39 | Harmonie

Sie haben es sich verdient, finde ich.

Ich fiel erleichtert auf einen der Holzstühle in der Küche von Raphaels Großeltern. Als wir im Krankenhaus angekommen waren, hatte seine Großmutter bereits auf uns gewartet. Raphaels Großvater ging es den Umständen entsprechend gut. Er hatte einfach nur zu wenig getrunken und daraufhin einen kleinen Schwächeanfall erlitten. Die Ärzte wollten ihn noch eine Nacht zur Beobachtung dortbehalten. Er hatte versucht, dagegen zu protestieren, doch Raphael und seine Mutter hatten sich durchgesetzt.

Da Raphael noch keinen Rückflug gebucht hatte, übernachteten wir heute bei seiner Großmutter, die ich – wie er – Nonna nennen sollte. Nonna hatte mich – wie Raphaels Mutter auch – mit offenen Armen empfangen und mich für eine ganze Weile vergessen lassen, dass ich Raphael noch etwas sagen wollte.

Doch es hatte sich bis jetzt einfach nicht ergeben, da der Zustand seines Großvaters meiner Meinung nach wichtiger gewesen war, und ich wusste, dass er sich wahnsinnig aufregen würde.

Ich hatte mich den gesamten gestrigen Tag vor Raphael versteckt, um erst einmal selbst mit diesem nächsten Schlag ins Gesicht klarzukommen. Momentan war das, was um mich herum passierte, einfach sehr viel.

Ich ließ meinen Blick kurz durch die kleine, altmodische Küche schweifen. An den kleinen, doppelseitigen Fenstern hingen alte Gardinen, in einer Nische stand die kleine Küchenzeile. Um einen eckigen Tisch aus Holz herum standen zwei Stühle und eine alte, an die Wand gestellte Eckbank. Auf der gegenüberliegenden Seite stand eine hohe Kommode mit einer Vase frischer Blumen, und ein schmaler, weißer Kühlschrank. Alle Möbel waren bereits in die Jahre gekommen, doch sie schafften ein uriges Ambiente und ich fühlte mich hier sehr wohl.

„Vi va di mangiare qualcosa?", fragte Nonna und schaute fragend durch die Gläser ihrer rechteckigen Brille in die Runde. Ihre Augen waren so braun wie die von Raphael und strahlten eine herzliche Wärme aus. Ich hatte sie vom ersten Augenblick an gemocht. Sie sah noch gar nicht so alt aus, wie sie eigentlich war, und ich hatte mir fest vorgenommen, sie eines Tages nach ihrem Jungbrunnen zu fragen. Da sie jedoch kaum deutsch sprach, gestalteten sich unsere Unterhaltungen bisher schwierig. Ich warf Raphael einen unbeholfenen Blick zu, als die dunklen Augen seiner Großmutter mich aufmerksam musterten.

„Sie fragt, ob wir was essen möchten", übersetzte er lächelnd.

„Tut mir leid, mein Italienisch ist nicht besonders gut", gestand ich.

Es war mir wirklich irgendwie unangenehm, weil ich mich mit Nonna kaum unterhalten konnte. Raphael grinste, bevor er sich an seine Großmutter wandte.

„Sí, Nonna. Molto volentieri", sagte er, bevor er mir zuraunte: „Du musst ihre Bolognese probieren, sonst verpasst du was."

Nur kurz darauf saßen wir alle gemeinsam am Esstisch und aßen. Mein Freund hatte nicht zu viel versprochen. Die Spaghetti Bolognese seiner Großmutter schmeckten wirklich lecker, auch, wenn ich nicht besonders viel Appetit hatte. Leider verstand ich nicht viel vom Rest der Unterhaltung, obwohl Raphael und Sylvia, seine Mutter, versuchten, mich mit einzubinden. Irgendwann schaute Nonna aufmerksam in die Runde.

„Com'è il cibo stasera?"

„Ob es uns schmeckt. Sag Molto gustoso", flüsterte Raphael mir zu. Natürlich hatte auch sie das gehört, doch als ich es wiederholte, entlockte ich ihr trotzdem ein strahlendes Lächeln.

„Sie mag dich", sagte Raphael leise, als ich später zu ihm in den kleinen Garten vor dem Haus trat. Ich hatte Nonna nach dem Essen mit dem Abwasch geholfen. Auch, wenn ich es mir nicht oft anmerken ließ, aber in meinem tiefen Herzen war ich ein Familienmensch. Mein Freund hatte uns eine Weile dabei zugesehen und sich mit seiner Großmutter unterhalten, bevor er irgendwann nach draußen verschwunden war, um eine Zigarette zu rauchen.

Als ich die Tür hinter mir zuzog, griff er nach meiner Hand und zog mich zu sich heran.

„Ich mag sie auch", gab ich zurück, „Auch, wenn ich mich nur mit Händen und Füßen mit ihr unterhalten kann."

Raphael lächelte.

„Ich sorge dafür, dass sich das ändert", sagte er, schlang seinen Arm um meinen Körper und zog mich nah an sich heran. Einen kurzen Moment schaute er einfach nur in meine Augen.

„Sei bellissima, lo sai?", fragte er leise.

Das hab ich verstanden", grinste ich und schlang meine Arme um seinen Hals.

Er grinste, bevor er sich zu mir herunterbeugte und mich küsste.

