Chaos - Neun - Grollender Wind

Während Carlos, Marko und die anderen in den Ruinen schuften mussten, hatten sie Heather das Versteck unter dem Dielenboden ihrer Hütte überlassen. Dort saß sie nun im Halbdunkeln und lauschte den Geräuschen, die gedämpft zu ihr drangen.

Sie atmete aus. Cara und Milan mussten noch leben, sofern Seth ihnen nichts angetan hatte. Immerhin waren sie Gottheiten und damit unsterblich. Die beiden waren schlau und stark genug, dem bösen Teil in Jade zu entkommen. Heather machte sich dennoch Sorgen um die Zukunft. Was hatten die zwei die vielen Jahre gemacht? Hatten sie sich verändert?

»Ist es wirklich in Ordnung, diese Leute in meine Probleme hineinzuziehen?«, fragte sie sich und lehnte sich zurück.

»Sicher ist es das.«

Mit einem Satz sprang sie auf und blinzelte gegen das hereinfallende Licht an. »Carlos?«

»Wir sind spät dran, was?« Wie immer reichte er Heather eine Hand, damit sie leichter aus dem Loch klettern konnte. »Wir haben dir etwas Brot mitgebracht. Hier, nimm.«

»Wenn ihr mir helft, bringt ihr euch in Gefahr.«

»Wir waren schon vor deiner Ankunft in Gefahr, also mach dir keine Sorgen. Solltest du mit all deinen Überlegungen recht haben, dann bist du unsere beste Option auf ein gutes Leben.«

»Du bis zu gutgläubig und steckst zu viel Hoffnung in eine Person.« Sie biss ins Brot und kaute auf der harten Kruste herum. »Aber das Gleiche kann ich von mir selbst sagen. Ich stecke all meine Hoffnung in dich und deine Freunde. Ohne eure Hilfe wäre ich sicher schon bei Seth und er wäre hundertprozentig nicht erfreut, mich wiederzusehen.«

»Du hast ihn also schon einmal gesehen?«, erkundigte sich Marko und nahm neben ihr Platz.

»Ja, er ... war schuld an meinem Tod. Oh, hat Carlos euch das auch erzählt, dass ich bereits gestorben bin?«

Marko und die Frau, die ihm seit wenigen Tagen auf Schritt und Tritt folgte, nickten. Dank Carlos hatten die meisten von ihnen Heathers seltsame Geschichte geglaubt und ihren Geisteszustand nicht weiter infrage gestellt. Jedenfalls nicht laut. Ihr Anführer berichtete von den Karawanen, die zweimal im Monat dieses Lager durchquerten, um neue Sklaven zu liefern oder diejenigen abzutransportieren, die zu schwach zum Arbeiten waren. Bevor sie mich aufgelesen hatten, war es ihr Plan, eine der Karawanen zu überfallen und zu übernehmen.

»Die Sethets kennen unsere Namen und Gesichter nicht. Für sie sind wir kleinen Arbeiter nicht mehr als Zahnräder in ihrer großen Maschine, die funktionieren soll. Sie würden bemerken, dass einige Arbeiter fehlen, aber sie würden niemals herausfinden, wer genau fehlte«, erklärte Carlos und grinste. »Mit den Wagen der Karawane kommen wir hier raus. Wenn wir die Händler schnell genug ausschalten und ihre Kleidung anziehen können.«

»Und danach?« Heather fand die Idee, zu fliehen, nicht schlecht, doch sie benötigten ein Ziel. »Diese Sethets können uns sicher wieder aufspüren, oder?«

»Schlimmer noch ... Eigentlich sind die Sethets diejenigen, die in den Karawanen unterwegs sind, um weitere Sklaven einzusammeln.«

»Denkst du, dass wir sie besiegen können?«

»Hast du keine besonderen Fähigkeiten?«

»Wie bitte?« Heather Augen weiteten sich und sie rieb sich über die Arme. »Ich bin keine Gottheit, sondern eine Wächterin ... Eine Wächterin ohne ihre Wächtersteine, was mich an sich unbrauchbar macht, denn ohne die Steine kann ich nicht einmal das Weltentor öffnen.« Sie blickte von dem einen niedergeschlagenen Gesicht in das nächste. »Vielleicht ... Dieser Körper ist neu für mich, auch wenn er haargenau so aussieht wie mein alter. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob ein Wächterstein mich erkennt, aber eventuell hat mir Melon ein paar seiner Kräfte mitgegeben.«

»Du klingst nicht überzeugt«, merkte Marko an.

