Chaos - Acht - Unwissenheit

Die kleine Gruppe, die Heather gefunden hatte, brachte sie in eine kleine Hütte am Rande einer Ruine. Die Sonne war noch nicht aufgegangen und das gab ihrer Patrouille etwas Verdächtiges. Wer würde schon mitten in der Nacht durch eine Ruine wandern und sich nicht über eine schlafende junge Frau wundern? Was Heather noch vielmehr verunsicherte, waren die Sethets von denen die Männer gesprochen hatten. Es hatte nie so etwas wie Sethets gegeben, also warum gab es sie nun und hatten sie etwas mit Seth zutun oder waren sie eine Gegenbewegung? Und wieso sollte Seth schon wieder zurück sein? Sie hatten ihn doch gerade erst besiegt.

»Ich bin übrigens Carlos. Wie heißt du?«, fragte der Mann, der sie gefunden und aufgeweckt hatte. »Hab keine Angst, wir müssen hier zusammenhalten, ansonsten überleben wir nicht lange.«

»Was ... Ich verstehe gar nichts mehr.«

»Dann verrate mir doch erstmal deinen Namen. Wir arbeiten uns langsam voran, okay?« Carlos rückte eine kleine Kiste zurecht, auf der Heather Platz nahm. »Und?«

»Ich heiße Heather.« Sie legte ihre Hände in den Schoß. »Wo bin ich hier? Und wer sind diese Sethets?«

»Du weißt es wirklich nicht?« Carlos verschränkte die Arme vor der breiten Brust und schaute in die Gesichter seiner Freunde. »Du bist in einem Arbeitslager von Seth. Hier landen alle armen Seelen, die sich nicht schnell genug verstecken konnten und von den Sklavenhändlern oder Söldnern erwischt wurden.«

»Warte, was?!« Heather sprang auf und stieß die Kiste um. Die anderen wichen ihr aus. »Nein, das kann nicht sein! Seth ist ... er war fort. Wir hatten ...« Sie hielt sich die Hand vor den Mund und verstummte. Diese Leute hielten sie schon für verrückt und bevor sie nicht begriffen hatte, was mit der Welt geschehen war, brauchte sie ihre Hilfe. »Carlos, wieso gibt es dieses Arbeitslager?«

»Seth zwingt die Menschen zu allerlei Arbeit. Er braucht Palaste, Waffen und ... Soldaten. Sethets sind so etwas wie Soldaten, die für ihn kämpfen und alles tun, was er will.«

Heathers brach zusammen und krümmte sich vor. »Verdammt!« Ihr Fluchen half nichts, aber sie musste den Frust herauslassen. Eben saß sie noch in der Duat fest – dem bisher schlimmsten Ort, an dem sie jemals gewesen war – und nun wachte sie in einer Welt auf, die ihr fremd schien. »Seit wann ist Seth zurück und wie konnte er so schnell Lager errichten, Arbeiter zusammentreiben und eigene Soldaten unter sich versammeln?«, wollte Heather wissen.

Carlos presste die Lippen aufeinander und trat an sie heran. Sein gebräuntes Gesicht verzog sich. Erst vor Wut, dann vor Trauer und anschließend zeigte es Mitgefühl, das die junge Frau nicht benötigte. Sie wollte Antworten.

»Wie kannst du das alles nicht wissen?«, meldete sich der jüngere der Beiden zu Wort und rieb sich den Nacken. »Hast du die letzten Hundert Jahre unter einem Stein gewohnt?«

»Hundert Jahre?«, wiederholte sie skeptisch. »Welches Jahr haben wir?«

»Es ... Wie meinst du das, welches Jahr wir haben? Es ist das Jahr 359«, erwiderte Carlos.

