am Boden lag und das Blut über seinen Rücken rann, fraß sich in ihr Herz. Sie hätte seine Qual verhindern können, wenn sie eher etwas unternommen hätte.
Die Sethets hielten mit der Folter ein und die Menge verstummte, als Seth sich oben auf der Mauer zeigte. Aus den Gesichtern der Sklaven war zu erkennen, dass einige ihn zum ersten Mal sahen. Einer der ausgepeitschten Sklaven wurde von Sethets näher an die Mauer gezogen. Seth hob seinen rechten Arm und ließ ihn wieder schnell nach unten sinken.
In diesem Augenblick durchdrang eine gequälte Frauenstimme die Stille. »NEIN! MARKO!«
Ein Sethet hob ein gebogenes Schwert genau über den Nacken von Marko. Er versuchte sich gegen den Griff der Sethets zu wehren, aber er verlor den Kampf.
Cara wollte nichts mehr sehen. Mit aller Kraft löste sie die Verbindung zu Iseret. Sie spürte, wie jemand kräftig an ihr rüttelte. »Komm schon Cara, mach jetzt keine Dummheiten. Wach auf!« Das Schütteln wurde energischer.
»Keine Sorge, Heather. Mir geht's gut«, sagte Cara, aber so richtig überzeugend klang sie nicht dabei. Sie legte eine Hand an ihre Wange, die von Tränen benetzt war.
»Was ist los?«
»Die Sklaven ... einige wurden ausgepeitscht. Und einer ... Oh Heather, ich habe gesehen wie sie ihn hingerichtet haben.« Ihr Körper bebte und sie hatte ihre Stimme vor schluchzen nicht mehr unter Kontrolle.
Heather Finger krallten sich in ihre Haut. »Wen? Welcher Sklave?«
»Marko.«
Ihre Freundin sackte zusammen. »Ich kenne ihn. Er hat mir geholfen im Lager. Warum haben sie ihn so plötzlich getötet? Alles war gut, bis zu der Explosion und dem Chaos.«
»Vielleicht genau deswegen. Seth höchstpersönlich hat den Befehl erteilt. Er ahnt sicher, dass etwas nicht stimmt, dass unser Plan aufgeht und du zurück bist.« Sie schlug sich die Hände vors Gesicht und die Tränen begannen wieder zu fließen. »Ich kann nicht ... Ich kann ihn nicht mehr retten. Von Jade ist nichts mehr übrig. Er ist nicht mehr da. Uns bleibt nur ihn zu vernichten. Seth muss sterben!«
Die sanfte Hand von Heather legte sich tröstend auf ihre Schulter. »Wir werden dieses Chaos beenden. Ich glaube daran.«
Energisch schlug die Göttin mit der Faust auf den Boden. Tränen aus Trauer und brennender Wut tropften auf ihren Handrücken. »Schon so viele haben ihr Leben gegeben. Die Leichen, die er zu verursachen hat, türmen sich weiter auf. Und ich konnte es nicht verhindern. Ich bin nicht stark genug ihn aufzuhalten.« Ihre Stirn berührte den Boden und ihre Finger krallten sich in ihr braunes Haar. Ein kräftiges Zittern durchdrang ihren gesamten Körper. Der laute, qualvolle Schrei, der ihrer Kehle entwich, scheuchte ein paar Vögel in den nahegelegenen Bäumen auf.
»Cara ...«, Heather schluckte. Auch sie konnte die Tränen nicht unterdrücken. »Wenn wir jetzt aufgeben, dann wird sich nie etwas ändern. Und dann sind alle umsonst gestorben. Die Sklaven. Marko. Ich. Und wenn du keine Hoffnung haben kannst, dann vertraue auf mich. Glaub daran, dass meine Rückkehr einen Sinn hat.«
»Ich kann nicht mehr«, ihre Stimme war kaum noch wahrzunehmen. »So viele habe ich verloren. So viele habe ich sterben sehen. Der Tod verfolgt mich. Es war besser als ich alleine war. Ich hätte die Hoffnung nicht wieder in mein Herz lassen dürfen!«
Sie hatte es nicht kommen sehen. Die Hand, die Heather hob und ihr dann entgegenschnellte. Caras Wange brannte und sie schaute ihre Freundin entsetzt an. Heathers Augen waren weit aufgerissen und auf ihre Hand gerichtet, mit der sie die Ohrfeige verpasst hatte. Doch nach ein paar Sekunden fing sie sich wieder. Ihr Blick brannte und war auf Cara gerichtet. »Ich habe mich nicht aus der Duat gekämpft, um jetzt schon das Handtuch zu werfen. Wir haben einen Plan, der wird funktionieren. Also reiß dich zusammen!«
Cara wischte sich das Gesicht mit dem Handrücken trocken und rappelte sich auf. »Gut. Dann müssen wir jetzt weiter. Bis zu dem Versteck brauchen wir noch ungefähr drei Tage. Lass uns keine Zeit mehr verlieren!«
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