37 | Perspektiven

Ihr müsst stark sein. Wir nähern uns dem Ende. Langsam, aber es kommt.

Ich ließ meinen Blick schweifen und nippte an meinem Kaffee. Obwohl ich ihn schon hatte abkühlen lassen, war er immer noch zu heiß. Also verbrannte ich mir die Zunge.

„Hast du immer noch nichts gegessen?"

Raphaels Stimme ließ mich herumfahren. Er stand im Türrahmen zur Küche und deutete mit einem Kopfnicken auf den Frühstückstisch. Er hatte Recht. Ich hatte bisher weder die Brötchen noch das Rührei angerührt.

„Nein", antwortete ich knapp, um weitere Diskussionen zu vermeiden.

Bereits seit Tagen aß ich kaum etwas und zog mich immer mehr zurück; auch vor Raphael. Ich brauchte einfach Zeit für mich, um mich zu sortieren und mir zu überlegen, in welche Richtung ich gehen wollte. Er schaute aufmerksam in meine Augen und ich versuchte, einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck aufzusetzen.

„Soll ich dir was machen?", fragte er leise und drückte mir einen sanften Kuss auf den Haarschopf, bevor er sich eine kleine Espressotasse aus dem Schrank nahm und sie auf den dafür vorgesehenen Platz des Vollautomaten stellte.

„Nein, danke. Ich habe wirklich keinen Appetit", lächelte ich dankbar.

Seit ich mich hatte krankschreiben lassen, war er wirklich toll. Ich beobachtete ihn dabei, wie er einen Espresso in die Tasse laufen ließ, die Tasse nahm und sich zu mir an den Tisch setzte. Er zog das Handy aus seiner Hosentasche und tippte darauf herum, sagte jedoch kein Wort dabei.

„Zieh dir was an, Baby. Wir machen einen Ausflug."

Ich musterte Raphael irritiert, als mich seine Stimme aus meinen Gedanken rund um meine Zukunft riss. Er gab sich so große Mühe mit mir.

„Wir könnten spazieren gehen", schlug ich vor. „Dann bekomme ich vielleicht auch den Kopf frei."

Er lächelte.

„Okay. Ich weiß auch, wo wir hinfahren."

Ich erwiderte sein Lächeln, stand auf und ließ ihn in der Küche allein. Im Schlafzimmer tauschte ich den Bademantel gegen Jeans und einen Oversized Hoodie, band meine Haare zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammen und kehrte zu ihm in die Küche zurück.

Raphael leerte seine Espressotasse, stellte sie in die Spülmaschine und folgte mir schweigend in den Flur, wo wir unsere Schuhe und Winterjacken anzogen. Im Auto sprachen wir kaum miteinander. Ich hing einfach zu sehr meinen Gedanken nach und versuchte, mir zu überlegen, wo ich mich selbst sah. Wollte ich wirklich Bewerbungen an andere Labels versenden? War Label-Arbeit wirklich etwas für mich? Oder war das meine Chance, zwar in der Branche zu bleiben, jedoch in einen anderen Bereich zu wechseln?

Bisher war ich beispielsweise wenig mit den Künstlern des Labels in Berührung gekommen und sah mittlerweile ein, dass ich mit meinen Berührungsängsten mit anderen Menschen für eine adäquate Künstlerbetreuung vermutlich eher weniger geeignet war. Die Arbeit im Hintergrund ging mir schon leichter von der Hand; mit dem Vertrieb, dem Verlag oder Grafikern zu kommunizieren, alles Wichtige zusammenzuhalten und zu strukturieren. Aber würde die klassische Arbeit eines Produktmanagers mich auf kurz oder lang noch fordern? Es gab sicher in der Branche auch andere Tätigkeitsfelder, die ich besser ausfüllen konnte.

Ich hatte in den vergangenen Tagen häufiger mit Raphael darüber gesprochen. Auch er sah mich nicht in der klassischen Künstlerbetreuung eines Labels und war ebenfalls der Meinung, dass ich einen Job brauchte, an dem ich wachsen und mich entwickeln konnte. Er war er Überzeugung, dass ich mich beispielsweise eher in der Promotion versuchen und Konzepte erarbeiten sollte.

Als wir den Parkplatz an einem Waldstück erreichten, stellte er den Motor aus und stieg aus dem Wagen. Ich gab Raphael meine Hand, als er mir seine hinhielt, und lief neben ihm in den Wald hinein. Es war etwas Schnee gefallen, der unter unseren Füßen knirschte.

„John will mit mir nach Costa Rica", sagte er auf einmal.

Ich schaute ihn von der Seite an.

„Was wollt ihr in Costa Rica?"

„Ein Video drehen", sagte er.

„Wann?"

„Möglichst bald eigentlich, aber ich habe das erst mal verschoben. Ich möchte dich gerade nicht allein lassen."

