Chaos - Sechs - Totengesang
Ein dunkler Nebel lag über ihr. Vereinzelnd schossen helle, schemenhafte Schliere an ihr vorbei. Sie rieb sich ihre Augen, den pochenden Arm und strich über ihren eigenen Körper, als müsste sie sich vergewissern, dass sie noch in einem Stück war. Ihr Körper fühlte sich seltsam an. Ganz, aber irgendwie auch völlig auseinandergebrochen. Ihre Hand berührte die Haut, aber es schien nicht ihre Haut zu sein. Es fühlte sich falsch an, hier zu sein. Wo war hier?
Mädchen, du bist tot, hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf vibrieren. Tot.
Hektisch schaute sie sich um, konnte jedoch niemanden erblicken. War sie allein oder nicht? Wo befand sie sich und wieso erdrückte die schwüle Luft sie? Sie wollte weg, wusste aber nicht wohin, weil sie keine Ahnung hatte, was geschehen war.
»Wo bin ich?«, fragte sie schließlich ins Nichts hinein. Ihre Füße berührten etwas, das man hätte Boden nennen können, aber es besaß keine Form. »Hallo?«
Tot. Wieder diese Stimme in ihrem Kopf. Sie konnte ihren Ursprung nicht ausmachen. Du bist tot. Tot.
»Ich ... bin nicht tot! Wäre ich tot, könnte ich dann sprechen und mich bewegen?«
Dummes Mädchen. Sieht diese Dimension aus, wie etwas, das du kennst? Nein?
»Was?« Sie tastete ihre Körper ab und betrachtete die Dunkelheit, in der sich Schemen bewegten. Es plätscherte in der Ferne und ein Murmeln drang an ihr Ohr, drang in ihren Kopf.
Menschlein, du bist in der Duat. Du bist auf dem Weg ins Totenreich. Das bedeutet, dass du gestorben bist.
Ein Stechen durchzog das, was ihr Körper sein sollte. Ihre Hände schimmerten in einem seltsamen Licht und der Schmerz verschwand. Sollte die Stimme recht haben? War sie gestorben? Wie konnte sie dann denken und fühlen? Sie erinnerte sich an die plötzliche Dunkelheit, den Aufprall und dann gab es keine Bilder mehr.
»Aber wir haben Freyer besiegt.«
Dummes Mädchen. Armes Mädchen. Du gehörst nicht mehr in die Welt, die du dir ersehnst. Geh den Weg, den wir dir vorgeben und alles wird gut.
Heather dachte gar nicht daran, auf diese ominöse Stimme zu hören und machte auf dem Absatz kehrt, doch egal wohin sie lief, alles sah gleich aus oder die Stimme glich die Umgebung an. Eine Ewigkeit schlenderte und stolperte sie durch die Finsternis. Sie gehörte nicht in die Duat, wusste nicht, wieso sie hier war und Stimmen neben ihrer eigenen hörte.
Wann und wo war sie gestorben? Was war mit den anderen geschehen?
Das Rauschen des Flusses nahm zu und sie folgte ihm, selbst jetzt, wo ihre Gedanken einem gesplitterten Spiegel glichen. Jeder Meter Fußweg brannte sich in ihre Fußsohlen und als das Rauschen zu einem Plätschern heranwuchs, stoppte sie, denn dort war nichts. Es gab keinen Fluss, nur das Geräusch schien echt. Auch die Grashalme, die sie dachte zwischen ihren Zehen zu spüren, verschwommen vor ihren Augen. Verlor sie den Verstand? Oder hatte sie tatsächlich ihr Leben verloren?
»Du läufst in die falsche Richtung, törichte Seele«, hörte sie eine andere, dunklere Stimme. Eine silberne Schlange schwamm vor ihr her. Sie bewegte sich nicht am Boden, sondern in der Luft. »Geh in die andere Richtung. Du musst dich dem Gericht stellen. Sie werden entscheiden, was mit dir geschieht.«
»Bin ich die Einzige, die ... gestorben ist?«, wollte sie wissen.
»Ja und du musst dich jetzt dem Gericht stellen.«
»Was für ein Gericht?« Heather schüttelte den Kopf und rieb sich über die Arme. »Was geschieht danach mit mir?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Dann werde ich dir nicht folgen«, erwiderte sie und machte einen Schritt zurück. »Was bist du überhaupt?«
»Wir haben viele Namen, aber ihr Menschen nennt uns Geister, Schemen oder Dämonen.«
Die junge Frau schüttelte den Kopf und wandte sich von dem Schlangenwesen ab. Vielleicht hatte sie ihr Leben verloren, aber nicht ihren Verstand und alles an diesem Wesen wirkte gefährlich. Mit einem schnellen Sprint brachte sie sich in vermeintliche Sicherheit.
