Eisen und Feuer
Soundtrack: Saunder Juriaans & Danny Bensi - Samurai/Devotion aus dem For Honor OST. Abspielen ab Anfang.
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Kasai zupfte an Yumikas Ärmel. „Wir sollten gehen", sagte sie nervös. Ihr Pferd schnaubte und tänzelte, als wollte es ihre Worte untermalen.
„Nein, warte." Yumika fing ihre Hand ein und hielt sie fest, selbst wenn die Länge ihrer beider Arme kaum reichte, um ihre Beine nicht zwischen den beiden zueinander gezwungenen Pferden zu zerquetschen. Die Geschirre klirrten leise, ein helles Geräusch in der rauschenden Stille des Waldes.
„Wir sollten nicht mal hier sein." Kasais Hand zitterte, doch sie ließ nicht los. „Wenn uns etwas passiert, kann uns niemand helfen."
„Uns wird nichts passieren. Du hast mich."
„Und wenn dir was passiert?"
„Dann habe ich dich." Yumika ließ Kasais Hand los, rutschte vom Rücken des Pferdes und schritt näher an die durch die Äste schimmernden Laternen zu.
Der Wind flüsterte in den Blättern des dämmrigen Waldes, längst vergessene Opfergaben klapperten gegen die verfallenen Wände des Tempels. Er war kaum zu erkennen im Zwielicht, ein zum Teil eingestürztes Pagodendach, überwuchert vom Moos, faulige Holzbalken, gesplitterter heller Putz an den Wänden. Die zu Bruchstücken zerfallenen Statuen von Wächterhunden bleckten die ruinierten Steinzähne. Trockene Blätter bedeckten alles wie ein knisterndes Leichentuch. Und doch leuchteten hunderte Laternen in den Schatten, befestigt an den Köpfen der Hunde, den Kanten des Dachs, an den dafür vorgesehenen Haltern, an Balken, Nägeln und an roten Schnüren mit Perlen, gespannt zwischen den Stämmen des wuchernden Bambus. Sie alle waren aus Eisen, einige schienen schwer genug, um jemandem damit den Schädel einzuschlagen, andere leicht und filigran. Das Licht der Flammen funkelte wie Augen hinter angelaufenem Glas und den Verzierungen aus dunklem Metall. Weitere rote Schnüre mit Perlen verbanden die Lichter und schaukelten in der Brise.
Yumika hörte hastige Schritte hinter sich rascheln, und erkannte aus dem Augenwinkel Kasai. Ihr weißes Fell schimmerte bläulich im Dämmerlicht, ihre drei Schweife wehten hinter ihr her. Mit ängstlichen Blicken um sich folgte sie ihrer kleinen Schwester, die Hände bereits zu den Abwehrhaltungen des Kai Zhandou erhoben. „Es ist ein Ort der Banshee!", zischte sie. „Wir sollten wirklich gehen."
„Wir sind vom Blut der Shiro. Der König Schellen lebt in uns." Yumika schritt unbeirrt voran. Der verlassene Tempel versprach Abenteuer, ein weiterer geheimer Ort, den sie in den Wäldern um Hinan gefunden hatten, von dem sie ihren Freunden in der Wolkenkathedrale erzählen konnten. Sie wären sie die Helden der Novizen, die Bezwinger des gruseligen Schreins im Wald. „Niemand kann uns etwas anhaben, schon gar nicht die Banshee."
„Jemand muss noch hier sein", raunte Kasai. „Niemand würde die Laternen brennen lassen. Der Wald könnte in Flammen aufgehen."
Yumika hielt den Atem an, um besser hören zu können, doch nichts wies auf ein lebendes Wesen hin, nur Kasais schneller, flacher Atem hinter ihr, und das Schnauben der Pferde dort, wo sie sie zurückgelassen hatten. Die Stille machte selbst sie nervös. Kasai hatte recht. Die Laternen würden nicht umsonst brennen. Etwas war nicht richtig, und eine kleine, vernünftige Stimme in ihr schrie, dass sie dem Ort den Rücken kehren sollte, zurück zu den Pferden, aus dem Wald in den Schutz des Anwesens, dorthin, wo die Lichter rechtens waren und die Geister keine Macht hatten. Doch dann wäre sie ein Feigling, und wenn Yumika Shiro eines nicht war, dann feige. Wie sollte sie auf Kasai aufpassen, wenn sie ängstlich war?
