Chaos - Sieben - Wandler

Ihre Brust zog sich krampfend zusammen und ihre Augen tränten. Die Einsamkeit bohrte sich wie ein in säure getränktes Schwert durch ihren Körper und hinterließ eine Leere, derer sie sich bisher nicht bewusst war.

»Die Wächtersteine ... Wir haben sie benutzt, um das Tor zu öffnen und Raphael Freyer zu besiegen. Wenn er hier ist, wenn er als Apophis in der Duat ist, dann haben wir die Welt gerettet, oder?«

Melon wandte den Blick ab und tapste in eine Richtung ohne Ziel.

»Wieso sagst du nichts? Ich will zurück in meine Welt.«

Er machte einen Satz nach vorn und preschte davon.

»Hey! Lauf nicht schon wieder weg.«

Eine schwarze Hand streifte auf einmal Heathers Arm und sie zuckte zusammen, wankte und stürmte dem marderartigen Wesen hinterher.

»Du ...« Sie hustete und wagte nicht, zurück zu sehen. »Du kannst sprechen, also sag nächstes Mal Bescheid, dass der Totenbringer hinter mir steht!«

Abermals rannte sie um ihr Leben, bis ihre Lungen ihre Flucht nicht länger unterstützten und ihre blutenden Füße unter ihr wegbrachen. Schatten züngelten an ihren Beinen und schmiegten sich an ihre Arme.

»Folgst du mir nun zum Gericht?«, hakte Anubis nach und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Nein.«

»Du kannst der Duat nicht entfliehen.« Er ging vor ihr in die Hocke. »Und vor mir kannst du auch nicht fliehen.«

»Aber ich kann es versuchen.«

»Törichter Mensch. Warum kämpfst du so sehr gegen den Tod an?« Ihr blieb keine Zeit zur Antwort, denn er presste seine Hand auf ihre Augen und zwang sie in den Schlaf.

In ihren Ohren rasselte eine Klingel und automatisch tastete sich nach ihrem Wecker. Doch sie griff ins Nichts und das Nichts zerrte an ihrer Hand, zog sie mit sich. Mit einem Knall riss sie die Augen auf, blinzelte und konnte nichts erkennen.

»Hallo?« Ihre Frage hallte nach. Verklang. »Melon?« Sie fasste sich an die Brust und spürte etwas, das einem Herzschlag ähnelte. »Oh ich fasse es nicht, dass ich das frage, aber: Anubis? Irgendjemand?«

Sachte setzte sie sich auf und latschte durch die endlose Duat, die sich um sie wand. Es gab keine Möglichkeit, sich zu orientieren. Alles drehte sich, oben war plötzlich unten und rechts und links zugleich. Ob sie jemals herausfinden würde? Gab es überhaupt einen Ausgang? Wenn sie hineingekommen war, gab es einen Eingang und den, so dachte sie, könnte sie auch als Ausgang nutzten.

»Hallo!«, schrie sie und hielt sich den Hals. Keine Antwort, dafür blitzte ein kleines Licht auf. »Ich bin ja eh schon tot, also wieso nicht auf das Licht zugehen?«

Kreischend platzte das Licht auf, wuchs zu einem Feuerball heran und vertrieb die Dunkelheit des Totenreichs. Funken sprühten und eine Person stieg aus dem Licht hervor. Sie sah müde aus aber sie hatte sich nicht verändert, zumindest nicht äußerlich. Reinheit und Schuld zeichneten ihr Gesicht - ein Widerspruch in sich.

Heather wimmerte und rieb sich hastig die Oberschenkel, trieb das Blut dazu an, ihren Körper aus seiner Starre zu reißen. Sie hielt den Atem an, schlug sich auf die Schenkel und biss sich auf die Unterlippe. Zu spät. Die Person in dem leuchtenden Flammen drehte sich um und ging. Sie sah nicht zurück, sondern verschwand in dem Flimmern, das sie ummantelte.