»Du kannst uns nicht entkommen, Menschlein«, flüstere die Schlange. »Wir sind viele. Wir sind überall. Das hier ist unser Reich.«
Heather erschauderte und erkannte die Wahrheit in den Worten der Schlange, die sich in abertausende ihresgleichen teilte. Die silbrigen Tiere schlängelten sich um ihre Füße, schnürten sich um ihre Beine und lenkten sie in die Richtung, aus der sie gekommen war. Mit stockendem Atem und schweren Gliedern rammte die junge Frau die Haken in den Untergrund und schrie.
»Das wird dir nichts nützen«, züngelte eines der Wesen dicht an ihrem Ohr. »Du wirst gehorchen. Ihr alle folgt dem Weg, den wir vorgeben.«
Das Zischen verklang. Die silbernen Schnüre verpufften in der Finsternis, die urplötzlich über Heather hereinbrach. Tastend suchte sie nach einem Gegenstand, einer Kante oder einer Wand, an der sie Halt finden und orientieren konnte, doch immer wieder griff sie ins Nichts.
»Verdammt!«, fluchte sie und schluckte die dicke Dunkelheit, die sich über ihr und in ihr ausbreitete herunter. »Ich kann nicht tot sein! Was ist mit meiner Familie und meinen Freunden? Ich durfte mich nicht von ihnen verabschieden!«
Ein Knacken schallte durch die Schatten. Helle Lichtkegel blitzten neben ihrer Hand auf und schossen über ihren Körper. Die Schlangen waren zurück, ignorierten sie jedoch und flohen nun selbst. In den Schatten rührte sich etwas. Ein weiteres Knacken ertönte und Heather erkannte eine Silberschlange, die ein Wesen mit beigem Pelz in zwei Stücke zerbiss.
Das marderähnliche Tier schlich auf Heather zu. Auf seiner Stirn leuchteten drei goldene Punkte auf und der lange Schweif peitschte aufgeregt umher. Das Mädchen wankte rückwärts, konnte keine Schemen der Umgebung erkennen, strauchelte weiter und starrte das goldene Leuchten an. Würde dieses kleine Raubtier sie auch angreifen?
»Was ... Was bist du und was willst du von mir?«, keuchte sie und versuchte, zu entkommen.
Das Wesen legte den Kopf schief und abermals flackerten die drei Punkte auf.
»Ich ... bin nicht tot ... Ich will nicht tot sein!«
»Dann folgte mir.« Seine Stimme dröhnte in ihrem Kopf, erst schmerzhaft rau und auf einmal wandelte sie sich zu einem melodischen Klang.
»Wirst du mich genauso wie diese Schlangen vor irgendein Gericht bringen und dann in die Duat schicken?«
»Nein.« Er klang verletzt und strich sich mit einer Pfote über die Stirn. »Du bist schon in der Duat. In einem Teil der Duat. Ich habe die Schlangen gefressen, die dich vor das Gericht schleppen und auf ewig an den Tod binden wollten.«
»Warum hast du mir geholfen?« Sie blieb skeptisch. Die Zeit rann durch ihre Hände und die Finsternis ließ keine Schlüsse auf Tag oder Nacht zu. Das kleine Wesen antwortete ihr nicht. »Wer oder was bist du?«
»Ich bin ein Ichneumon.« Er sprang auf und rannte los.
Heather zögerte, ballte die Hände zu Fäusten und folgte ihm in die Finsternis hinein. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust und sie wusste, dass noch Leben in ihr steckte. Vielleicht war dieses Wesen ihre einzige Chance auf Rettung.
»Was ist ein ... Ichne...« Keuchend stützte sie die Hände auf die Oberschenkel. »Ein Ichne...«
»Nenn mich Melon!« Das marderartige Tier ließ sich einen seichten Abhang aus Schwärze heruntergleiten und quiekte vergnügt. »Hier sind wir sicher.«
Im selben Moment, als ihre Füße die Mulde berührten, schossen Ranken aus der Dunkelheit heraus und formten ein Dach über der jungen Frau. An manchen Stellen blätterte goldenes Licht von ihnen ab, fiel zu Boden und zersprang dort in kleine Funken.