Sie zog ihr Schwert aus dem Gürtel, ein kurzes Wakizashi, das sie aus der Waffenkammer des Anwesens geschmuggelt hatte. Der Kaiserin Leibwächterin würde sie sein, und das konnte sie nicht ohne eine Waffe. Die Shinaru hatten ihr genug über Schwerter beigebracht in den zwei Jahren, in denen sie bei ihnen ausgebildet wurde, dass sie es auch benutzen konnte.
Näher und näher schlichen sie an den Tempel heran. Irgendwo schlugen die Laternen sanft gegen Holz. Grün glasierte Schindeln knirschten unter ihren Pfoten, der Wind wisperte von bösen Geistern. Yumika spürte, wie ihr Herz beschleunigte, ihr Puls ließ das Schwert in ihrer Hand beben. Die gebrochenen Steinhunde beobachteten sie hochmütig, wie vom Krieg gezeichnete Veteranen, verächtlich gegenüber ihres jungen, ungestümen Mutes. Verächtlich rang sie ihre aufflammende Angst nieder und trat durch den leeren Türrahmen in die golden schimmernde Dunkelheit. Kasai folgte ihr, ein Schutzgebet nach dem anderen murmelnd.
Der Tempel war nicht groß, kaum sechs Schritte lang. Die Fensterläden aus Papier und dünnem Holz waren längst zerstört, ein Loch in der Decke gab den Blick frei auf die wogenden Baumwipfel. Vertrocknete Blätter fingen sich in den Ecken. Trümmer bedeckten die gesprungenen Fliesen, Gräser bohrten sich durch die Risse.
Inmitten eines Gewirrs von roten Schnüren, gefangen wie eine Fliege in einem Spinnennetz, stand eine Statue des König Schellen, auf allen vieren statt wie üblich auf die Hinterbeine erhoben, den Pferdekopf geradezu demütig gesenkt, doch das riesige Auge auf seiner Stirn dem Eingang zugewandt, als wollte er die Wahrheit über jeden Besucher erblicken, sobald diese den Tempel betraten. Schädel, echte und geschnitzte aus Halbedelsteinen und Holz, umringten zwischen vertrockneten Blumen und den Schalen für Opfergaben seine Fesseln.
Überall hingen Laternen, große und kleine, an den Schnüren, die man um seinen Körper geschlungen hatte und ihn mit dem Tempel verbanden, an seinen Ohren, dem verkrüppelten Flügel an seiner linken Schulter und um seinen Hals. Schwarze Farbe verunzierte das Auge und verwandelte das Symbol für Wahrheit und Frieden in das der Banshee, eine grob gezeichnete Laterne mit einer geschlitzten Pupille. Weitere breite Striche zeichneten grobe Rippen nach, zogen sich in okkulten Symbolen über seinen Hals und seine Beine. Etwas hing in der Luft, zwischen verhallendem Räucherwerk und Moder, ein Geschmack nach Rauch und schwerem, schwarzem Blut, von geschmeidigen Schatten und messerscharfen Klauen. Funken stoben wie Glühwürmchen durch die Finsternis, als lauerte die Banshee bereits dort.
Yumika nahm das Schwert in beide Hände und versuchte, ihr Schlucken nicht zu laut werden lassen. „Geister, zeigt euch!", verlangte sie. Nach der angespannten Stille schien selbst ihre Mädchenstimme wie ein Donnerschlag. Kasai zuckte ob des Geräuschs zusammen und spähte angespannt ins Zwielicht.
Doch nichts rührte sich. Einzig die Laternen schwankten im Wind und schickten die Schatten der beiden Kitsune zum Tanz über die Wände.
„Bei den Schellen des Königs, warum habe ich mich von dir überreden lassen, hier hinein zu gehen?", murmelte Kasai verzweifelt. „Wir sollten hier nicht sein. Lass uns zurück reiten, Yumi. Bevor jemand merkt, dass wir nicht nur auf dem Markt waren."
„Noch ein bisschen!", flehte Yumika, selbst wenn sie ihren Herzschlag bis in den Hals spürte. Dennoch war sie fast ein wenig enttäuscht. Sie hatte etwas Spannenderes von dem Tempel erwartet, als dass es einfach nur ein Schrein für den Tod war, der offenbar nicht länger im Schutz des Königs war, sondern ganz und gar der Banshee gehörte. Es war geradezu langweilig, und trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass sich ein wahres Grauen hier irgendwo verbarg. Was den heiligen Ort wieder schrecklich interessant machte. Sie sollte ihre Freunde hierher einladen, Törtchen essen und sich gegenseitig Spukgeschichten erzählen.