»Ja, das bin ich auch nicht. Es wäre zu schön, wenn mich dieses kleine Wesen in der Duat mit ein paar übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet hätte, aber ich befürchte, wir müssen auf das Menschliche in mir bauen.«

»Dann benötigst du wohl noch etwas Training!« Mit Schwung stand Marko auf und winkte Heather heran. »Ich zeige dir ein paar Techniken. Deine Beine sehen kräftig aus, mit denen kannst du bestimmt einige Treffer landen.«

»Ich habe also starke Beine, aha.«

»So habe ich das nicht gemeint!« Etwas überrascht drehte er sich zu ihr und stutzte, als sie lachte. »Ich denke, das habe ich verdient.«

Das Training fiel kurz aus, da sie vorsichtig bleiben mussten. Die Sethets suchten noch immer nach dem Ursprung einer mysteriösen Kraft, die Seth anscheinend bei Heathers Rückkehr gespürt hatte. Seine Schergen waren wie Ameisen. Überall. Fleißig. Aufmerksam. Heather hatte noch keinen von ihnen gesehen, aber die anderen warnten sie täglich vor ihnen.

Nach zwei Tagen war es soweit. Carlos zeichnete die wichtigsten Punkte des Lagers in den Sand und zog eine lange Linie, die die Strecke der Karawane darstellen sollte. Es gab drei Karawanen, die an diesem Tag erwartet wurden. Die Letzte wollten sie überfallen. An fünf Punkten würden die Sklavenhändler Halt machen und Carlos wollte sie am letzten Punkt überraschen.

Am späten Nachmittag zogen sie los und für Heather war es das erste Mal, dass sie das Arbeitslager aus der Nähe betrachten konnte. Die Menschen, die hier zur Arbeit gezwungen wurden, ähnelten den Bildern und Zeichnungen ihrer Geschichtsbücher. Im Studium hatten sie die Sklaverei im alten Ägypten angerissen, aber die Bilder raubten ihr nicht den Atem. Sie hatte sie angeschaut, die Texte gelesen und verstanden, dass die Sklaverei etwas Schreckliches war, doch sie in Wirklichkeit zu sehen, jagte ihr einen Schauer nach dem anderen über den Rücken.

»Heather«, wisperte Carlos und nahm sie in die Mitte. »Bleib dicht bei uns.«

Ein scharfes Schnalzen ließ die junge Frau herumschnellen. Auf einem kleinen Podest waren ein Mann und eine Frau angebunden worden. Eine in Schwarz gekleidete Person trat hinter sie. Das Schnalzen stammte von den Peitschenhieben, die auf die Rücken der beiden Gefesselten niedergingen. Bei jedem Schlag und Hall zuckte Heather zusammen und schmeckte Blut in ihrem Mund.

Carlos drängte sie weiter. Sie passierten weitere Arbeitergruppen, die sie nicht einmal bemerkten. Einzig die schwarz gekleideten Personen folgten jedem ihrer Schritte und Heather spürte die brennenden Blicke im Nacken.

Nahe einer hohen Mauer, die die Arbeiter im Lager hielt, teilte Carlos die Gruppe in zwei. Die eine Hälfte blieb auf dieser Seite der Straße, die andere versteckte sich auf der gegenüberliegenden. Heather presste ihren Rücken gegen eine Wand, die einst ein Haus gestützt haben musste, und betrachtete die Umgebung, die ihr nun bekannter vorkam. Sie entdeckte Überreste der Akademie und konnte daraus das Campusgelände in Gedanken zusammenpuzzeln.