„Ich habe nachgedacht", sagte er auf einmal.

Ich legte den Kopf schief.

„Worüber?", fragte ich.

„Urlaub", erwiderte er.

Ich seufzte schwer. Vermutlich war jetzt der passende Zeitpunkt, ihm von dem Brief zu erzählen.

„Was ist?", fragte er, als er merkte, dass mich etwas beschäftige.

„Als ich gestern bei mir war, habe ich nach der Post geschaut", begann ich.

„Und?"

„Es war ein Brief vom Label dabei", setzte ich fort, „Sie haben mir mein Zeugnis geschickt. Es ist also praktisch offiziell. Bis zum Ablauf meiner Kündigungsfrist stellen sie mich sowieso frei. Ich brauche nicht mehr wiederkommen", offenbarte ich ihm traurig.

„Echt jetzt?"

Er löste sich von mir und strich über mein Gesicht.

„Ja."

„Dann musst du dich ja jetzt nicht mehr krankschreiben lassen", stellte er trocken fest.

„Es ist trotzdem unglaublich für mich, dass es jetzt offiziell ist. Ich kann und will einfach nicht akzeptieren, dass ich freiwillig das Handtuch geschmissen habe, diese fiesen Weibsbilder sogar angefangen haben, mich zu mobben, und Yannic, dieses Arschloch, weiter dort arbeiten darf", sagte ich zornig.

„Was meinst du damit – sie haben angefangen, dich zu mobben?", hakte er hellhörig nach. Ich seufzte. Ich wollte nicht darüber sprechen, aber er hatte ein Recht darauf, die ganze Wahrheit zu erfahren.

„Sie haben angefangen, mir hässliche Zettelchen zu schreiben, auf denen sie mich beleidigt haben, mich ausgegrenzt und meine Arbeit sabotiert", erzählte ich. Er schwieg einen Moment, dann schüttelte er verächtlich den Kopf.

„Unglaublich", sagte er wütend. „Das hättest du melden müssen."

„Ich weiß, aber für mich war klar, dass ich gehen will, und es hätte nichts mehr geändert."

„All das, was dir dort passiert ist, ist eine riesige Schweinerei und eigentlich haben sie dafür Konsequenzen verdient, aber im Moment zählt nur, dass es dir wieder besser geht. Ich möchte, dass du erstmal runterkommst und dich richtig erholst, danach helfe ich dir, etwas Besseres zu finden. Versprochen."

Ich lächelte. Ich war froh, dass er in dieser turbulenten Zeit hinter mir stand.

„Du siehst also, ich habe alle Zeit der Welt, mit dir in Urlaub zu fahren", ergänzte ich.

„Mann, Baby, tut mir leid", beteuerte er und zog mich wieder in seinen Arm. Ich schlang meine Arme um seinen Körper, während er mich fest an sich drückte. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich wollte sie herunterschlucken, doch ein paar einzelne liefen trotzdem meine Wange hinab. Wir standen noch eine Weile einfach so da und hielten uns aneinander fest. Es war Raphael, der schließlich das Schweigen zwischen uns brach. „Sollen wir wieder reingehen?"

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, rollte ich mich an die Kante der Couch und warf Raphael einen kurzen Blick zu. Er lag auf dem Rücken, hatte die Augen geschlossen und schlief noch immer. Sein nackter Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig.

Ich konnte noch immer kaum glauben, wie viel wir in der letzten Zeit zusammen durchgestanden hatten. Yannics Belästigung, die negativen Schlagzeilen nach der Preisverleihung, das Mobbing im Label, Raphaels Großvater und jetzt auch noch meine Kündigung. Es war ein schönes Gefühl zu wissen, dass wir zueinander hielten, ganz egal, was kam. Er gab mir Kraft und ich versuchte, sie ihm zurückzugeben.

Ich richtete mich langsam auf und schwang meine Beine auf den Boden. Direkt wurde mir kalt. Ich sehnte mich danach zurück, wie Raphael mich gestern Abend im Arm gehalten hatte. Er hatte mir Geschichten von seinem Großvater erzählt; Geschichten aus seiner Kindheit, an die er sich erinnerte.

„Bleib bei mir", nuschelte er mir verschlafen ins Ohr und schob seine Arme um mich. Ich lächelte, als er mich zurück auf die Couch zog und in die weichen Kissen drückte. Als ich spürte, dass er erregt war, erstarrte ich in meiner Bewegung.

„Wir können doch nicht hier-", zischte ich.

Er seufzte schwer, ließ jedoch von mir ab.

„Wahrscheinlich hast du Recht", grinste er. „Nonna würde mich umbringen."

„Zurecht", schmunzelte ich. „Ich meine, schaut sie hier nicht normalerweise ihre Krimis?"

„Hör auf, das zu sagen", forderte er gequält und brachte mich einmal mehr zum Lachen. „Ich bin gleich wieder da", ergänze er, stand auf und verließ – nur in seinen Boxershorts bekleidet – das Zimmer.

Ich hoffe, es hat euch gefallen. Ich finde ja, dass es höchste Zeit wurde, dass sie alles andere hinter sich lassen und sich auf die Beziehung konzentrieren. Leider sind es nur noch ein paar Kapitel. Ich bin schon super traurig, weil es bald vorbei ist.

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