Fieberhaft suchte sie nach einem Grund, noch ein wenig zu bleiben, und wies auf die Statue des Königs. „Wir sollten ihn befreien."
Kasai seufzte gereizt. „Es ist..." Sie zögerte und blickte von dem König und dem Ausgang hin und her. Eines der Pferde wieherte. „Es ist nur eine Statue. Wir können wann anders hierher zurückkommen und ihn retten."
Doch Yumika trat bereits auf das Standbild zu, zwängte das Wakizashi unter die Schnüre und durchtrennte sie, stets vorsichtig, um den König nicht zu verletzen. Vielleicht konnte sie sogar etwas von hier mitnehmen, das sie ihren Freunden zeigen konnte. Einer der Schädel wäre perfekt. Doch zuerst musste sie den Einäugigen vor den Fesseln der Banshee retten. Sie erinnerte sich an ihre Lektionen in den Geschichten der Geister. Der König hatte die Banshee mit roten Schnüren und weißen Perlen in der Anderwelt gefesselt, sodass sie nie wieder eine Gefahr für die Lebenden Völker war. Jemand hatte nun wohl den Spieß umgedreht und den König mit seinen eigenen Waffen geschlagen.
Doch Yumika würde ihn nicht im Stich lassen. Sie und ihre Schwester waren vom Blut der Shiro, jener, die das Erbe des Königs in sich trugen! Sie selbst, mit den hellen Augen jener, in denen seine Kraft besonders stark war, und Kasai, die bereits mit zwei Schweifen auf die Welt gekommen war. Sie waren für Großes bestimmt. Der König Schellen würde in ihrem Mut erkennen, dass sie seines Erbes würdig waren.
Kasai wollte ihn ebenso in Freiheit sehen wie sie, das wusste sie. Es war nur nicht ihre Aufgabe. Sie würde eines Tages eine Kaiserin sein, und eine Kaiserin hatte für derlei ihre Soldaten. Wie Yumika. Mit einem leisen Reißen glitt der tadellos geschärfte Stahl ihres Wakizashis durch den Stoff. Das polierte Gestein der Statue war eisig unter Yumikas Fingern.
Die Schnüre ließen von der Statue ab, als hätten sie sich an ihr verbrannt. Krachend schlugen die Laternen an die Wand, die rußverschmierten Glasscheiben splitterten, Putz rieselte zu Boden. Kasai stieß einen spitzen Schrei aus und wirbelte in Kampfhaltung zu ihnen herum. Glut, Scherben und heller Staub bedeckten den Boden. Glimmende Kohlen griffen nach den Blüten zu den Füßen des Königs.
Yumika schlug die Hand vor den Mund und ließ verlegen das Messer sinken. „Oh." Vorsichtig trat sie die Flammen aus. Es stank nach Feuer.
Schlagartig war es dunkel geworden, als hätten die zerbrochenen Laternen auch das letzte Licht des Tages mit sich genommen. Das Geräusch von Eisen auf altem Gestein, dazu das Kreischen des brechenden Glases, hallten in Yumikas Ohren wider.
Kasai lachte freudlos auf, eine Mischung aus Angst und Fassungslosigkeit. „Ja, oh."
Nervös sahen sie sich um. Der Bambus draußen schien etwas zu flüstern, Worte in einer fremden Sprache, die man ihnen bei den Shinaru beigebracht hatte, doch nun klangen sie dunkler, finsterer, nicht nach denen eines Gottes. Sondern nach dem leisen Kichern einer Göttin, begleitet von tanzenden Funken, die Drohung eines Schreis, der den Tod brachte.
Wütend funkelte Kasai ihre kleinen Schwester an. „Was hast du dir dabei gedacht?", fauchte sie gedämpft. „Du hättest...", kurz rang sie nach Wörtern, „sonst etwas hierher rufen können! Jeder weiß nun, dass wir hier sind! Vielleicht finden uns die Wachen, und dann können wir ihnen schon wieder erklären, warum wir nach Sonnenuntergang außerhalb der Stadtmauern sind! Oder es finden uns die Banditen, und wir werden getötet oder Schlimmeres!"
„Es gibt keine Banditen um Hinan", murmelte Yumika bockig.
„Wie bitte?"
„Es tut mir leid", sagte sie lauter, doch nicht weniger missmutig.
