Gleichgewicht - Dreizehn - Stürmischer Widerstand

Milan beugte sich zu Heather herunter und behielt die Reinkarnationen, die ihn bis in diese Tunnel gefolgt waren, im Auge. »Wir haben einen Plan?«, wollte er wissen. Heathers Hand landete in seinem Gesicht und sie spürte, wie sich seine Lippen zu einem Grinsen verzogen. »Erzähl mir doch mal von eurem tollen Plan, den Gott zu stürzen, der die ganze Welt unterworfen hat.«

Hektor und seine Leute hielten sich im Hintergrund, doch sie musterten die Fremden skeptisch und lauschten jedem Wort. Die Ruhe schien wie ein Versprechen, das mit dem kleinsten Fehltritt zerbrechen könnte. Ein falscher Schritt, ein unachtsames Wort und die Menschen hätten ihr Vertrauen endgültig verteufelt.

»Es ist eher eine Idee als ein konkreter Plan«, erwiderte Heather und gab sein Gesicht wieder frei. »Die Unterstützung der Menschen und der Reinkarnationen ist wichtig, damit wir überhaupt erst mit dem Denken anfangen können.«

»Wir müssen die Gottheiten aus der Welt verbannen, um Seth zu besiegen.« Cara rieb sich den Arm und blickte zu ihrer Freundin, die rasch nickte. »Bastet und Re haben das schon einmal geschafft, deswegen habe ich versucht, ihn zu kontaktieren.«

»Und du denkst, dass Re aktuell in einer menschlichen Hülle steckt?« Milan machte einen Schritt auf Cara zu. »Hätte er dann nicht bereits irgendetwas gegen Seth unternommen?«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Die Göttin schaute hoch zur Decke, die nichts als Dunkelheit und Moder zeigte. »Auch mit Re an unserer Seite fehlen uns noch ein weiterer Wächter und die Wächtersteine, um das Weltentor zu öffnen und die Gottheiten zurückzuschicken.«

»Ist ja wunderbar!« Der junge Mann warf die Hände über den Kopf und stampfte auf. Seine Haare waren länger als an dem Tag, an dem Heather ihn und ihre Freunde verlassen hatten. Obwohl er nicht gealtert war, ließen ihn die Strähnen älter wirken. »Seth hat die Steine. Also müssen wir ihn doch ohne Re angreifen. Was ein guter Plan, aber wisst ihr was, wir gehen da leise rein und wieder raus, schalten die Wachen aus. Fertig.«

»Nein, wir sollten niemanden töten!«, schrie Cara und ihre Stimme hallte an den Wänden wider, sodass alle Umstehenden und anschauten. »Viele der Wachen sind vermutlich nur bei Seth, damit er sie nicht tötet.«

»Fein, dann musst du dir eben die Augen zuhalten oder mach in der Zwischenzeit etwas anderes!«

Wieder gerieten die beiden aneinander. Das war keine hitzige und bestimmt keine gewinnbringende Diskussion, die zwei stritten einfach nur. Heather hoffte, dass sich die Gemüter beruhigen würden, sobald sie sich ausgesprochen hatten, aber ihre Hoffnung zerplatzte allzu bald.

»Die Sethets würden uns töten, wenn sie uns sehen und wir brauchen die Steine, richtig?«, fasste Milan die Situation recht passend zusammen und sah Heather an. »Was meinst du? Ich will die Sache schnell und ohne Verluste auf unserer Seite zu ende bringen. Cara will den netten Weg gehen, vielleicht sogar mit den Sethets reden.«

Heather verdrehte die Augen. »Keiner von uns will, dass wir jemanden verlieren, aber wir müssen uns nicht auf das Niveau der Sethets begeben.« Milan verkniff das Gesicht, aber sie sprach weiter: »Kommen wir ungesehen in den Palast herein?«

Cara schüttelte müde den Kopf und rieb sich die Augen.