Seine Worte berührten mein Herz.

„Du bist wirklich ein Guter", sagte ich leise und senkte meinen Blick.

Es fühlte sich nicht richtig an, dass er wegen mir seine Karriere zurückstellte, auch, wenn das für ihn vielleicht selbstverständlich war.

„Wenn du willst, höre ich mich nochmal wegen einem Job im Bereich Promotion oder in einem anderen Label um", bot er mir an.

„Sehr gerne."

„Oder du machst dich wirklich einfach selbstständig", wiederholte er seinen Vorschlag von vor ein paar Tagen.

„Ich weiß nicht, ob das wirklich so einfach ist. Viele Künstler haben bereits feste Promoter oder Firmen, mit denen sie arbeiten", sagte ich nachdenklich.

„Meiner Meinung nach passt das aber am besten zu dir. Und du wärst dein eigener Chef, müsstest niemandem Rechenschaft ablegen", entgegnete er.

„Momentan bin ich wirklich überfordert. Ich habe einfach Schwierigkeiten, mich neu zu orientieren. Ich zweifele daran, ob ich wirklich in einem Label gut aufgehoben bin, will aber auch nicht alle über einen Kamm scheren. Nur, weil ich dort schlechte Erfahrungen gemacht habe, muss es wo anders nicht auch so sein", erzählte ich.

„Niemand sagt, dass du sofort wissen musst, wie es weitergehen soll", beruhigte er mich lächelnd. Ich erwiderte es tapfer. Selten in meinem Leben hatte ich mich so verloren gefühlt; umso schöner war es, dass er an meiner Seite war. Nach dem Spaziergang fuhren wir kurz im Studio, da er John irgendwelche Dateien schicken musste. Anschließend fuhren wir nach Hause. Ich badete, Raphael erledigte ein paar Dinge am Laptop. Nach dem Essen, das er uns kurzerhand beim Chinesen holte, verbrachten wir den restlichen Abend auf der Couch.

Am nächsten Morgen war ich vor Raphael wach. So leise ich konnte, schlich ich mich aus dem Bett. Ich wollte ihn nicht wecken. Er tat so viel für mich und ich fand, dass auch er bei all dem Stress etwas Ruhe verdiente.

Ich machte mir einen Kaffee, bevor ich in meine Wohnung fuhr, um nach der Post zu sehen. Es war verrückt, aber ich hatte nicht einmal mehr das Gefühl, dass meine Wohnung eine Art Rückzugsort für mich war. Sie erinnerte mich stattdessen nur an die Zeit vor diesem Vorfall – eine Zeit, in der ich in einer Art Traumwelt gelebt hatte.

Ich schob die Gedanken bei Seite und warf die Briefe achtlos auf die Anrichte in der kleinen Küche. Dann öffnete ich den Kühlschrank, um nachzuschauen, was ich entsorgen konnte. Ich warf ein paar Essensreste in den Mülleimer, dann schnappte ich mir ein paar frische Klamotten aus meinem Kleiderschrank.

Bevor ich mich wieder auf den Weg machte, sortierte ich die Post und warf Werbebriefe und Broschüren in den Papiermüll. Dabei blieb mein Blick am letzten großen Umschlag kleben. Er war vom Label. Der Poststempel war von gestern.

Ich runzelte irritiert die Stirn, bevor ich den Umschlag aufriss. Meine Finger kribbelten nervös, als ich das Papier herauszog. Es war mein Arbeitszeugnis. Meine Augen füllten sich mit heißen Tränen. Ich konnte nicht einordnen, ob es Tränen des Schmerzes oder der Erleichterung waren, doch in dem Moment verstand ich, dass es offiziell vorbei war.

Nach meiner Krankmeldung würde ich durch Resturlaub und Überstunden bis zum Ende der Kündigungsfrist freigestellt werden.

Die Erkenntnis, dass ich so sehr dafür gekämpft hatte, eine stärkere Person zu werden, und doch verloren hatte, tat weh. Ich war nach wie vor schwach und angreifbar. Yannic und meine Kolleginnen hatten meine Verwundbarkeit gegen mich genutzt, mich kleingekriegt und ihr Ziel erreicht. Die ganzen letzten Wochen waren eine Qual für mich gewesen. Zu erkennen, dass es jetzt wirklich vorbei war, und sie mir das Leben nicht weiter zur Hölle machen konnten, befreite mich. Als ich verstand, dass ich endlich frei war, ließ ich meinen Emotionen freien Lauf. 

Könnt ihr verstehen, dass sie sich zurückzieht? Oder findet ihr, sie sollte sich bei ihm ausheulen? Also ich würde auch erstmal für mich sein wollen, glaube ich, auch, wenn er total toll ist natürlich.

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