Die Müdigkeit schlug auf Heather ein. Mit aller Kraft zwang sie Heather zu Boden und sie sackte vor Melon zusammen. Ihre Augenlider sanken und die Umgebung, die nicht der Realität ihrer Welt entsprach, verschwamm. Ein wohlig warmes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, aber sie weigerte sich, es anzunehmen. Sie schlief ein, schreckte immer wieder auf, als würde sich ihr Körper daran erinnern müssen, dass sie noch lebte.
Bilder flimmerten vor ihren Augen. Eine Hand haschte nach ihr, erwischte eine blonde Strähne und küsste diese. Eine Feder sank zu Boden. Lautlos. Heather sah ihr nach und blickte plötzlich in stahlblaue Augen, die sie musterten. Als sie ihre Hand nach den Augen ausstreckte, schlossen sich diese und die Gestalt verschränkte die eigenen Finger mit ihren. »Milan«, seufzte Heather und jede Berührung jagte elektrische Schauer durch sie. Sie bildete sich ein, seine Wärme zu spüren und etwas schmiegte sich enger an ihren Körper. So eng, dass sie nach Luft schnappte und aufschreckte, sich jedoch nicht mehr regen konnte.
Ein Zischen ertönte und darauf folgten weitere, zischende Geräusche. Das, was um ihren Arm lag, zerquetschte diesen und schnitten ihre Blutzufuhr ab. Ihre Finger, Hände, Arme, Zehen, Füße und Beine kribbelten, als würden tausende Spinnenbeine darüber laufen. Sie schrie, doch ihr Schrei verklang in der Unendlichkeit des Raumes.
Geisterhafte Schlangen wälzten sich um ihren Körper, verknoteten sich um ihre Glieder und raubten ihr die Luft zum Atmen. Heather konnte sich nicht mehr bewegen, ertrank in den schuppigen Strängen und drohte, das Bewusstsein zu verlieren.
»Verdammt!«, fluchte Melon, dessen Stimme wie ein dumpfes Hämmern auf sie donnerte. Er verbiss sich in den Schlangen und fraß eine nach der anderen auf. »Komm da raus, Menschlein!«
»Das versuche ich ja!«, brüllte sie ihm entgegen und krabbelte aus dem sich windenden Haufen hervor. Ein goldenes Licht regnete auf sie nieder, verbannte die Schlangen, die nach ihr schnappten, und tropfte von ihrem Kopf herab. »Melon, was tust du da?«
Das kleine Geisterwesen verschlang die Schlangen, die vor dem flüssigen Licht flohen und stellte sich knurrend vor die junge Frau. Sie rieb sich die Augen und den Hals, japste nach Luft. Ihre Finger glänzten golden und hinterließen Flecken auf ihrer Haut.
Die Schlangen fauchten und zogen sich zurück. Der Haufen wuchs an, türmte sich auf und aus ihnen trat ein Mensch hervor. Kein Mensch, verbesserte sich Heather in Gedanken, sondern jemand, der Raphael Freyer zum Verwechseln ähnlich sah.
»Apophis«, hauchte Melon und wickelte seinen Schweif um Heathers Bein. »Was macht Ihr hier, so weit oben in der Duat?«
»Meinen Tod verhindern«, dröhnte seine Stimme durch die stickige Luft. »Das Mädchen, das du beschützt, gib sie mir.«
»Lieber nicht.« Die goldenen Punkte auf Melons Stirn leuchteten auf und abermals regnete es Gold. »Ihr solltet Euch auf den Weg zum Totengericht machen.«
»Von einem Geist wie dir lasse ich mir nichts vorschreiben.« Er hob seine Hand und ein Energiestoß fegte das Gold hinweg. »Gib mir das Mädchen. Sie trägt eine Mitschuld an meinem Tod und ich will Rache.«
Melons Funkengestöber blockte der Gott ab und preschte auf Heather zu, die sich mit einem Sprung in einen Strom aus immateriellen Wasser rettete. Das Plätschern rauschte in ihren Augen, aber sie wurde nicht nass, sondern ihr wurde heiß und griff in Schilfhalme, zog sich an einem Bündel aus dem Flussbecken.