Ein Karren ratterte an ihnen vorbei, doch weder Carlos noch Marko noch die anderen rührten sich. Es musste also eine der ersten Karawanen gewesen sein. Sie wollten die letzte überfallen. Heather knibbelte an ihren Fingernägeln und legte den Kopf in den Nacken. Diese Welt hatte sich verändert, nein, Seth hatte sie in einen alten Zustand zurückversetzt. Diese Menschen besaßen nichts. Es gab keinen Strom und keine Autos mehr. Alles, was sie kannte, schien ausgelöscht worden zu sein.

»Irgendetwas stimmt nicht«, hörte sie Carlos sagen und er gab den anderen ein Zeichen, das sie nicht verstand. »War das eben doch der richtige Karren?«

Er erwartete keine Antwort, dennoch setzte die junge Frau zum Sprechen an, verstummte jedoch rasch. Ein Grollen wälzte sich über das Lager, entsprang dem großen Gebäude, in dem sich Seth aufhalten sollte. Sie schaute auf, ungeachtet der möglichen Karren, die an ihr vorbeifahren könnten. Das Grollen entlud sich in einer feurigen Explosion, die die Menschen in Panik aufschreien ließ und das Gebäude zum Beben brachte. Rauch stieg auf, färbte den Himmel aschfarben.

»Was war das?!« Marko hetzte über die Straße und ging hinter Heather in Deckung. »Was machen wir jetzt, Carlos?«

»Wir könnten die Explosion nutzen, um zu fliehen.«

»Nein«, widersprach Heather. »Wie viele Explosionen gab es in diesem Gebäude, seitdem ihr hier seid?«

»Keine einzige.«

»Dann sollten wir nicht glauben, dass das ein glücklicher Zufall ist.« Sie zerrte an Carlos Ärmel. »Unsere Flucht müssen wir verschieben.« Schweigend deutete sie zur Mauer, auf der die schwarzen Gestalten Stellung einnahmen, während andere zum Gebäude rannten. »Sie sind jetzt alarmiert und werden sicher niemanden aus diesem riesigen Gefängnis herauslassen.«

»Mist!« Carlos schlug auf den Boden ein. »Wir waren so nah dran. Wieso passiert das ausgerechnet heute?«

»Heather hat recht«, murmelte Marko und zuckte mit den Schultern. »Siehst du die Sethets? Sie greifen zu den Waffen. Die Explosion war wohl geplant und wer auch immer dahintersteckt, ist gleich tot.«

Die kleine Gruppe mischte sich unter die Flüchtenden. Die Sethets schleusten sie über die Straßen in die kleinen Hütten am Rande der ausgehobenen Ruinen. Heather zog ihr Shirt über ihren Mund, nicht weil der Qualm der Explosion in ihre Richtung zog, sondern weil sie Angst hatte, dass die schwarzen Gestalten sie erkennen könnten. Dass sie sahen, wer sie war.

Auf dem Seitenarm einer ihrer Hauptstraßen wandten sich die Sethets von ihnen ab und scheuchten die langsameren Arbeiter am Ende vorwärts. Einige von ihnen stolperten, fielen und drohten, niedergetrampelt zu werden.

»Nicht«, keuchte Carlos und hielt Heather am Arm zurück. »Wir müssen weiter.«

Wenige Meter vor der Hütte, die Heather die letzten Wochen Unterschlupf geboten hatte, machten sie Halt. »Diese Explosion ... Wer könnte sie verursacht haben?«

»Ist das wichtig? Sie ist der Grund für unser Scheitern. Wäre sie nicht gewesen, könnten wir bereits auf einem der Wagen sitzen und aus dem Lager fahren«, knurrte Marko und stützte seine Freundin, die nach Atem rang. »Wir waren so kurz davor, zu verschwinden!«

»Sei nicht sauer.« Carlos Blick wanderte die Straßen in der Ferne ab. »Vielleicht hätten sie uns heute erwischt und ... getötet. Die Sethets sind stärker bewaffnet als ich erwartet habe.«

Und Carlos Leute besaßen gar keine Waffen, fügte Heather in Gedanken hinzu und lehnte sich gegen die morsche Holzwand der Hütte. Die Luft, die sie gierig einatmete, kühlte ihren Körper aus. Sie erschauderte und knotete ihr Shirt enger. Doch der Wind, der auffrischte, schummelte sich unter den Stoff.