»W... Was? Wie kann das sein? Wie konnte ich so lange ...« Heather atmete durch. Mehrmals. Die sauerstoffarme Luft in der Hütte bereitete ihr Kopfschmerzen. Nein, diese Situation und all die neuen Fragen, die sich ihr aufzwangen, lösten das Pochen in ihrem Kopf aus. »Das ist doch ein schlechter Scherz. Bin ich in der Zeit zurückgereist? Nein, das hier ist nicht die Vergangenheit, richtig? Das hier soll die ... Zukunft?«

»Carlos, diese Frau ist völlig irre. Sie redet wirres Zeug. Wir sollten schnellstens von hier verschwinden und sie den Sethets überlassen.«

Heather hätte ihm zu gern zugestimmt, aber die Panik erwischte sie wie ein Schlag in den Magen. Sie beugte sich vor, unterdrückte einen Schrei und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Die kleinen Schauer, die ihr den Schweiß in den Nacken trieben, wuchsen an und erschütterten ihren Körper, bis sie Galle und Kupfer schmeckte.

»Wir lassen sie nicht zurück«, entschied Carlos. »Ich stimme dir zu, dass sie verwirrt ist und seltsame Dinge von sich gibt, aber sie ist hilflos.« Er berührte Heathers Rücken und sie schreckte auf, schaute ihn an. »Wir bringen dich in Sicherheit, in Ordnung? Keine Ahnung, woher du kommst und was du durchgemacht hast, dass du dich so verhältst, aber wir bieten dir ein wenig Schutz vor den Sethets.«

»Wer seid ihr?«, flüsterte sie.

»Wir sind Sklaven, so wie du nun auch.« Sachte half er ihr zurück auf die Kiste. »Allerdings versuchen wir, unsere Lage zu verbessern, indem wir einander helfen und ... Wir suchen nach einem Weg, der uns ein besseres Leben ermöglicht. Ein Leben, wie wir es aus den Geschichten der Verstorbenen kennen.«

Heather gehörte zu den Verstorbenen. Sie war eine derjenigen, die Seth aufgehalten und offensichtlich versagt hatten. »Was ist mit den anderen Gottheiten?«

Alle Umstehenden sogen die Luft scharf ein und senkten ihre Blicke. Einer trat unruhig auf der Stelle, eine andere suchte scheinbar nach einem Versteck und der junge Mann griff in seine Hosentasche, klammerte sich an etwas, dass ihm wichtig sein musste.

»Die Gottheiten sind unser schlimmster Feind und für all das Leid der Menschheit verantwortlich. Wieso interessiert es dich, was mit ihnen ist?« Carlos Blick wirkte leer und er schaute zu Boden. »Sag mir nicht, dass du auf eine Rettung hoffst, denn das Einzige, was diese Götter getan haben, war sich unserem Albtraum anzuschließen und die Menschheit in den Untergang zu stürzen.«

»Die anderen Götter haben sich Seth angeschlossen? Das kann nicht wahr sein!«

»Du sprichst von ihnen, als würdest du sie kennen .... Kennst du sie?« Er packte die junge Frau an den Schultern und hielt sie fest. »Verwirrt oder nicht, sag es mir!«

»Ich kenne sie.«

»Das ist unmöglich. Die Götter haben sich entweder Seth angeschlossen oder sind verschwunden. Sie haben uns zurückgelassen und niemand hat die Verräter Seths jemals gesehen. Wieso sollten wir dir glauben.«

»Ja, es gibt keinen Grund, mir zu glauben«, bestätigte sie ihn und berührte seine Hand, die ihre Schulter zerdrückte. »Ihr müsst mich nicht mitnehmen. Wenn ihr mir verratet, wo ich bin, kann ich ...«

»Du kannst gar nichts!«, fuhr der Jüngere sie an. »Hast du eine Ahnung, was die Sethets mit dir anstellen, wenn sie dich finden? Solltest du wirklich von anderen Göttern wissen, werden sie dich foltern, bis du ihnen sagst, wo diese Götter sind und anschließend töten.«

Gab es denn keinen Ausweg aus diesem Chaos? Sie musste Cara und Milan finden, denn wenn Seth lebte, mussten sie ebenfalls noch leben, auch wenn über 300 Jahre vergangen waren. Mit der Möglichkeit, dass Seth die beiden umgebracht haben könnte, würde sie keine Sekunde ihres neuen Lebens verschwenden.