»Okay, gibt es einen Weg hinein, auf dem wir möglichst wenig Feinden begegnen? Cara, du warst schon mal im Palast. Erinnerst du dich an versteckte Eingänge oder den Weg in Seths Gemach?«

»Der Vorplatz des Palastes in viel zu offen, aber an den Seiten gibt es Eingänge.« Sie seufzte und schaute sich um. Die Menschen kamen näher und die Angst vor den Fremden entfloh ihren Blicken für eine Sekunde. »Zumindest gab es solche Seiteneingänge in der Vergangenheit, also in den Palästen des alten Ägyptens. Sie werden normalerweise bewacht, aber in den Schatten, die die Gebäude auf den oberen Ebenen werfen, können wir uns verstecken und ...«

»Wir können die toten Sethtes entsorgen«, beendete Milan ihren Satz. »Und wie kommen wir von der untersten Ebene auf die, auf der Seth sein Zimmer hat? Ich habe kein Problem damit, es aus einem dieser widerlichen Kerle heraus zu prügeln, wenn es uns weiterhilft.«

»Natürlich hättest du damit kein Problem.« Caras Zischen war kaum wahrzunehmen, aber Heather erschauderte.

»Ich versuche nur, zu helfen.«

»Milan.« Heather nahm ihn beiseite und legte ihre Hand auf seine bebende Brust. Der Rhythmus seines Herzens trommelte gegen ihre Haut. »Hast du vergessen, wie Cara ist? Nicht jedem fällt es leicht, schwere Entscheidungen zu treffen und mit dem Wissen, jemanden töten zu müssen, Mut zu fassen. Hab doch etwas Verständnis für sie und die anderen.« Sie machte eine ausladende Handbewegung und Milans Augen weiteten sich, als er die angsterfüllten Gesichter, die zusammengekauerten Menschen und Reinkarnationen sah. »Milan?«

Er senkte den Kopf, vergrub sein Gesicht an ihrem Hals und sie hörte ihn einatmen. »Okay, wir finden einen Kompromiss.« Zaghaft löste er sich von ihr. »Wir bilden Gruppen. Eine Gruppe hält die Sethets in Schach, die zweite hält am Ausgang Wache und die dritte stattet Seth einen Besuch ab. Unnötig zu erwähnen, dass die letzte Gruppe aus den Gottheiten und Reinkarnationen besteht, immerhin sind wir die, die die besten Chancen gegen Seth haben. So behalten wir die Lage im Blick und können die Steine relativ sicher holen.«

»Keine schlechte Idee«, bestätigte ihn Heather und winkte Hektor, der zögernd herantrottete. »Habt ihr genügend Leute, die kampfbereit sind und auch kämpfen wollen?«

»Ja, eine Handvoll. Nach unseren kleinen Überfällen haben wir auch Waffen.« Er schaute Milan an und zeigte die Zähne. »Gemeinsam mit den gruseligen Gottheiten zu kämpfen, bereitet mir zwar Kopfschmerzen, aber die Aufteilung in Gruppen klingt gut. Solange meine Leute den Göttern nicht zu nahe kommen, kann ich damit leben.«

»Mir wäre wohler, wenn wir zusammenbleiben, nur für den Fall, dass etwas schief geht«, widersprach Cara.

»Genau deshalb teilen wir uns ja auf. Eine so große Gruppe fällt auf und wenn sie uns umzingelt haben, können die Menschen nicht fliehen, wenn etwas schief geht.« Milan zog Heather zu sich und presste ihr Gesicht an seine Brust. Atmete tief durch. »Mit einem Menschen könnte ich wegfliegen, aber der Rest würde am Boden abgeschlachtet werden.«

»Das wollen wir vermeiden«, sagte Hektor und kratzte sich am Kinn. »Wir teilen uns auf. Die Gruppe, die die Sethets im Blick behält, führe ich an. In der anderen sollten Leute sein, die schnell denken und umplanen können, falls wir entdeckt werden oder so.«

Cara schüttelte den Kopf, aber die Entscheidung war gefallen. Sie würden sich in drei Gruppen aufteilen und die Wächtersteine stehlen. Im besten Fall würde sie niemand entdecken und falls doch, wussten sie sich schon zu helfen. Obwohl Seth all die Jahre die Herrschaft über die Welt hatte, baute Heather auf die Gottheiten, die an ihrer Seite standen. Milan und Cara, Horus und Bastet – sie waren stark. Gemeinsam waren sie stärker als dieser wahnsinnige Gott, der die Menschen versklavt hatte.

Rationen baumelten über ihren Schultern, Waffen steckten an ihrem Gürtel, in den Jacken- und Hosentaschen. Sie hatten jedes noch so stumpfe Küchenmesser zu einer tödlichen Klinge umfunktioniert. Die Menschen waren gut vorbereitet, die Gottheiten und Reinkarnationen brauchten nur etwas Nahrung, um den Weg zurück zu Seths Palast zu überstehen. Heather fühlte sich wie eine Last an ihren Beinen. Wäre Milan nicht gewesen, der sie ein Stück trug und ihr seine Essensrationen überließ, wäre sie sicherlich schon zusammengebrochen.