„Das freut mich", schnaubte Kasai. Noch immer klang sie, als wartete unter ihrer Fassade aus leichter Angst die vollendete Panik, und einzig das Gefühl, auf ihre Schwester aufpassen zu müssen, hielte sie noch hier. Dabei musste sie das nicht. Yumika passte auf Kasai auf. Nicht umgekehrt.
Ein letztes Mal blickte Kasai in die Finsternis, die Hände zu Fäusten geballt, bereit, jeden zu verprügeln, der ihnen zu nahe kam. Sie war eine der besten Novizen beim Kai Zhandou. Einzig das Canto-Mädchen, fast sieben Jahre jünger als sie, kaum ein Jahr in der Wolkenkathedrale, konnte ihr das Wasser reichen. Die bösen Geister nicht, darauf hätte Yumika gewettet.
„Wir gehen jetzt, Yumika." Kasai wandte sich um und stapfte auf den Eingang des Tempels zu.
Yumika sah zu dem König auf. Beinahe flehend blickte er ihr entgegen, das riesige Auge schimmerte in den verbliebenen zwielichtigen Flammen, als wäre es lebendig, verunstaltet unter den schwarzen Zeichnungen. Hätte es geblinzelt, hätte es sie kaum gewundert. Nur noch eine Laterne hing um seinen Hals, groß wie ihr Brustkorb, mit weiteren, kleinen Laternen an den Ecken. Das Licht, das sie verströmte, war tieforange. Es brauchte nur einen Schnitt, und der König wäre frei.
„Yumika!"
„Ich komme", antwortete sie resigniert und trat auf den König zu.
Sie streckte sich, stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Laterne festzuhalten, damit sie nicht zerbrach wie die anderen. Warm wie ein lebendiges Wesen war sie, die Kohlen wisperten leise Beleidigungen. Yumika versuchte, sie sich zu merken.
Mit einem flinken Streich durchtrennte sie die Seile. Raschelnd fielen von dem Hals des steinernen Pferdes ab. Wie ein Stein sackte die Laterne in Yumikas Arme, sie taumelte rückwärts, und das Gebilde aus Eisen und Glas und Feuer entglitt ihr.
Scheppernd schlug es auf den Steinfliesen auf, glühende Kohlen und schwarz verschmierte Scherben flogen in alle Richtungen. Hastig sprang Yumika zurück und warf einen ängstlichen Blick zu ihrer Schwester.
„Yumika!", schrie Kasai. „Was, bei den elenden Schellen des Königs..."
Wind fuhr in die Bäume und ließ den Bambus rauschen wie die See. Klimpernd schlugen die Laternen in den Balken gegen die Wände, gegeneinander, quietschten in ihren Halterungen, selbst die Perlen klackten gegen das alte Holz. Die verwelkten Blütenblätter wehten Yumika entgegen wie ein Sturm aus alten Hautfetzen. Funken versengten ihr weißes Fell. Mutig packte sie das Schwert fester und ging in Angriffshaltung.
Die Reste der Kohlen entfachten die Blütenblätter zu einem Wirbel aus Funken und brennenden, duftenden Blumen. Der Wind wurde warm wie eine Sommerbrise, wurde heißer und heißer, riss an Yumikas Kleidung und ließ ihren Schweif flattern.
Ein letztes Mal tanzten die glühenden Blüten um sie, dann zogen sie sich zu der Ruine der Laterne zurück, zögerlich, als tasteten die fliegende Glut an ihr wie Finger. Sie meinte, die Berührungen direkt an ihrem Körper zu spüren, verlangend und grob. Abscheu wallte in ihr auf, ihr Fell sträubte sich, und sie schlug mit dem Schwert nach ihnen. „Lass mich!"
Mit einem heiseren Fauchen bäumte sich eine Gestalt aus den Trümmern der Laterne auf, ein Körper aus Kohlen, die sich in glimmendes Fell verwandelten. Eiserne Scherben und Laternen schwebten um ihn und bildeten eine Rüstung. Glimmende Blütenblätter schwärmten dazwischen. Eine eiserne Kitsune-Maske bedeckte sein Gesicht, Flammen stoben aus den Augenlöchern, gebogene Hörner sprossen aus seiner Stirn. Zwei seiner Zähne, aus dem gleichen dunklen Metall, wuchsen wie Hauer aus seinen Lefzen, lang wie Yumikas Unterarm. Seine langen Finger endeten in Klauen. Langsam materialisierten sich Klingen aus flirrenden Eisenscherben in seinen Händen, ein Katana und ein passendes Wakizashi, größer als Yumika selbst. Feuer tanzte auf ihnen. Seine Schweife waren aus Glut, gesäumt von unzähligen kleinen Eisensplittern. Er grollte dunkel und verneigte sich tief vor Yumika, die Arme wie zur Einladung von sich gestreckt.