»Ich muss Cara und Milan ... Ich muss Bastet und Horus finden«, verkündete sie. Carlos und die anderen nahmen Abstand, als wäre sie eine Bombe, die jeden Augenblick explodieren könnte. »Ihr müsst mir sagen, wo ich bin, damit ich diese Götter suchen kann.«

»Du bist verrückt!« Der junge Mann drückte den Handrücken gegen seine Stirn. »Wir sollten gehen. Wir lassen sie zurück. Aus ihr spricht der Wahnsinn, oder schlimmer: irgendeine Gottheit hat sie unter Kontrolle und ist auf dem Weg hierher, um uns alle zu töten!«

»Beruhige dich, Marko.« Carlos gab ihm einen Klaps auf den Rücken und ging vor Heather in die Hocke. »Wer zum Himmel bist du, Heather?«

Sie durfte ihnen nicht trauen. Noch nicht. »Eine Studentin.«

»Studentin? Was soll das sein?«, erkundigte sich Carlos und die Neugier, die aus ihm sprach, schien echt. Ehe Heather ihm antworten konnte, setzte sie sich in Bewegung und er beugte sich zu ihr herüber. »Leise. Die Wachen des Lagers sind hier.« Heather nickte und ließ sich von Carlos in ein Hinterzimmer führen. Er schob einen Teppich beiseite und hob drei lose Dielenbretter aus dem Boden. »Hier rein. Wir werden dich rausholen, sobald die Wachen weg sind.«

Ohne zu zögern, kletterte sie in das dunkle Loch hinab und hielt die Luft für einige Momente an. Schritte knarzten über die Dielen und Lichtfetzen brachen durch die Schlitze der Holzbretter. Die Menschen über ihr unterhielten sich leise. Zu leise als dass sie etwas verstehen konnte. Sie wartete und krallte ihre Finger in den Stoff ihres Shirts, fühlte ihn und fragte sich, ob Melon gewusst hatte, dass sie Kleidung benötigte. Wo war dieses kleine Wesen jetzt nur? Er hatte ihr einen Körper, sein Leben gegeben und sie hatte sich nicht einmal bedanken können. Aber er hatte recht behalten und sie sicher auf die Erde geschickt. Jetzt lag es an ihr, dieses neue und unsichere Leben zu bewahren.

Als sich die Luke öffnete, war sie bereit für einen Kampf, entspannte sich jedoch schnell wieder.

»Sie sind weg, du kannst rauskommen.« Carlos griff ihre Hände und zog sie ins Licht.

»Sie haben jemanden oder etwas gesucht«, knurrte Marko. »Woher sollten sie wissen, dass wir jemanden in den Ruinen gefunden haben?«

»Das wüsste ich auch gerne.«

»Was sind das für Ruinen, in denen ihr arbeitet?«, fragte Heather, weil sie ihr auf die Frage, wo sie sich befanden, noch immer keine Antwort gegeben hatten.

»Es war wohl mal ein heiliger Ort«, begann Carlos und trank einen Schluck Wasser. »Ich habe gehört, dass es der Ort des Ursprungs der Gottheiten war. Deswegen hat Seth hier auch sein Lager errichtet, denn diesen Ort will er wohl mit niemanden teilen.«

»Ein heiliger Ort ... Der Ursprung ... Oh nein!« Heather stürmte aus dem Hinterzimmer und an den anderen Leuten, die sich in der Hütte hingelegt hatten, vorbei. Draußen ging die Sonne langsam auf und blickte auf die Ruine. »Wie kann das sein?« In den Trümmern konnte sie nichts Bekanntes erkennen, dennoch fühlte sie das, was Carlos als heilig bezeichnet hatte.

»Du kannst hier nicht herumlaufen!« Carlos trat hinter sie. »Du musst dich verstecken, oder die Sethets werden dich finden. Du erinnerst mich an jemanden, die auch nie das getan hat, worum ich sie gebeten habe.«

»Wer war sie?«

»Eine gute Freundin, die immerzu ... Egal. Sie ist weg. Ich habe sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen und habe jetzt wohl dich an der Backe.«

»Du hast mich beschützt und mir einiges erklärt, ohne eine Gegenleistung oder eine Erklärung zu fordern«, unterbrach sie ihn und drehte sich zu ihm. »Dafür bin ich dir dankbar. Dieser heilige Ort ist der Ursprung der Gottheiten. Ich war damals dabei, als sie ihre Kräfte erlangten. Ich habe die Wahrheit gesagt, als ich meinte, dass ich Bastet und Horus kenne, denn sie sind meine Freunde, zumindest waren sie es, als ich sie verließ.«