»Ich sende Iseret vor«, flüsterte Cara an einem Abend und streichelte die rot getigerte Katze auf ihrem Schoß. Das Lagerfeuer knisterte, aber Milan war bemüht, die Flammen so niedrig wie möglich zu halten, damit niemand auf den Rauch aufmerksam wurde. »Sie ist eine schlaue Katze und wird weitere als Kundschafter rufen.«

»Können wir mit ihrer Hilfe Kontakt zu den anderen beiden Gruppen halten?«, hakte Heather nach und schlüpfte aus ihren Stiefeln. Ihre Füße pochten und waren übersät mit Blasen, die ihre Haut von der Ferse lösten.

»Ja und sie können im Palast für uns spionieren.« Ein Lächeln tanzte über Caras Gesicht und die Katze rekelte sich, genoss die Streicheleinheiten. »Wir sollten uns nicht nur auf rohe Gewalt verlassen.« Sie schaute sich um und senkte den Kopf, als Milan sich zu ihnen gesellte. »Sind die anderen okay?«

»Sie haben Angst vor unserem Angriff.« Seine Finger tasteten nach etwas Essbaren in seinem Rucksack. »Aber sie sind bereit für ihre Freiheit zu kämpfen.«

»Seit wann wissen sie, dass eine göttliche Seele in ihnen steckt?«, fragte Heather.

»Unterschiedlich. Manche leben schon seit Jahren mit ihren spärlichen Kräften, andere sind unwissend vor den Sethets geflohen, um sich nicht Seth anschließen zu müssen. Keine der Reinkarnationen kann es mit Seths gut ausgebildeten Leuten aufnehmen, deswegen kämpfen wir mit vielen.«

»Das ist eine große Verantwortung.«

»Ich weiß.« Er küsste ihre Hand, führte sie an sein Herz und schloss die Augen. »Aber ich will kämpfen. Wir haben viel verloren, die Welt soll uns nicht genommen werden.«

»Die Welt hat dich all die Jahre reichlich wenig interessiert«, merkte Cara an. Ihre Augen blitzten golden und Trauer flammte darin auf.

»Das stimmt, aber jetzt habe ich die Gelegenheit, das Versäumte aufzuholen und die werde ich mir nicht entgehen lassen.«

Die Nacht zog still dahin. Der Morgen ebenso. Die Reinkarnationen schwiegen, beobachteten die Gottheiten und blieben in Heathers Nähe. Anscheinend war sie ungefährlicher als ihre Freunde, aber ein Gespräch, das länger als zwei Sätze dauerte, konnte sie nicht mit ihnen führen. Als sich die wilde Natur lichtete und die Ausläufer der ehemaligen Zivilisation am Horizont auftauchten, kam ihnen die Stille zugute.

Ehe die Gruppe den Palast des Feindes erreichte, musste sie sich durch die Straßen und an den Sklavenlagern vorbeischleichen. Heather fühlte sich an den Tag ihrer Rückkehr aus der Duat erinnert, an den ersten neuen Atemzug, den sie in ihrer Welt genommen hatte und der sie unvorbereitet ins Chaos gestürzt hatte. Sofort drängte sie sich dichter an Milan.

Die Schutzmauern, die den Palast umschlossen, waren gut bewacht. Ob es nun Sethets, Reinkarnationen oder Menschen waren, die für Seth arbeiteten, konnte Heather nicht so schnell ausmachen, aber wer sie waren, schien ohnehin nebensächlich zu sein. Denn jedes Augenpaar, das sie entdeckte, wäre eines zu viel.

Milan öffnete seine mächtigen Schwingen und erhob sich lautlos in die Luft. Auf der Mauer schlug er eine Wache nieder und warf sie achtlos hinab. Der Körper landete mit einem dumpfen Knall und dem Knacken von Ästen in einem Busch. Zumindest hoffte Heather, dass es die Äste waren, die unter seinem Gewicht zerbrochen waren.