»Cara!«

Heathers Stimme bebte, blieb so schwach wie ihr Körper und erreichte die Lichtperson nicht. Mit wenigen Schritten stand sie in den Flammen und blickte zu Boden, blickte durch eine Wolkendecke auf die Erde nieder. Sie schnappte nach Luft und suchte Halt, griff ins Leere und strauchelte. Die Erde brannte. Rauschwaden stiegen gen Himmel und sie bildete sich ein, die Asche riechen zu können.

»Das ist nicht richtig«, murmelte sie und entdeckte Menschen, die vor etwas flohen, das keine Gestalt besaß. »Wir haben die Welt doch gerettet. Die Menschheit sollte in Sicherheit sein, warum steht alles in Flammen und wovor laufen sie weg?«

Sie erhielt keine Antwort, denn es gab niemanden, der sie sehen oder hören konnte. Vielleicht entsprangen diese Bilder einem Traum, einer Einbildung oder sie waren Teil der Realität, die Heather verwehrt blieb. Es fiel ihr schwer, die Angst herunterzuschlucken und Luft zu holen.

»Cara! Sag mir, dass das nicht die Wahrheit ist! Wir haben die Welt gerettet, oder nicht? Wenn nicht, dann müssen wir es noch einmal versuchen. Gemeinsam ...« Stille. Der Rauch nahm ihr die Sicht auf die Welt, die von einer unbekannten Zerstörung gebrochen worden war. »Verdammt! Cara Jackson, rette ... rette mich!«

Schnaufend öffnete sie die Augen und blickte auf drei goldene Punkte. Melon stupste ihre Wange an und trat zurück, gab ihr Platz, damit sie sich aufrichten konnte. Damit sie zu sich kommen und ihre Gedanken ordnen konnte.

»Ich habe sie gesehen.«

»Wen?« Das Wesen rollte sich auf ihrem Schoß zusammen.

»Meine Freundin.« Die junge Frau warf den Kopf in den schweißnassen Nacken. »Es war ein Traum, oder?«

»Träume, Halluzinationen, Realität, Leben und Tod verschwimmen in der Duat ineinander.«

»Sie hat mich nicht gesehen, nicht gehört ...« Heather zog die Beine an den Bauch und seufzte. »Gibt es wirklich eine Möglichkeit, die Duat zu verlassen?«

»Es gibt immer Möglichkeiten, um Dinge zu tun«, schnurrte er und zwängte sich zwischen ihren Beinen hindurch in die Freiheit. »Was denkst du?«

»Ich denke, dass ich hier rausmuss. Irgendetwas an Cara wirkte ... falsch oder anders. Was, wenn sie in Gefahr ist, wenn sie alle in Gefahr sind?«

»Du sorgst dich mehr um deine Freunde als um dich selbst?« Melon neigte den zierlichen Kopf und zeigte die Zähne. »Warum akzeptierst du deinen Tod nicht? Menschen sterben alle einmal.«

»Ich weiß, aber ... Seth hat mich gezwungen, das Tor alleine zu öffnen. Verdammt, ich war so dumm! Aber ich war auch wieder wach und dann ... tot?«

»Der Tod ist auch nur einer von vielen Zuständen deiner Seele.«

»Aber mein Körper, den gibt es nicht mehr. Ohne einen Körper kann ich nicht zurück, richtig?« Melon nickte. »Verdammt! Wie bin ich hierher gekommen? Den Eingang kann ich auch als Ausgang benutzten.«

»Kannst du nicht«, widersprach er ihr und tapste auf ihre Hand. »Es ist ein Eingang, kein Ausgang. Die Duat funktioniert nicht wie eine Tür.«

Die junge Frau ignorierte seine Worte und ihr Kopf rauchte. »Seth ist nicht hier? Das bedeutet, dass er noch lebt und das heißt, dass die Welt in Gefahr ist.« Eilig rappelte sie sich auf, wurde vom Schwindel zurückgeworfen und stützte sich mit beiden Händen ab. »Zeig mir diese dämliche Tür.«

»Das wird nicht funktionieren.«

»Das ist mir egal. Ich muss meinen Freunden helfen und auch auf die Gefahr hin, dass ich größenwahnsinnig klinge, muss ich vielleicht die Welt retten.«

»Du klingst größenwahnsinnig, ja, aber du hast ein gutes Herz.«

»Ein gutes Herz bringt mich nicht aus der Duat.«

»Aber es hat mich zu dir geführt.«

Jetzt starrte sie das Tier vor sich an und schmunzelte, streichelte seinen Pelz. Abermals funkelten die drei Punkte und spülten die Umgebung mit goldener Wärme.