Yumikas Herz raste, das Wakizashi in ihrer Hand schien plötzlich zu schwer für sie. Sie kannte diese Haltung. Bei Feinden ihres Vaters hatte sie sie gesehen, Sekunden, bevor er sie in Grund und Boden focht, bei jenen Lehrern der Shinaru, die Humor besaßen, und die Bewegung nur als Scherz nutzten, solange keiner der Meister sie sah. Es war eine Herausforderung, ein Kampf auf Leben und Tod, und Schande für jenen, der verlor. Seppuku war die Strafe des Verlierers. Das eigene Schwert gegen sich richten.
Ein solches Duell war nichts für Kinder. Ihr Vater hatte es ihr ebenso eingebläut wie ihre Lehrer. Sie war noch lange entfernt von dem Moment, in dem sie sich mit einem Krieger messen konnte, von einem Oni ganz zu schweigen, einem, der geboren war aus dem Eisen und Feuer jener Laternen, die der Banshee gehörten. Keine zwölf Jahre alt war sie, nur ein kleines Mädchen, seit kaum vier Jahren bei den Shinaru. Wenn sie kämpfte, würde sie sterben. Wenn nicht durch seine Hand, dann durch ihre eigene Klinge.
Der Oni raunte ungeduldig, ohne sich aus seiner Haltung zu lösen. Yumikas Gedanken tobten wie der Wind zuvor, wanden sich übereinander, den Schnüren im Tempel gleich. Sie könnte einfach gehen, davonrennen, zu ihrer Schwester, und zurück in die Stadt reiten. Sie hatten einen geheimen Eingang zum Anwesen und Freunde bei den Stadtwachen. Bevor ihre Mutter sie zum Abendmahl rief, wären sie wieder im Palast. Langsam machte sie einen Schritt rückwärts, das Schwert bereit, ohne den Dämon aus den Augen zu lassen.
Der Geist fletschte spöttisch die Zähne und wandte sich ab. Wenn sie floh, war die Schande ihr gewiss, verstand sie plötzlich. Und sie wusste nicht, ob sie den Mut hatte, sich selbst zu töten. Sie würde fliehen müssen, allein, nicht einmal die Shinaru würden sie wieder aufnehmen. Kasai würde mit ihrer Schuld leben müssen.
Sie war vom Blute des König Schellen. Er war stets bei ihr und würde sie schützen, bei jeder Schlacht, die sie schlagen würde, und zuallererst bei dem Kampf gegen diesen verdammten Dämon.
Yumika verengte die Augen, bannte die Furcht aus ihrem Herzen und knurrte dem Oni entgegen. Gegen sein tiefes Grollen klang es kaum einschüchternd, doch sie machte sich so groß, wie sie konnte, und hob die Hände zur rituellen Antwort, im gleichen Moment, als sie eine Berührung an ihrer Schulter spürte.
Kasai hatte eine Hand hoch erhoben. Ein goldenes Glöckchen an einem Lederband klemmte darin, das Licht der Flammen fing sich in dem angelaufenen Messing. „Feuer der Drachenlaternen, König der dunklen Flammen, Der Du Den Tod brennst!", schrie sie dem Biest entgegen, laut und klar, doch Yumika hörte dennoch das leichte Zittern in ihrer Stimme. „Deraitan!"
Der Oni erschauderte, als sie den Namen sprach, und kauerte sich tiefer zusammen. Sein Knurren klang wie Donner.
Sie zischte ein Wort in einer fremden Sprache, das Glöckchen blitzte golden auf, und Deraitan zuckte fauchend zurück. „Weiche zurück! Lass uns ziehen unserer Wege! Der König Schellen ist mit uns!"
Deraitan hob langsam das Katana, die Spitze auf die Schwestern gerichtet. Mit einem funkenstiebenden Ruck legte er die Hand mit dem Wakizashi quer an seine Schulter, eine wortlose Herausforderung. Seine Lefzen hoben sich zu einem finsteren Grinsen. Eisen schabte über Eisen. Yumika spürte das Geräusch bis in ihre Eingeweide, und es ließ ihr Fell sträuben.
„Was, bei den verdammten Schellen des Königs, hast du getan?", wisperte Kasai voller Angst.