Die Lücke nutzte die Gruppe, um die Mauer zu überwinden und ungesehen in das Gelände einzudringen. Jeder Schatten und jede Deckung nahmen sie mit. Cara führte sie an, wusste von ihren Katzen, welche Wege die sichersten waren. Ab und an bildete sich Heather ein, eine Katze zu sehen, aber die meiste Zeit blieben ihre kleinen Helfer unsichtbar. So wie sie.

»Uns hat niemand gesehen, oder?«, fragte eine Frau, in der die Seele einer ägyptischen Gottheit schlief. »Sind wir sicher?«

»Sicher sind wir hier nicht«, meinte Milan und schickte die Reinkarnationen durch den Seiteneingang. Im Inneren des Palastes wartete Cara bereits auf sie. »Aber sie haben uns noch nicht gesehen und wenn das so bleiben soll, dann empfehle ich dir, dich zu beeilen.«

Bevor Heather hineinschlüpfen konnte, stoppte er sie mit einer Hand. Das Gold in seinen Augen verfinsterte sich und die Schatten des Palastdaches legte sich über sein Gesicht. Sie versuchte, seiner Hand auszuweichen und sich unter seinem Arm hindurchzuzwängen, doch abermals hielt er sie auf.

»Was soll das, Milan?«

»Ich will nicht, dass du Seth zu nah kommst.«

»Das habe ich auch nicht vor.« Sie zuckte zusammen. Etwas in ihrem Herzen zerrte an ihren Gliedern, rief sie zu sich. »Ich kann sie spüren.« Ihre Mundwinkel zuckten, aber das Lächeln und die Freunde ließ sie nicht zu. »Ich kann meinen Wächterstein spüren.«

Milan knurrte tief. »Du hättest im Versteck bleiben sollen. Die Steine hätte Cara auch finden können.«

»Ich lasse euch die Welt nicht allein retten.« Auf den Zehenspitzen stemmte sie sich zu ihm hoch und küsste die Unterseite seines Kiefers, küsste seine Wange und seinen Hals. »Die Steine sind ein Teil von mir. Ihr braucht die Wächter und mich, um Seth zu besiegen, also schließ mich nicht aus.« Sie trat zurück und deutete auf die Palastmauern, hinter denen die Sethets lauerten. »Du kannst mich hier nicht zurücklassen, ohne dass mich die Feinde finden.«

»Ich weiß.« Er rieb sich die Augen.

»Warum zögerst du dann?«

»Wenn ich dich noch einmal verliere, dann werde ich mich selbst verlieren. Cara hatte recht, die Welt hat mich all die Jahre nicht interessiert, weil du fort warst. Seth wird dich und die anderen Wächter auslöschen, sobald er die Chance dazu hat, also ...«

»Also musst du dieses Mal nur besser auf mich aufpassen.« Ihre Lippen legten sich sanft auf seine und sie spürte, wie er in den Kuss einatmete. »Du gibst dir doch wohl nicht die Schuld an meinem Tod, oder?«

Er kniff die Augen zusammen.

»Milan, ich bin nicht deinetwegen gestorben und ich werde sicher nicht noch einmal denselben Fehler machen.« Sanft nahm sie sein Gesicht in ihre Hände und drängte ihn zum Eingang. »Wir haben Leute, die wir beschützen müssen, hörst du? Cara kann weder die Reinkarnationen noch die Menschen allein anführen. Sie braucht uns und wir brauchen sie. Die Welt benötigt Gottheiten, die sie wieder aufbauen, und ihr Gottheiten braucht die Menschen, die an eurer Seite kämpfen.«

»Was, wenn etwas schief geht?«

»Dann fangen wir noch einmal bei null an.«

Er packte ihre Hand und drückte sie mehrfach. Dann ließ er sich in den Palast ihres ehemaligen Freundes und heutigen Feindes hineinführen.

Sobald sie im Inneren der Palastanlage waren, teilten sie sich in drei Gruppen auf. Amara und ein paar der schwächeren Kämpfer sollten den Rückweg sichern. Das hieß, dort, wo sie reingekommen waren, durften sich keine Sethets positionieren. Ansonsten war diese Truppe dafür zuständig, einen alternativen Fluchtweg zu finden. Hektor und seine Leute kümmerten sich um die Unterkünfte der Sethets. Sollte ihr Eindringen entdeckt werden, durfte von dort keine Verstärkung kommen. Sobald die Gegner dort ruhig gestellt wurden, sollte Hektor zur letzten Gruppe aufschließen. Die letzte Gruppe: Milan, Heather, ein paar Reinkarnationen und Cara selbst. Planmäßig drangen sie zur obersten Plattform vor. Dort hielt sich Seth auf, zusammen mit den Wächtersteinen.