»Ihr habt die Tore zu den Welten geöffnet und damit die Duat mit deiner Welt verbunden. Für ein paar Minuten, aber die Zeit hat gereicht, um ein paar Schleichwege offenzuhalten. Es gibt also Wege, der Duat zu entfliehen.«

»Körperlos werde ich die Duat aber nicht verlassen können. Oder wandle ich dann als Geist auf der Erde herum? Damit hätte ich nichts gewonnen.«

Es blieb aussichtslos. Ihr Leben schien vorbei oder darin zu bestehen, dass sie in der Duat vor ägyptischen Gottheiten fliehen musste. Trotz ihrer eigenen Unfähigkeit und dem Ende ihres Lebens wünschte sie sich nichts mehr, als ihren Freunden zu helfen.

»Ich kann dir meinen Körper anbieten«, schlug Melon vor.

»Deinen Körper?« Heather kratzte sich am Kopf und entknotete ihre Haare bis zu den Spitzen, streckte die Beine aus. »Soll ich als Marder durch die Gegend laufen und die Welt retten?«

»Nein. In der Duat habe ich die Form eines Ichneumons angenommen, aber in deiner Welt kann ich sein, was ich will.«

»Und das soll klappen?« Sie lehnte sich zurück und atmete tief durch. »So einfach kann das niemals sein. Mein Körper ist tot. Meine Seele ...«

»Es ist nicht einfach, meinen Körper jemand anderem zu geben, aber ich gebe mein Leben für deines und deine Seele wird in eine neue Form gepresst. Eine Form, die ich nach deinen Wünschen gestalten kann, aber dein neuer Körper wird sich nicht so anfühlen wie dein alter, auch wenn sie identisch aussehen. Du wirst Schmerzen haben. Lange Zeit.«

Seine Erklärung hatte viel Unheimliches an sich, aber Heathers Optionen waren begrenzt. Sie wollte leben und aus der Duat fliehen, also musste sie jede noch so kleine Chance nutzen, also nickte sie.

»Dann schlaf jetzt. Bald wird alles besser sein.«

»Ich soll schlafen?« Sie neigte den Kopf und schloss die Augen. »Warum auch nicht? Viel seltsamer kann es ohnehin nicht mehr werden und ich habe niemanden, dem ich vertrauen kann. Du bist der Einzige, der mich nicht töten wollte.«

Sie schloss die Augen und die Schmerzen der Flucht legten sich wie eine schwere Decke über sie. Eine Hand schien nach ihrem Gesicht zu haschen und etwas Weiches berührte ihre Wange. Federn rieselten auf ihren Körper nieder als wären sie Flocken in einem Schneegestöber. Wo war sie? Träumte sie etwa? Wenn dem so wäre, wollte sie nicht wieder aufwachen und sich in der Duat wiederfinden. Sie hatte keine Kraft mehr, wegzulaufen und zu kämpfen.

Ein helles Licht blendete sie. Drei goldene Punkte rasten auf sie zu, streckten sie nieder und elektrische Schläger rüttelten ihren Körper durch. Ihr Hals schmerzte. Wärme durchströmte sie. Die goldenen Lichter schwebten um sie herum und schossen abermals auf ihren Kopf zu. Sie duckte sich, doch die Punkte erwischten ihre Stirn, fraßen sich in ihre Haut und abermals spürte sie Hitze und elektrische Impulse, die durch sich hindurchströmten. Sie kniff die Augen zusammen, knirschte mit den Zähnen, fürchtete, ihre Kiefer könnten zerbersten. Dennoch sah sie eine goldene Schnur, die vor ihr schwebte. Zögernd nahm sie das eine Ende in die Hand und folgte dem Weg, den das Gold ihr vorgab. Mit jedem weiteren Schritt wandelte sich die Schnur, nahm eine andere Form an und verweilte in einem Schemen, der einer Katze ähnelte.

