Süße Welt
Die Budike bestand zum Großteil aus vielen kleinen Straßen und Gassen, welche alle den Brunnenplatz als Zentrum hatten und dennoch hätte man sich leicht verlaufen können. So auch Daniel. Der Halbgott blieb immer mal wieder stehen und begutachtete die verschiedenen Auslagen an den Ständen und Geschäften. Er war fasziniert, wie eine Gesellschaft ohne die Mitwirkung der Konzerne so lange überleben konnte und anscheinend mitten in ihrer Blüte stand. Die Budike war aus der Not heraus geboren worden und was die Leute letztlich daraus gemacht hatten, war erstaunlich. So erstaunlich, dass Daniel den Anschluss verlor und sich schließlich allein auf weiter Flur wiederfand. Schnell schlug seine Faszination in Angst um. Er kannte die Gegend nicht und wer sagte ihm, dass die Leute immer so freundlich waren wie Milli.
Er wanderte durch die Gassen und hielt dabei Ausschau nach Annika. Er wagte es nicht, seine Stimme zu erheben. Mehr noch, als er in die dunkleren Gefilde der kleinen Stadt zu kommen schien. Doch kaum das er sich umdrehte, wirkte nichts mehr vertraut und ihm blieb keine andere Wahl als weiter voran zu gehen.
Die Schatten schienen sich zu verdichten und er fühlte sich gehetzt. Sein Schritt, wie sein Herzschlag, beschleunigten sich und sein Blick wurde immer panischer. Er wurde verfolgt. Oder bildete er sich das ein? Dennoch war sein Fluchtinstinkt so stark, dass er anfing zu laufen und klopfte beim nächsten Haus aus dem Licht drang.
Zu seiner Erleichterung war die Tür nicht verschlossen und er schlüpfte schnell hinein und schloss sie hinter sich ab. Er hatte den Türknauf so fest in seiner Hand, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Sein Blick war darauf gerichtet und er erwartete jeden Moment, dass jemand auf der anderen Seite versuchte den Knauf zu drehen.
Es kam Daniel vor wie eine Ewigkeit, bis er endlich los ließ. Er trat zwei Schritte zurück und begann sich langsam umzudrehen, ohne dabei jedoch die Tür, so lange es ging, aus den Augen zu lassen.
Erst als er sich vollends umgedreht hatte, bemerkte er seine Umgebung. Vitrinen, Etageren und kleine Stände voller süßer Kostbarkeiten. Schokoladen, Pralinen und Konfekte so weit das Auge reichte. Einige elegant und gradlinig, während andere verspielt und voller Schnörkel waren. Dennoch zeigte jede einzelne von ihnen eine Kunstfertigkeit, die Daniel bisher nur von den Konzernen her kannte.
Erst jetzt wurde er sich bewusst, dass er Musik hörte und wie jemand dazu mit sang. Auf leisen Sohlen schlich er hinter die Verkaufstheke und auf eine kleine Flügeltür zu. Er schaute über den Rand der Tür und sah wie ein junger Mann mit zwei Spachteln eine braune Flüssigkeit immer wieder, auf einer großen Oberfläche hin und her wischte. Je mehr er wischte, strich und zog, desto geschmeidiger wurde die flüssige Schokolade. Ihre Oberfläche wirkte jetzt schon wie fließende Seide und Daniel war wie hypnotisiert von dem Schauspiel. Der junge Mann, er mochte im gleichen Alter wie Daniel sein, schabte schließlich die ganze Schokolade zusammen und ließ sie in eine Schlüssel fließen. Er achtete peinlich genau darauf, nicht das kleinste bisschen übrig zu lassen und strich sogar die Spachtel sorgfältig ab. Dann zog er drei Formen heran und goss die Flüssigkeit geschickt in die kleinen Würfel. Die Schokolade reichte punktgenau, um die Formen gleichmäßig zu füllen. Noch immer singend, drehte er sich kurz um, stellte die Schüssel in die Spüle und wandte sich danach wieder den Formen zu. Er schüttelte die Formen ein wenig, damit die Schokolade eine gleichmäßige Oberfläche bekam und wischte sich dann seine Finger an seiner Schürze ab.
Erst jetzt schien er aus seiner Trance ausgebrochen zu sein, da sich sein Blick auf die Flügeltür richtete.
„Willkommen in der 'Süßen Welt'. Ich werde gleich bei Ihnen sein. Solange möchte ich Sie bitten, im Laden auf mich zu warten.", sprach er mit einer Stimme, welche gerade dabei war sich zu entwickeln und dennoch einen Ton besaß, welchen Daniel mit Honig und Silber verglich. Sanft und fließend, aber auch rein und klar. Es war eine Stimme, die ihm eine Gänsehaut schenkte.
Lediglich nickend, trat er zurück und fand sich an der Theke ein. Geduldig wartend, hörte er wie die Flügeltüren leise quietschend geöffnet wurden und Schritte sich nährten. Kurz darauf, kam der junge Chocolatier zum Vorschein und stellte sich an die Kasse. Seine Bewegungen wirkten wie eine Mischung aus Routine und Einstudiert.