Cara konnte es sich nicht verkneifen, einen Blick zurückzuwerfen. Sie beobachtete, wie Hektor ihr den Rücken zugewandt ging und Amara hinter ein paar einfachen Häusern in Deckung ging. Der Bauch der Göttin krampfte sich zusammen und der Mageninhalt bahnte sich einen Weg nach oben. Alles in ihr schrie danach, zusammenzubleiben. Sich zu trennen, war ein Fehler. Aber man hatte sie überstimmt. Milan und Hektor wollten die Sache schnell über die Bühne bringen. Typisch Männer. Etwas, was sich in den Hunderten von Jahren nicht geändert hatte.

Die Gruppe um Cara schlich sich an der Außenmauer entlang, damit sie hinter den Palast kamen, ohne direkt entdeckt zu werden.

Iseret saß vor dem schmalen Eingang, der es ihnen ermöglichte, ins Innere vorzudringen. Cara kraulte ihr über den Kopf. »Gut gemacht!«

Die Katze antwortete mit einem heißeren Miauen. Auf leisen Pforten schlich sie davon, zur Mauer, wo sie einen besseren Überblick hatte. Cara würde die ganze Zeit mit ihr in Verbindung bleiben, damit die Katze sie vor Gefahren warnen konnte.

Der Gang war schmal und nur spärlich mit Fackeln in Wandhalterungen beleuchtet. Keine zwei Personen konnten nebeneinander her laufe. Milan ging voraus, seine Hand fest mit der von Heather verschlungen, die hinter im lief. Cara folgte den drei Reinkarnationen und bildete somit das Schlusslicht. Ihr kam es so vor, dass an ihr ein Seil hing, und jemand sie kräftig zurückzog. Weg von diesem Ort und von der Gefahr. Weg von Seth. Was würde geschehen, wenn sie sich wieder gegenüber standen. Zuletzt hatte sie ihn durch die Augen der Katze gesehen, wie er einen Sklaven hinrichten ließ. Dieses Bild hatte sich so in ihr Gedächtnis eingebrannt, dass sie sich nicht mehr an das Gute erinnern konnte. Bei dem Gedanken ihm nun gegenüberzutreten, lief es ihr eiskalt den Rücken runter.

»Hier geht es lang«, flüstertet Milan der Gruppe zu, sodass es kaum durch den Gang hallte. Er nickte zu einem Treppenaufgang.

Die Treppen führten spiralförmig bis zur obersten Ebene, wo zwei Sethets die Gänge patrouillierten. Immer wieder kamen sie in die Nähe der Treppen, doch durch die Biegung wurde die Gruppe nicht entdeckt.

»Und was jetzt?«, fragte eine der Reinkarnationen.

In Milans goldenen Augen blitzte etwas auf, wodurch sich alle Muskeln in Caras Körper anspannten. »Milan, nein!«

»Uns bleibt keine andere Wahl.« Seine Stimme war fest und wildentschlossen. Er ließ Heathers Hand los und winkte eine der kräftigsten Reinkarnation zu sich. Er war groß und breit gebaut und sein kantiges Gesicht ließ Cara erschaudern. Die beiden Männer liefen geduckt an der Wand entlang und näherten sich den ahnungslosen Sethets von hinten. Ein kurzer kräftiger Windstoß fegte die Stufen runter und das Knacken von brechenden Knochen, ließ die Göttin zusammenzucken. Dann hörte sie den dumpfen Rums, von dem auf den Boden fallenden Körper.