Für einen Augenblick waren Heathers Arme so schwer wie Blei. Sie konnte sie nicht heben oder ihre Umgebung abtasten. Im Nächsten Augenblick flimmerte ein weißes Licht vor ihren geschlossenen Augen und sie fühlte sie wie im freien Fall. Schwerelos. Dann ein stechender Schmerz, der sich von der Mitte ihres Körpers ausbreitete. Er vertrieb die Hitze, prickelte kälter und erbarmungsloser. Ihre Glieder zerrten an ihr, als wollte sie jemand auseinanderreißen. Es knackte und knarzte.

Mit einem Ruck war sie wach und schlug die Augen auf. Die Dunkelheit raubte ihr nur einen ihrer Sinne und sie richtete sich auf, stieß gegen kalten Stein. Unter ihren Händen spürte sie Geröll und Staub. Auf allen Vieren krabbelte sie voran und einem fahlen Licht entgegen. Als sie durch den kleinen Spalt kletterte, empfing sie kühle Luft und der Mond, der am Nachthimmel strahlte.

»Ich bin ... zurück?« Sie sackte abermals zusammen. Ihre Beine konnten ihr Gewicht nicht tragen und plötzlich hämmerte ihr Herz so stark gegen ihre Brust, dass sie befürchtete, es könnte herausbrechen. »Melon? Bitte, sag mir, dass es funktioniert hat. Bin ich zurück auf der Erde? Lebe ich wieder?«

Ihr Puls beschleunigte sich, rauschte wie ein Wasserfall in ihren Ohren und nahm ihr die Sicht. Sie fiel zur Seite, prallte auf und blieb still liegen. In Wellen wälzte sich eine schmerzende Hitze über sie hinweg. Ab und an blitzte ein goldenes Licht in ihrem Augenwinkel auf, aber wie wusste weder was es war, noch was es zu bedeuten hatte.

Schlaf.

»Me... Melon?« Obgleich sie nicht schlafen wollte, fielen ihr die Augen zu.

Ein dumpfer Schlag auf den Kopf und zerquetschte Arme weckten Heather aus dem unruhigen Schlaf. Sie hörte eine dunkle Stimme und verkrampfte sich, riss ihr Knie hoch und erwischte jemanden.

»Autsch!«, schrie ein Mann und ließ von ihren Armen ab. »Sie lebt noch.«

»Wer ...« Sie blinzelte gegen die Lampen an, die in ihr Gesicht schienen und räusperte sich. »Wer seid ihr und ... wo bin ich?«

»Das weißt du nicht?« Der Mann rückte ein Stück von Heather und stellte seine Lampe neben sich ab. »Wahrscheinlich bist du auf demselben Weg hierhergekommen wie wir alle.«

Das wagte sie zu bezweifeln.

»Welche Händler haben dich eingefangen? Woher kommst du?«

»Was denn für Händler? Wieso sollten mich irgendwelche Verkäufer einfangen und hierherschleppen? Das ergibt keinen Sinn.«

»Sie lebt zwar noch«, entgegnete ein anderer, jüngerer Mann, »aber sie scheint den Verstand verloren zu haben. Das ist keine Seltenheit, aber dann können die Sethets sie nur noch für die körperliche Arbeit verwenden.«

»Sethets? Was ist das?«, hakte Heather nach.

»Kein was, ein wer. Du kannst gerne das verwirrte Mädchen spielen, aber es gibt keinen Menschen, der die Sethets nicht kennt, also halte uns nicht zum Narren, oder wir bringen dich gleich zu ihnen.«

»Ich ...«

»Schon gut.« Der Mann neben Heather reichte ihr eine Hand und half ihr auf. »Wir bringen dich erstmal in eine Hütte, damit du dich aufwärmen kannst. Dort kannst du uns dann in Ruhe erzählen, wie du hier gelandet bist.«

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