Er schenkte Daniel ein professionelles Lächeln und fragte, „Was kann ich für Sie tun?"
Der Chocolatier war etwa einen halben Kopf größer als Daniel und er erkannte unter der Schürze und dem Shirt einen definierten Körperbau, welchen er wohl durch sein Handwerk bekommen hatte. Er hatte ein ovales Gesicht, mit einer sanft gebogenen Nase und schmalen Lippen. Erst jetzt konnte Daniel erkennen, dass er verschieden farbige Augen hatte. Während sein rechtes eine hellblaue Farbe hatte, war das andere ein sanftes Braun. Er war sich gar nicht bewusst, das er den jungen Mann in Grund und Boden starrte. Erst als dieser sich räusperte, schnappte er zurück in die Realität und blinzelte ein paar Mal.
Das Lächeln des Chocolatiers war ein wenig verlegen und ehrlicher geworden, als er erneut fragte, „Wie kann ich Ihnen also behilflich sein?"
„Ich, äh, also...", Daniel räusperte sich nun seinerseits und fing erneut an. „Ich habe mich verlaufen, um ehrlich zu sein. Und dein... Ihr Geschäft schien mir ein guter Ort zu sein, an dem ich nach dem Weg fragen könnte." Den Umstand, dass er panische Angst gehabt hatte, ließ der Halbgott großzügig unter den Tisch fallen.
„Ich verstehe. Wohin wollten Sie denn?" Irgendwie fühlte sich Daniel merkwürdig, wenn er gesiezt wurde, ließ es aber über sich ergehen. Höflichkeit und Respekt waren sehr wichtig, dass hatte seine Mutter ihm immer wieder gesagt.
Er erzählte dem jungen Mann von dem kleinen Stadtbummel und das dieser an sich, kein bestimmtes Ziel hatte. Es jedoch gut wäre, wenn er wieder zurück zu Bernhard Rubinstein finden würde, damit seine Begleitung sich keine allzu schlimmen Sorgen machen müsste.
Der Chocolatier nickte, verschränkte locker seine Arme und tippte sich ans Kinn.
„Ich verstehe. Zu Ihrem großen Glück, habe ich heute sowieso noch eine Lieferung zu Bernie. Sie können gerne mitkommen, wenn es Ihre Zeit erlaubt.", bot er Daniel und dieser nickte etwas zu eifrig. Mehr Zeit mit dem Chocolatier zu verbringen klang hervorragend.
Er reichte ihm die Hand und sagte, „Ich bin Sebastian Schneider. Basti für meine Freunde."
„Daniel Alexander Backhaus. Daniel, reicht aber völlig." Er ergriff seine Hand und schüttelte sie. Sie waren noch immer etwas schwielig und sehr warm von der Arbeit mit den Spachteln. Nur widerwillig löste sich Daniel von dieser Hand und bemerkte an seiner sofort den Geruch von Schokolade.
„Entschuldige bitte. Ich habe mir nicht Hände gewaschen.", kam es von Sebastian mit einem schiefen Lächeln.
„Alles gut.", erwiderte Daniel nur. Er hätte niemals zugegeben, dass er das ganz angenehm fand und sich innerlich fragte, wo dieser Junge noch überall, nach Schokolade roch. Er schloss für einen Moment die Augen, um sich zu besinnen. Solche Gedanken, waren hier völlig fehl am platz. Oder?
„Ich muss die Lieferung erst noch fertig machen. Kann ich dir in der Zwischenzeit etwas anbieten? Kaffee und einige Pralinen?"
„Vielen Dank." Daniels Gesicht verzog sich zu einem strahlenden Lächeln, welches Sebastian leise kichern ließ. Er führte den Halbgott durch die Flügeltür, zurück in die Küche und setzte den Kaffee auf. Währenddessen kramte er einen Teller aus einem der Schränke und ging dann an die Kühlkammer, um für seinen Gast eine passende Komposition zusammenzustellen. Nachdem er sich entschieden hatte, kehrte er wieder zurück und stellte den Teller auf die Kaffeemaschine, damit die Schokolade etwas Wärme bekam. Während der ganzen Zeit, sprach er nicht ein Wort, sondern war völlig darauf fokussiert, den genauen Punkt abzupassen, an dem die Pralinen warm genug waren, damit die Aromen sich völlig entfalten konnten. Er nahm den Teller von der Kaffeemaschine und stellte diesen vor Daniel hin, dann griff er nach der Kanne und schenkte sich und seinem Gast eine Tasse voll ein.
Daniel bedankte sich und bevor er zu griff, wurde er von Sebastian gestoppt.
„Nimm die zuerst.", sagte er nur und Daniel steckte sich die erste der drei Pralinen in den Mund. Sebastian beobachtete ihn, während der Halbgott lutschte und kaute und wartete auf eine Reaktion.
Daniel bekam große Augen, als sich eine unvermittelte, aber nicht unangenehme Schärfe in seinem Mund ausbreitete.