Milan erschien wieder in ihrem Blickfeld. »Wir können weiter.«

Auch durch das schwache Licht im Gang konnte Cara die auf unnatürliche Art verdrehten Köpfe erkennen. Für einen kurzen Moment stieg ein säuerlicher Geschmack ihre Kehle hinauf. Augenblicklich wand sie den Kopf ab. Warum nur war Milan so weit gegangen? So eiskalt? Sie wollten doch das Leiden beenden und nicht noch mehr verbreiten. Bis sie auf der obersten Ebene angekommen waren, pflasterten drei weitere Sethets ihren Weg. Mit jeder neuen Leiche ging etwas in Cara zu Bruch. Der Gedanke an Familien und Freunde, kam ihr ins Gedächtnis. Auch wenn diese Männer auf der feindlichen Seite standen, so hatten sie bestimmt jemanden, der sie vermissen würde. Die Trauer, die den Angehörigen widerfahren würde, war die gleiche, die sie bei Heathers Tod erlebt hatte. Es war ein anderes Gefühl des Verlustes, so urplötzlich und nicht berechenbar, als bei Linus, Nate und ihren Eltern. Bei ihnen hatte sie sich auf ihren Tod vorbereiten können. Würden die Angehörigen jemals erfahren, was mit ihren Liebsten geschehen war? Oder tat man es nur mit einem ›im Dienst von Seth verschieden‹ ab.

Cara verharrte bei einem Sethet, der regungslos und gegen die Wand gelehnt am Boden lag. Die Seth-Maske war leicht von seinem Gesicht gerutscht und gab den Blick auf seine offenen, dumpfen Augen preis. Leere lag darin, kein Licht und kein Leben. Sie hockte sich neben ihn, legte die Maske auf seinen Schoß und schloss seine Augen. Nun sah es aus, als würde er schlafen. Etwas friedliches in der Grausamkeit.

Heather kam zurück, um nach ihrer Freundin zu sehen. Cara stand nicht auf, ihren Blick weiterhin auf den Toten gerichtet. Sie spürte die sanfte, tröstende Hand auf ihrem Rücken. »Cara?«

»Ich will nicht mehr! All der Tod! Selbst Anubis wäre überfordert.«

Ein genervtes Schnauben ertönte seitens Heathers. »Der ist bestimmt mit nichts überfordert ... Der hatte noch Zeit, mich durch die Duat zu jagen.«

»Du bist ihm begegnet?«

»Oh ja. Und ich bin kein besonders großer Fan von ihm.«

»Du musst aber schon sehen, dass er es auch nicht leicht hat. Viele Seelen finden sich nicht mit ihrem Tod ab. Besonders nicht die, die gewaltsam aus dem Leben gerissen wurden. Wie ihn hier.«

»Ich habe mich auch nicht mit dem Tod abgefunden, andernfalls wäre ich nicht hier.« Plötzlich packte Heather Cara am Oberarm und zog sie auf die Beine. »Es bringt nichts, hier zu trauern. Glaubst du, ich will, dass wir andere töten? Aber der Krieg, die Rebellion und der Kampf – was auch immer das hier ist – haben es an sich, dass Menschen sterben. Wenn wir uns nicht wehren, werden die Toten auf unserer Seite immer mehr. Das kann und will ich nicht zulassen. Du etwa?«

Cara schüttelte den Kopf. Wie sehr sie diese Seite von Heather liebte. Schon an der Akademie hatte diese Art sie angespornt und vorangetrieben. Und sie hatte ja recht, das konnte die Göttin nicht leugnen. Dennoch zerriss dieser Kampf ihr Inneres. Einen letzten Blick warf sie auf den Sethet, bevor sie mit ihrer Freundin zu den anderen aufschloss.

Der obere Hof war kaum von Wachleuten besetzt. Zwei Sethets mit Lanzen flankierten die Haupttreppe, über die Cara beim letzten Mal gekommen war. Ihre Rücken waren der kleinen Gruppe von Eindringlingen zugewandt. Von dem Gebäude der Bediensteten überquerten sie den Hof und betraten das Hauptgebäude, in dem sich Seth‹ Gemächer befanden. Über zwei Etagen erstreckten sich ringförmig zahlreiche Zimmer. Die Räume waren nach außen angelegt, sodass im Inneren ein großer Hof Platz fand. In der oberen Etage befand sich ein Balkon, von dem man die Aussicht auf die Brunnen und Hibiskus genießen konnte. Wäre es eine andere Situation gewesen, hätte Cara sich nur zu gerne an die Brüstung gestellt und stundenlang den wunderschönen Hof betrachtet, der sie so an den Palast in ihrem früheren Leben erinnerte.

Von einem auf den anderen Moment, änderte sich die Gegebenheiten. Mehrere Sethets versperrten die Wege nach draußen. Sie waren auf dem Innenhof gefangen, umzingelt vom Feind.