»Wächterin, lass mich dich ansehen!« Apophis rollte herbei, dicht gefolgt von dem maderartigen Tier, das ihn überholte und sich abermals vor Heather stellte. »Im Fluss werden sie dich fangen und zu Osiris bringen. Das wird dich töten. Du kannst nicht vor und nicht zurück.«
Schwärze schwemmte über sie alle hinweg, ertränkte die Schlangen und hätte auch Melon fortgespült, wenn er nicht auf Heathers Schultern geklettert wäre. Die Schwärze sickerte ein und formte einen Körper, der sich aus ihr erhob. Er besaß einen Schakalkopf, hüllte sich in weiße Gewänder und trug ein goldenes Pektoral.
»Anubis«, knurrte Apophis und verschwand im selben Moment in der Ewigkeit dieses Ortes.
Der Schakal sah dem Verschwinden zu und warf Heather einen Blick zu, als würde sie verstehen, was er wortlos von ihr verlangte. Sie machte ein paar Schritte rückwärts und vergrub ihre Hand in Melons Fell.
»Du musst mir folgen«, summte Anubis und die dunklen Augen flackerten auf. »Ich bringe dich zum Totengericht.«
»Nein!«
»Du kannst dich dagegen nicht wehren, es ist meine Aufgabe, die Toten vor das Gericht zu bringen.«
»Ich habe mich bereits dagegen gewehrt und ich werde mich auch weiterhin dagegen wehren!«
Anubis schwarze Hand packte ihre und riss sie voran, aber sie rammte die Hacken in den Boden und stemmte sich gegen den Gott. In ihren Augenwinkel bleckten Melons goldene Punkte auf.
»Warum wehrst du dich gegen mich? Dein Körper ist bereits tot, lass mich dir helfen und dich führen.«
»Nein! Ich brauche deine Hilfe nicht! Die anderen ... sie brauchen meine Hilfe. Ich weiß nicht, was nach meinem Tod passiert ist und deswegen kann ich mich nicht damit abfinden, sie nie wiederzusehen.«
»Wenn du nicht mit mir kommst, wird Apophis dich wieder heimsuchen. Er kehrt zurück, um dich zu holen, immer und immer wieder.«
»Dann muss ich ihm also nur oft genug entkommen und ...«
»Dann was?«, unterbrach der Schakal sie und lockerte seinen Griff. »Was wirst du dann unternehmen, Mädchen? Deine Zeit auf der Erde ist vorbei, ob du es hinnimmst oder nicht. Du besitzt keinen Körper, der dir ein Leben auf der Erde ermöglicht, also folge mir.«
»Ich werde dir nicht folgen! Was soll mir schon passieren? Ich bin ja anscheinend schon tot!« Mit einem Ruck löste sich Heather aus seinem Griff und Melon stieß ein Knurren aus, bohrte seinen Krallen in ihre Schultern.
»Du musst laufen, Mädchen«, wisperte das Wesen in ihr Ohr.
»Aber wohin?«, erkundigte sie sich und duckte sich unter Anubis Hand hindurch. »Hier sieht alles gleich aus!«
Im Sprint entkam sie der Schakalgottheit, die sich nicht die Mühe machte, ihre Flucht zu verhindern oder die Verfolgung aufzunehmen. Vielleicht brauchte er es auch nicht, denn sie sah keinen Weg, der sie aus der Duat führen könnte.
»Wohin?«, japste sie und fiel auf die Knie. Ihre Füße leuchteten feuerrot und goldene Partikel hatten sich in ihre Haut gefressen. »Wohin kann ich gehen? Ich will hier weg, ich will zurück nach Hause.« Ein Wimmern entfloh ihrer Kehle, ehe sie sich umsah. »Er ist uns wirklich nicht gefolgt?«
»Das kann keiner sagen«, schnurrte Melon und schlang den Schweif um ihren Hals. »Anubis kann durch die Welten wandeln. Für ihn ist die Duat ein Spaziergang und wenn er dich finden will, dann findet er dich, ohne nach dir zu suchen. Und zu deiner anderen Frage: Bisher hat es kein Gestorbener geschafft, die Duat zu verlassen.«
»Dann ... Muss ich eben die Erste sein«, bestimmte sie und vergrub die zittrigen Finger in dem Fell des Ichneumons. »Immerhin bin ich eine Wächterin.«
»Eine Wächterin ohne Wächtersteine.« Sie hörte ihn bei diesen Worten grinsen. »Aber vielleicht gibt es einen Weg, wenn du nur lange danach suchst.«
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