Yumika hielt ihr Schwert bereit. Jeden Herzschlag spürte sie bis in die Fingerspitzen, in jedes einzelne ihrer Haare, in ihrem Hals, und ihr wurde übel davon. „Ich weiß es nicht", antwortete sie verzagt.
Kasai bleckte die Zähne, eine Grimasse aus Angst und Wut. „Ich werde ihn bannen. Halte ihn beschäftigt", raunte sie, als wäre der Oni ein gewöhnlicher Kitsune und nicht der Erzdämon, dem das Feuer der Laternen der Banshee untertan war.
Yumika wusste, dass Bannmagie schwer war. Eine alte Kunst, die Willenskraft und Opfer forderte. Die Shinaru unterwiesen ihre Novizen erst in den späten Jahren ihrer Ausbildung darin, und davon war auch Kasai noch weit entfernt. Doch sie vertraute ihrer Schwester. Sie würden es schaffen. Flink drückte sie Kasais Hand, warf ihr einen kämpferischen Blick zu, und sprang vor.
Knirschend schrammte ihr Wakizashi über die Eisenplättchen, schwarze Splitter und Funken stoben. Der Oni fauchte beinahe überrascht, doch wich nicht zurück. Schwarze Schmiere, wie rußiges Blut, befleckte ihre Klinge. Sie tänzelte rückwärts, stets darauf bedacht, zwischen ihm und Kasai zu stehen, die Worte in einer fremden Sprache intonierte, und hob ihr Schwert erneut.
Deraitans Augen flammten auf. Mit einem rauen Heulen schwang er das Katana, ein Schweif aus Scherben und Funken folgte der Klinge. Yumika warf sich dem Hieb entgegen, klirrend schlugen die Waffen aufeinander, so heftig, dass ihre Hand beinahe taub wurde. Der Oni knurrte beifällig. Sie taumelte, fing sich, duckte sich unter dem Hieb seines Wakizashis weg und zog ihr eigenes über seinen Oberschenkel. Dunkle Schmiere sprühte und sprühte heiß auf ihr Fell.
Seine Pranke traf sie mitten auf der Brust. Der Tritt schleuderte sie gegen die Wand. Jegliche Luft wich aus ihren Lungen, und sie schnappte nach Luft. Ihr war, als säße der Oni selbst auf ihren Rippen. Schwärze und Funken tanzten vor ihren Augen. In ihren Ohren klingelte es. Sie blinzelte heftig, und ihre Sicht klärte sich. Deraitan war eine Bestie aus Schatten und Glut. Irgendwo kreischte Kasai ihren Namen, eine weiße Gestalt huschte in ihren Augenwinkeln auf sie zu, doch Deraitan stieß sie beiläufig von sich.
Er spielte nur mit ihr, erkannte Yumika. Allein, dass er ihr zwei Treffer erlaubt hatte, war zu unwahrscheinlich, als dass er es nicht gewollt hatte. Sobald sie ihm zu langweilig wurden, würde er sie und ihre Schwester töten.
Doch das Schwert war noch immer in ihrer Hand. Sie war vom Blut des König Schellen. Niemals würde sie kampflos untergehen.
Wie ein flammender Meteor schoss das Katana des Oni nieder. Hastig riss Yumika ihre Klinge über sich. Funkensprühend traf Eisen auf Stahl. Ihr Arm knickte unter der Wucht ein, der Rücken des Wakizashis traf schmerzhaft auf ihrer Brust auf. Zwei Fingerbreit Metall trennten ihr Fleisch von dem Schwert des Dämons. Sie spürte einen Schnitt in ihrem Gesicht, dicht neben ihrem Auge, dort, wo die Spitze sie getroffen hatte, doch er war nicht tief.
Deraitan lehnte sich auf sein Katana, der Druck auf ihrer Brust nahm zu. Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen ihn. Innerlich flehte sie den König an, er möge ihr die Kraft geben, sich zu befreien, doch nichts geschah. Sie war nur ein Kind, dem Dämon ausgeliefert.
Dicht brachte er seine Schnauze vor ihre, die eisernen Zähne gebleckt, sein heißer Atem roch nach verbrannten Kohlen, nach der Gluthitze eines Schmelzofens. Yumika blickte ihm furchtlos entgegen und spuckte ihm ins Gesicht.
„Deraitan!"