Milan knirschte mit den Zähnen. »Verdammt!«

»Was jetzt? So erreichen wir unser Ziel nicht«, stellte Cara fest. Sie sah die bis an die Zähne bewaffneten Sethets und es lief ihr eiskalt den Rücken runter. Aus den Schatten traten Gottheiten auf den Hof, Cara erkannte Sachmet und Schu, den sie als Elias kennengelernt hatte. Auch der Balkon über ihnen füllte sich. Seth, in einem prachtvollen Gewand schaute auf sie herab. An seiner Seite war Nephthys, die mit weit aufgerissenen Augen Heather anstarrte. Es musste ein Schock für sie sein, ihre einst beste Freundin, die sie für tot geglaubt hatte, nun putzmunter vor sich zu sehen. Auch in Seth‹ Augen blitzte kurz Überraschung auf, wurde aber jäh gegen das hämische Lächeln abgelöst, das Cara hasste.

»Sucht ihr das hier?« Er hielt die in der Sonne glänzenden Wächtersteine hoch, jeder einzelne eingefasst in einen Anhänger und mit feinen Ketten bestückt.

Cara japste. Er wusste es. Er kannte ihren Plan. Die Frage war: Wie viel wusste er wirklich? Was war mit den anderen Gruppen, waren sie auch in einen Hinterhalt geraten? Allein bei dem Gedanken daran erschauderte sie.

Sie machte einen Schritt vorwärts, es zog sie hin zu den Steinen, wie ein unsichtbares Band, das sie verband. Bevor sie auf Seth zu rennen konnte, packte Heather sie am Handgelenk und zog sie zurück. »Wir müssen zusammenbleiben.«

»Wenn sie endlich zu mir kommen will, dann lass sie Heather«, tönte Seth, in seiner Stimme lag Triumph.

Die Katzengöttin schüttelte den Kopf. Konzentrier dich, Cara. Die Augen zu Schlitzen verengt schaute sie zu ihm auf. »Gib mir die Steine!«

»Wenn du bleibst, kannst du sie gerne haben«, schelmisch grinste er, während Nephthys Miene sich verdunkelte. Cara beobachtete, wie sie leicht ihren Arm nach seinem Ärmel ausstreckte, aber auf halbem Weg zögerte und ihre Hand wieder sinken ließ. Sie biss sich auf die Unterlippe und richtete ihren feurigen Blick auf Cara.

Sie schüttelte ihren Kopf. »Niemals!«

Schatten legten sich auf die Gesichtszüge des Wüstengottes. Da war er wieder. Die Bosheit in Person, Seth wie er leibt und lebte. »Na, schön. Wenn du es so haben willst ...« Seine Worte ließen bei den Anwesenden das Blut in den Adern gefrieren. Er schloss die Wächtersteine in seine Faust ein. Ein Sandsturm wehte auf und Cara spürte die dunkle Macht, die Seth umgab. Als der Sturm sich wenige Augenblicke legte, öffnete Seth die Hand und feiner Staub rieselte zu Boden. Die Wächtersteine waren zerstört. Für immer.

Caras Herz setzte aus und das Atmen fiel ihr schwer. Es war ihre göttliche Seite, die gerade am meisten litt. Ein Aufschrei von Bastet in ihrem Inneren. Das letzte Überbleibsel ihres Kindes wurde nun mit dem Wind davon geweht. Und sie würde es im Jenseits nicht wiedersehen, da ihre letzte Chance auf Sterblichkeit gerade vernichtet wurde.

Erneut änderte sich schlagartig die Situation. Seth gab den Befehl zum Angriff und das Chaos brach aus. Milan, Heather, Cara und die anderen Reinkarnationen stellten sich Rücken an Rücken, während die Sethets sich mit erhobenen Lanzen näherten. Milan breitete seine Flügel aus und schaffte es, mit einem kräftigen Windstoß, ein paar Sethets von den Füßen zu reißen. Die anderen drei stürmten auf die Gegner zu. Heather hielt sich in Milans Rücken auf und versuchten, jeden Sethet abzuwehren, der ihm zu nahe kam. Cara hielt sich zurück, ihr Blick wanderte sekundenweise zu Seth, der nur sie beobachtete. Aus dem Augenblick sah sie wie einer der Reinkarnationen, der sie begleitet hatte, zu Boden glitt, durchbohrt von drei Speeren. Aber dank ihrer Freunde lagen auch Sethets am Boden. Dennoch schaffte sie es nicht, sich den Angreifenden entgegenzustellen. Immer weiter zog sie sich zu den Säulen gesäumten Gang zurück. Sie konnte nicht kämpfen, sie wollte niemanden verletzen oder gar töten. Außerdem war sie momentan nicht in der Lage sich zu wehren. Seth hatte alles zerstört. Ihre Hoffnung, ihre Liebe und ihre Familie. Sie konnte nicht glauben, dass er die Steine zerstört hatte. Hatte ihm so wenig daran gelegen? Schließlich waren sie auch ein Teil von ihm. Ihr Blick verschwamm, sodass sie nur schemenhaft die Gestalten erkennen konnte, die sich ihr näherten. Sie würden sie verletzen und gefangen nehmen, denn Cara würde sie nicht schlagen. Von der einstigen kriegerischen Göttin war nichts mehr da. Sanftmut und Schwäche war übrig geblieben. Wenn Seth sie haben wollte, dann würde er sie jetzt bekommen.