»Du hast ... Das ist unmöglich. Das ist Hunderte Jahre her, du kannst damals nicht dabei gewesen sein.«

»Ich war dabei, aber ich verlor mein Leben. Das mag jetzt noch verrückter klingen als alles, was ich dir bisher erzählt habe, aber ich war in der Duat. Währenddessen sind hier auf der Erde so viele Jahre vergangen. So viel hat sich verändert. Zum Schlechten. Ich muss das wiedergutmachen. Ich muss meine Freunde finden. Nur so können wir ...«

»Etwas gegen Seth unternehmen«, beendete er meinen Satz und schnaufte. »Dann wiederhole ich meine Frage vom Anfang: Wer bist du?«

»Mein Name ist Heather McCarthy. Ich war oder bin eine Wächterin der Weltentore. Eines dieser Tore ist in diesen Ruinen ... Vielleicht sind auch nur noch seine Einzelteile übrig, aber ich habe es damals mit den anderen Wächtern geöffnet und ...«

»Du hast die Gottheiten befreit?«

»Um die Welt zu retten, ja. Ich war nicht allein. Es gab mehr von uns Wächtern.«

»Aber du hast sie ins Chaos gestürzt! Wir leben in Unterdrückung und mit dem Tod in unserem Nacken!«

»Ja, das habe ich bemerkt.« Heather näherte sich ihm und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Doch ich bin zurück, um den Fehler zu korrigieren. Ich weiß nun, wo ich bin, aber ich muss noch herausfinden, wohin ich gehen muss. Du und deine Freunde braucht mir nicht helfen. Ihr habt genug getan.«

»Du wirst sterben.« Die Härte seiner Stimme warf die Frau zurück. »Die Sethets werden dich finden und umbringen, solltest du eine ... Wächterin sein und die Macht besitzen, Gottheiten zu erschaffen.«

»Wieso sollten sie mich umbringen, wenn ich mehr Götter auf die Erde holen könnte?«

»Weil ... Weil nicht alle Gottheiten Seth unterstützen. Wenn es eine Möglichkeit gibt, andere Götter ... Götter die ihn stürzen wollen, zu vereinen, dann haben wir eine Chance und Seth einen Gegenspieler, den er nicht akzeptieren wird. Wir ... hätten eine echte Chance ...«

»Heißt das, dass du mir helfen wirst?«

»Ich werde es vermutlich bereuen, aber ja, ich werde dir helfen.«

»Du glaubst mir also? Einfach so?«

»Wenn man keine Hoffnung mehr hat, glaub man fast alles. Was soll ich dir sagen? Deine Verrücktheit färbt anscheinend ab und solltest du wirklich beim Ursprung der Gottheiten anwesend gewesen sein, dann erzähl mir mehr davon.«

»Was willst du wissen?«

»Ich brauche Namen.« Er bemerkte Heathers Verunsicherung und fügte an: »Namen der Menschen, denen du vertraut hast. Die beim Ursprung dabei waren.«

»Cara und Milan, in denen die Gottheiten Bastet und Horus erweckt wurden. Nate und Linus, die zu den Wächtern gehörten und ... Carlos, was ist?«

Sein Gesicht verlor die Farbe und er wankte rückwärts, bis er über einen Steinbrocken stolperte. »Linus? Wie war sein Familienname?«

»Linus Tebbe.«

»Ach du heilige ...« Er ließ sich fallen und landete auf seinem Hinterteil. »Ich verliere offenbar auch den Verstand. Das kann doch gerade nicht passieren. Es passt zu gut zusammen.«

»Du kennst Linus?«

»Nein, ich kenne ihn nicht, denn dann müsste ich über 300 Jahre alt sein, aber meine Freundin weiß alles über ihn und hat manchmal von ihm erzählt. Wenn ich nicht träume, könnten wir einen Gegenangriff planen, der kein ständiges Fliehen und Verstecken beinhaltet. Vielleicht kannst du den Fehler von vor 300 Jahren wiedergutmachen, Heather.«

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