Das Wort schwappte mit der Macht eines Gottes durch den Tempel, eine laue Brise in der Hitze der Banshee-Laternen. Deraitan neigte den Kopf zu seinem Namen, die Lefzen zu einem tödlichen Knurren verzerrt. Kasai stand neben der Statue des Königs, eine Hand um das Glöckchen um ihren Hals gekrallt, das andere auf seiner steinernen Schulter. Die nächsten Silben aus ihrem Mund klangen verboten dunkel.
Der Oni schüttelte sich, als wollte er die Worte von sich werfen. Kleine Eisensplitter lösten sich von ihm und tanzten wie Funken davon. Nachlässig schwang er das Katana in ihre Richtung, wirbelte einen Sturm aus Eisen und Feuer in ihre Richtung, doch Kasai verstummte nicht, obwohl unzählige Wunden auf ihrem Fell erblühten wie Rosen im Schnee.
Deraitan heulte voller Zorn und Schmerz auf, die Worte schienen ihn mehr zu quälen als die kümmerlichen Wunden, die Yumika geschlagen hatte. Für einen kurzen Moment wich sein Gewicht von ihr. Flink rollte Yumika sich zur Seite, riss das Wakizashi an sich und stach zu.
Mit einem einzigen Hieb schleuderte er ihre Waffe fort, noch bevor es sein Fleisch berühren konnte, und schlitzte ihr den Körper von der Hüfte bis zum Kinn auf, ein tiefer, hässlicher Schnitt. Klirrend landete das Wakizashi irgendwo auf den Steinfliesen.
Deraitans Kurzschwert schoss nieder und nagelte ihre linke Hand an den Boden. Der Schmerz flammte auf wie die zerberstenden Laternen zuvor. Yumika schrie, die Klinge war zugleich eisig und heiß in an ihrem Fleisch. Eisen und Feuer brannten in ihren Adern. Tränen vernebelten ihre Sicht, doch sie blinzelte sie fort. Es tat weh, mehr, als ein gewöhnlicher Stich es sollte, so entsetzlich, und der Fetzen ihres Bewusstseins, der noch nicht von dem Schmerz verzehrt worden war, suchte voller Zorn nach einem letzten Weg, um den Oni zu besiegen, um ihre Schwester zu retten. Sie bäumte sich auf und schlug nach ihm, doch die Glut versengte ihr nur das Fell.
Sein Knurren klang nach einem verächtlichen Lachen. Langsam, beinahe genüsslich, hob er das Katana zum vernichtenden Schlag.
Wie aus weiter Ferne brüllte Kasai ihren Namen. Ihr Hass und ihre Verzweiflung brachen durch den Raum wie eine Welle, noch dunkler und grausamer als der Dämon selbst, als sie die Litanei fortführte. „Ich binde dich mit Worten. Ich binde dich mit der Macht des König Schellen." Sie spie sie dem Oni entgegen, als verfluchte sie ihn aus tiefstem Herzen. Ohne den Blick von ihm zu wenden, stieß sie die Hand mit dem Glöckchen darin vor und schrie die letzten Worte des Bannens. „Ich binde dich mit Blut!"
Deraitan erzitterte, geriet ins Taumeln, als hätte sie ihn mit einem gewaltigen Schlag getroffen. Er rammte das Katana in den Boden, dicht neben Yumikas Schulter, und wollte sich auf Kasai stürzen, doch die göttliche Magie zwang in in die Knie. Voller Hass brüllte er ihr entgegen, doch sie hielt seinem Blick stand. Blut triefte von seinen Zähnen, rann über seine Lefzen und versickerte zischend in Yumikas Wunden.
Erneut versuchte er, sich an seinem Schwert emporzuziehen, und die Macht des König Schellen schien jede Kraft aus seinem Körper zu reißen. Wind peitschte auf, warm wie eine Sommerbrise, der Atem eines Gottes, und riss Eisenscherben mit sich. Schwarzes Fell blieb schutzlos zurück, die Funken darin erlöschend. Kreischend bäumte Deraitan sich auf, ein Schrei voll Zorn und Leid, riss sein Wakizashi aus Yumikas Hand und rammte es sich in den Bauch.
Für einen Moment wurde der Wind schneidend heiß, der letzte Todesseufzer eines Dämons. Schwarzes Blut brach aus seiner Wunde, rann über die Fliesen, dorthin, wo das Messer zuvor gesteckt hatte. Yumikas Hand.
Dunkelheit kroch durch Yumikas Adern, brennend wie Säure. Schluchzend wollte sie ihre Hand an sich ziehen, doch Deraitans Klauen schlossen sich um ihr Gelenk und zwangen es zu Boden. Seine Lefzen verzogen sich zu einem finsteren Grinsen, die Eisenzähne schimmerten stumpf im Schein der Laternen.