Es wurde lauter auf dem Hof. Im ersten Moment dachte sie, weitere Sethets kamen zur Unterstützung, ein Zeichen dafür, dass ihre Freunde versagt hatten. Doch dann erkannte sie Hektors Stimmer. Er und seine Truppe hatten es endlich geschafft, zu ihnen aufzuschließen. »Was veranstaltet ihr denn hier für eine Party? Da will ich mich mal ins Getümmel werfen«, ließ der glatzköpfige Mann über den Hof tönen.

Die Neuankömmlinge wurden direkt angegriffen, wodurch Milan, Heather und die anderen einen Augenblick Luftholen konnten. Dennoch war die Situation nicht ausgeglichen. Auf Seth Seite standen erfahrene Kämpfer und starke Gottheiten. Das schien auch Milan zu erkennen. »Wir müssen von hier verschwinden!« Er gab Hektor ein Handzeichen und dieser verstand sofort. Er und seine Leute hielten die Gegner so weit zurück, sodass die Gruppe um Milan aus der Mitte des Hofes entkommen konnte.

Nur Cara stand weiter abseits. Und da sie nicht kämpfte, sah sie keine Chance zu den anderen zu kommen. Zu allem Übel stellte Sachmet sich ihr in den Weg. Ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem straffen, hohen Pferdeschwanz zusammengebunden. Dadurch wirkte ihr dunkles Gesicht noch kantiger als bei ihrer ersten Begegnung. An ihren Finger trug sie goldene Krallen, von den Klingen tropfte bereits das Blut ihrer Opfer. Und Cara würde ihr nächstes Opfer sein. »Bastet«, fauchte sie. »Das Lieblingskind von Vater. Ich habe es nie geschafft, aus deinem Schatten zu treten!« Die Löwengöttin stürmte los, genau auf Cara zu. Ihre Krallen hatte sie nach vorne ausgestreckt, bereit in das Fleisch der Katzengöttin einzudringen. Es gab kein Entkommen. Rechts und links befanden sich Sethets, die nur darauf warteten, dass Sachmet sich um sie kümmerte.

Cara war es egal. Sie würde es einfach geschehen lassen. Ihren Blick fixierte sie auf Seth, er verzog keine Miene, noch nicht einmal eine Regung in seinen Augen. Aber dennoch hoffte sie, dass er Sachmet im letzten Moment aufhalten würde. So viel musste sie ihm doch bedeuten. Oder er nahm eine Verletzung in Kauf, sodass sie noch wehrloser war, als sie jetzt in diesem Moment schon war. So würde er sie ganz und gar in Besitz nehmen können. Wenn er es so wollte – sie war bereit.

Ein Grinsen bildete sich auf seinen Lippen ab und sein Blick war Richtung Sachmet gewandert. Als Cara sich von ihm abwandt, setzte ihr Herz aus. Sie viel auf die Knie und robbte zu Hektor, der sich in Sachmets Krallen geworfen hatte. Er war zu Boden gesunken. In seiner Brust, genau über dem Herzen, klaffte eine tiefe Wunde. Er hustete und würgte, Blut lief aus seinem Mundwinkel und tropfte auf den sandfarbenen Stein.

»Nein!« Caras Stimme war kaum hörbar. Heißer und schluchzend schrie sie ihre Verzweiflung heraus.

Ein kräftiger Sturm zog auf und nur Sekunden später, fand Cara sich in Milans Armen wieder, der sie vom Ort des Geschehens brachte. Sie sah immer noch zurück auf den leblosen Hektor. Er blieb dort liegen, umringt von Feinden.

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