„Scharf." Unter dem Schokoladenmantel verbargen sich kleine Pfefferkörner, welche der Praline Knack und Schärfe gaben und eine besondere Komposition bildeten.
Sebastian deutete auf die nächste Praline, welche ein Wellenmuster aus weißer Schokolade hatte und sagte, „Versuch die als nächstes."
Schon verschwand die nächste Praline und wieder wurde der junge Mann überrascht. Unter dem glatten süßen Mantel verbarg sich ein Kern aus Marzipan und Pistaziencreme. Doch waren hinter diesen Aromen noch etwas. Etwas, dass er nicht ganz ausmachen konnte.
„Abgesehen von Marzipan und Pistazie... was ist da noch drin?", fragte Daniel, während er das Konfekt immer wieder von einer in die andere Wange schob.
Sebastian erwiderte lächelnd,„Zitronenabrieb. Um die insgesamte Süße nicht so wuchtig werden zulassen."
Daniel trank einen Schluck Kaffee und ließ die Bitternis, sich mit der Süße verbinden. Dann griff er nach der letzten Praline.
In dieser befand sich eine Vanillecreme mit einem Hauch Eierlikör. Die Aromen der Schokolade verstärkten die der Creme und umgekehrt und so entstand ein Wirbel der Süße und des Wohlgeschmacks.
Sebastian stellte seine leere Tasse in die Spüle und fragte, „Wie haben sie geschmeckt?"
„Hervorragend! ... Ich meine, hervorragend." Er versuchte seine roten Wangen hinter der Tasse zu verbergen und trank einen weiteren Schluck.
Sebastian lachte und sagte dann, „Freut mich. Ich habe versucht, in diesen Pralinen das Gefühl der Liebe einzufangen. Feurige Leidenschaft, erfrischende Erfülltheit und die unbeschwerte Leichtigkeit."
„Die hast du gemacht?" Der Unglaube war deutlich in seiner Stimme zu hören. Basti nickte und sagte, „Alles was du hier siehst, habe ich selber gemacht. Seit ich denken kann, habe ich meiner Mutter dabei geholfen Schokolade zu machen. Und als sie... ich habe den Laden dann übernommen und führe ihr Arbeit weiter."
Noch einmal musterte Daniel Sebastian und fragte dann, „Wie alt bist du? Wenn ich fragen darf?"
„Ich bin gerade 17 geworden. Habe also 14 Jahre Erfahrung in diesem Beruf.", erwiderte er fröhlich und räumte dabei das Geschirr von Daniel in die Spüle.
„Wow." Mehr konnte er nicht sagen.
„Danke. Ich habe das Beste aus dem gemacht, was ich weiß." Sebastian verschwand hinter einer Tür und nach knapp fünf Minuten kehrte er mit einem kleinen Karton zurück.
„Das hier ist die erwähnte Lieferung. Wenn du soweit bist, können wir gerne los." Daniel nickte und gemeinsam verließen sie den Laden.
Ihre Gespräche während des Weges waren leicht und hatten als Hauptthema, die verschiedenen Komposition, die Sebastian schon gemacht hat und welche er gerne noch machen wollte.
Erstaunlicherweise war sein Laden gar nicht so weit vom Brunnenplatz entfernt und ein kurzer Fußmarsch nach Westen, schon standen sie vor Bernies Laden.
Sie traten ein und sogleich wurde Daniel von einer besorgten Annika gescholten, was er sich denn dabei gedacht hatte, einfach so abzuhauen. Sie konnte ihren Neid nur schwer verbergen, als sie feststellte, dass Daniel in den Genuss von Schneiders Schokolade gekommen war.
„Hast du mir wenigsten was mitgebracht?", fragte sie ihn und durchleuchtete ihn förmlich mit ihren Augen.
„Tut mir leid. Leider nicht.", kam es entschuldigend von Daniel.
„Mic? Sagt er die Wahrheit?" Das Skelett erschien in ihrer Mitte und mit flammenden Augen betrachtete er den Jungen.
Er streckte seine Hand aus und tippte gegen Daniels Stirn. Dann kicherte er nur leise und schüttelte den Kopf. „Hat nichts dabei."
„Verdammt. Basti? Ich komm später nochmal vorbei.", verkündete die junge Frau mit gieriger Inbrunst.
„Tun Sie das. Ich würde mich sehr über Ihren Besuch freuen.", erwiderte der Chocolatier und nahm das Geld von Bernie entgegen. Als er alles erledigt hatte und sich zum gehen umwandte, drehte er seinen Kopf in Daniels Richtung und sprach, „Ich würde mich über einen Besuch von dir ebenfalls sehr freuen."Er schenkte dem Halbgott ein sanftes Lächeln und verschwand dann.
Zum Glück war das im allgemeinen Trubel von Anni und Mic untergegangen und lediglich Kaldr stupste Daniel an und sah ihm in die Augen. Dem Wolf war nicht entgangen, was sich hier anzubahnen schien.
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