Der Schmerz wurde schier unermesslich. Dämonenblut peitschte durch ihren Körper. Yumika wand sich unter seinem Griff, streckte den Rücken durch und schrie, schrie, bis ihre Stimme brach und ihre Kehle sich anfühlte, als wäre sie mit Ruß bedeckt.
Schließlich erschlaffte sie, unfähig, sich zu rühren. Das Gewicht wich von ihrem Handgelenk. Es war, als hätte der Oni jegliche Kraft mit sich genommen. Sie spürte unzählige heiße Eisenbrocken um sich, auf ihr, neben ihr. Die Fliesen unter ihrem Körper waren plötzlich weich und angenehm wie das Bett in ihrem Gemach im Palast. Bei den Schellen, zuhause. Sie wollte nur noch nach hause. Tränen rannen unter ihren Lidern hervor. Jedes Schluchzen fühlte sich an, als würde es sie zerreißen.
„Yumi!" Kasai stürzte zu ihr. „Yumika! Geht es dir gut? Oh, verdammt!" Sie fauchte gequält und strich ihr übers Gesicht. „Wach auf!"
Yumikas Lider flatterten. Sie erhaschte einen Blick auf Kasais besorgte Miene und versuchte mit aller Kraft, ihre Augen offen zu halten. Funken tanzten um ihre Schwester, und für einen Moment sah sie sie, die wenigen verbliebenen Laternen und die Decke des Tempels dunkler, als wären die Schatten aus rußgeschwärztem Eisen, verflossen mit tief orangefarbenem Licht, als sähe sie die Welt durch eine Glasscheibe aus Finsternis und Feuer.
Kasai riss die Augen auf. „Yumika?", fragte sie ängstlich.
„Kas", murmelte Yumika müde und blinzelte. Ihre Sicht war wieder wie gewöhnlich. „Ich bin hier."
„Deine Augen. Sie sahen aus wie seine." Entsetzt blickte Kasai auf ihre Schwester herab. Tränen rannen über ihre Wangen. „Beim König und der Banshee", flüsterte sie voller Grauen und hob Yumikas Hand, die Finger mit ihren verschlungen.
Dort, wo das Wakizashi des Oni gesteckt hatte, prangte das Zeichen der Banshee auf ihrem Handrücken, glühend wie die Glut in Deraitans Fell. Einmal flammte es schmerzhaft auf, dann verblasste es, ein schwarzes Mal auf ihrem schmutzigen weißen Pelz.
„Was habe ich getan?", schluchzte Kasai.
Yumika spürte das Knurren Deraitans in ihrem Nacken, eine Dunkelheit unter ihrer Haut, meinte, die Kälte und zugleich sengende Hitze der Eisenscherben zu fühlen, überall an ihrem Körper. Ihre Lefzen zuckten, das Grinsen eines Onis. Lange Hauer wölbten sich unter ihnen und doch waren sie nicht dort, als sie mit der Zunge danach tastete. Wie geschmolzenes Metall kroch das Blut des Dämons durch ihre Adern und ließ sie innerlich unter seinem schwärenden Zorn erzittern.
„Was habe ich getan?", flüsterte Kasai erneut.
Angst wallte in ihr auf, doch der klebrigen Sumpf aus Schmerzen und Erschöpfung war stärker. „Kasai...", hauchte sie.
Dann siegte ihre Müdigkeit. Das Raunen des Dämons sang sie in den Schlaf.
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Ich stelle vor: meinen nunmehr sechsten RPG-Charakter Yumika Shiro! Sieben Jahre, nachdem Deraitan in ihren Köprer fuhr, schließt sie sich ihrer Cousine an auf einer Quest um Macht und Ehre. Ihr Draufgängertum hat sie auch dann noch nicht verloren.
Wie ihr sehen könnt, wurde dieses Buch nett aufpoliert - neues Cover, neuer Titel, neuer Klappentext, denn fortan wird es hier nicht mehr nur um Neshira gehen, sondern auch um all die anderen verstreuten Geschichten in den Zerschlagenen Welten, die bald nach und nach hier auftauchen werden.
Außerdem: ich bin noch immer wild am Schreiben und Plotten für das erste Abenteuer des Lucifuge Osfeira, dessen erstes Kapitel wahrscheinlich im Frühsommer irgendwo hier erscheint. Aber bis dahin ist es noch ein gutes Stückchen Zeit.
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