Plötzlich spaltete ein Schatten die Sonne. Der Wind peitschte den Staub und kleine Steine auf. Heather hob die Arme, um sich vor den Geschossen zu schützen. Als sie aufblickte, standen Carlos und Marko vor ihr. Ihre Haltung hatte sich geändert. Sie waren bereit für einen Kampf, aber sie wusste nicht für welchen.

»Wer bist du? Woher kommst du?«, schrie Carlos.

Heather reckte den Kopf, aber Markos Freundin schlang die Arme um sie. »Was ist los?« Ihre Stimme prallte gegen die Schulter der anderen und verklang.

»Kannst du nicht sprechen? Bist du ... Oh ja, du bist einer dieser widerlichen Gottheiten! Was willst du von uns? Die Sethets machen doch sonst die Drecksarbeit, oder? Willst du uns für die Explosion bestrafen? Dann muss ich dich enttäuschen, denn wir ...«

Eine Böe schnitt Carlos den Satz ab und wirbelte erneut Staub auf. Heather hielt den Atem an und sich an der jungen Frau fest. Eine Gottheit? Hier? Dieser Gott war sicher nicht ihretwegen hier, denn niemand wusste von ihrer Existenz. Was wollte er dann von einer Arbeitergruppe, die den Befehlen der schwarz gekleideten Schergen brav gefolgt war?

»Marko, bring Heather ins Versteck und ...« Abermals raubte der Wind Carlos die Stimme. »Schnell!«

»Nein!« Heather stieß die junge Frau zur Seite, hastete zu ihrem Anführer und krallte sich in sein Hemd. »Ich lasse nicht zu, dass ihr euch für mich opfert. Was will dieser Gott von euch?«

»Heather! Tu, was ich sage. Wir sind ihm egal, aber er wird dich zu Seth bringen.«

Er gab ihr einen Schubs und sie strauchelte zu Marko, der sie weiterreichte, bis sie in der Tür der Hütte landete. Diese Hütte würde einem Gott und sicher nicht diesem unerbittlichen Wind standhalten. Sie rappelte sich auf und trat ein zweites Mal aus der Deckung.

»Heather! Geh!«

Mit einem schrillen Zischen riss der Wind die Männer, die sich schützend vor Heather aufgereiht hatten, auseinander. Sie stürzten und brüllten, kamen jedoch nicht gegen den Sturm an, der sie von der jungen Frau abschirmte. Ein Wirbelsturm schleuderte sie zurück und schraubte sich in den Himmel.

Der staubige Sturm wich einem farblosen Lufthauch. Stille nahm sie ein. Aus den lauen Böen trat eine Gestalt. Sie schlich sich an Heather heran, ließ sich Zeit und hielt die Hände vor sich. Um die Gestalt peitschte der Wind wilder. Würde sie nun sterben? Oder nahm dieser Gott, der den Wind kontrollierte, sie gefangen? Würde er sie an Seth ausliefern? War alles umsonst?

Sie machte sich kleiner, gab sich geschlagen. Sollte sie sich gegen einen Gott auflehnen, könnte er die anderen verletzen oder aus Zorn töten, bis sie ihm schließlich freiwillig in den eigenen Tod folgte. Keine weiteren Tode. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie sich gestehen, dass sie nie eine Chance gegen eine Gottheit gehabt hätte.

Der Wind im Auge des Wirbelsturms legte sich. Die göttliche Gestalt kam näher und näher, blieb auf einmal stehen. Kalter Schweiß rann ihren Rücken hinab. Ihre Fingernägel brachen, während sie sich in den steinigen Boden krallte. Das war es, ihr Ende. Sie hatte den Tod ein Mal überwunden, vielleicht würde es ihr noch ein Mal gelingen. Vielleicht.

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