31 | Unfair

Da ist es, das neue Kapitel. Ich hoffe, es gefällt euch :)

„Wichtiger als ich?", fragte Raphael provokant und verschränkte die Arme vor der Brust.

Seine Augen funkelten angriffslustig.

„Ausgerechnet du fragst mich das, nachdem du mir deine Beziehung zu Lara und euer Zusammentreffen einfach verheimlicht hast? Wie würdest du es finden, wenn ich dir Yannics Interesse an mir oder seine Annäherungsversuche verschwiegen hätte?", erwiderte ich wütend. Ich war maßlos enttäuscht darüber, dass er mir verschwiegen hatte, in einer Beziehung mit Lara gewesen zu sein und sie augenscheinlich um ihn kämpfte; offenbar mit allen Mitteln. Das war also ihre Motivation, mich bei Jamaal anzuschwärzen.

Bisher war ich einfach nur davon ausgegangen, dass sie scharf auf Raphael und deshalb eifersüchtig war, doch es war viel mehr; sie wollte ihn zurück.

„Das kannst du doch überhaupt nicht vergleichen", platzte es aus Raphael heraus.

„Oh doch – immerhin wollte ich auch nicht, dass du dir unnötig Gedanken machen musst", blaffte ich ihn an.

„Okay, vielleicht war es nicht cool von mir, dir das nicht zu erzählen. Aber das ändert nichts daran, dass du – nach all dem, was war – diesen beschissenen Job vor alles andere stellst und dir Sorgen machst, dass du ihn verlierst. Dabei hättest du ihn schon längst hinschmeißen müssen", gab er energisch zurück.

Gerade er nahm sich heraus, darüber zu urteilen, wie ich mein Leben lebte? Was glaubte er eigentlich, wer er war? Ich hasste es, wenn er sich derart über mich erhob. Schließlich hatte er jahrelang versucht, mich kleinzuhalten, und während ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen war, um meinen Träumen nachzujagen, hatte er sie sich bereits längst erfüllt. Jetzt, wo ich endlich damit angefangen hatte, meine Ziele zu verfolgen, probierte er, mir das madig zu machen.

Natürlich wusste ich, dass es stimmte; Yannic tat mir nicht gut und weiter mit ihm zu arbeiten, konnte langfristig zu neuen Schwierigkeiten führen, doch ich war nicht bereit dazu, einfach so aufzugeben; jedenfalls nicht, solang Jamaal mir nicht kündigte.

„Ich weiß nicht, ob es dir bewusst ist, aber es gibt Kündigungsfristen. Ich könnte also sowieso nicht von heute auf morgen einfach aufhören. Außerdem: wer gibt dir das Recht, über mein Leben zu entscheiden?", fauchte sie.

Sein Blick wurde düster. Er schnaubte verächtlich.

„Du bist so verblendet von diesem Gedanken, in dieser Branche zu arbeiten, dass du nicht erkennst, dass dir diese Arbeit nicht guttut. Ein Mann belästigt dich dort – und arbeitet noch immer da. Er kann es also jederzeit wieder tun, und niemand ist dort, um das zu verhindern. Du nimmst also billigend in Kauf, dass es wieder passiert, nur, weil du an diesem Job festhältst. Ich verstehe das einfach nicht; erst recht nicht, nachdem John und ich alles getan haben, um dir zu helfen. Wir stehen hinter dir, Edita. Ich stehe hinter dir. Ich kann nicht glauben, dass dir das nicht reicht", sagte er enttäuscht.

„Dass du das nicht verstehst, ist klar. Schließlich lebst du deinen Traum bereits. Schade, dass du dabei offenbar vergessen hast, wo du herkommst oder wie du dorthin gekommen bist. Dir ist das schließlich auch nicht einfach so zugeflogen. ."

„Whoa", platzte es aus ihm heraus. „Warum wirst du jetzt so unfair?"

„Unfair?!", fuhr ich ihn an. „Du bist nicht ganz unschuldig daran, dass es mir eine ganz lange Zeit ziemlich schlecht ging."

„Das weiß ich – und es tut mir leid. Aber das hat nichts damit zu tun, dass du nicht einfach zu mir stehst; deinem Freund, der sich mittlerweile geändert hat und nicht mehr das Arschloch von damals ist. Ich unterstütze dich heute darin, dich zu verwirklichen und stehe hinter dir, ganz egal, wie heftig der Sturm ist, der aufzieht. Aber scheinbar reicht dir das nicht."

Er wandte sich enttäuscht von mir ab.

„Raphael", seufzte ich, doch er ignorierte mich und lief stattdessen schweigend den Waldweg zurück in Richtung Parkplatz. Plötzlich fuhr er noch einmal zu mir herum.

„Warum hast du Angst davor, diesen Job aufzugeben? Ich kann dir helfen, etwas Neues zu finden. Du bist damit nicht allein! Ich könnte dich unterstützen, damit auch du deinen Scheiß Traum leben kannst!", schrie er wütend, kam zu mir zurück und baute sich vor mir auf. Ich schluckte. Ich hatte ihn noch nie so wütend gesehen.

„Ist es wegen dem, was ich dir damals angetan habe? Fällt es dir deshalb so schwer, dich auf uns einzulassen? Vertraust du mir nicht? Habe ich dir nicht bewiesen, dass ich jetzt ein anderer bin? Was ist es, Edita? Ich will es nur verstehen!"

„Wie soll ich dir vertrauen, wenn du mir schon solche Kleinigkeiten wie deine Exfreundin verheimlichst?", fragte ich anklagend.

Er stieß einen verächtlichen Laut aus.

„Dein Ernst?", fragte er enttäuscht.

Ich schwieg. Er schüttelte fassungslos den Kopf, dann wandte er sich von mir ab. Ich schluckte, als er endgültig in Richtung Parkplatz zurücklief.

„Raphael, warte bitte", rief ich und ging ihm nach, doch er reagierte nicht. Stattdessen lief er schweigend den Waldweg entlang. Als wir unsere Autos erreichten, warf er mir einen letzten düsteren Blick zu, bevor er in seinen Wagen stieg und mich einfach stehenließ. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als er davonfuhr. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.

Einerseits wollte ich nicht mit ihm streiten. Andererseits wollte ich diesen Job nicht verlieren, weil ich wusste, dass er mir viele Türen öffnete. Konnte er mich denn nicht wenigstens etwas verstehen?

Außerdem war ich wirklich wütend und enttäuscht, weil er mir nichts von Lara erzählt hatte. Es war völlig normal, dass er vor mir Beziehungen hatte, doch gerade in diesem Fall ärgerte ich mich maßlos darüber. Lara war eine Künstlerin des Labels und konnte mich in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Ich wollte mir nicht nachsagen lassen, dass ich unprofessionell arbeitete.

Das Wochenende verging, ohne, dass Raphael sich bei mir meldete. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Ihm war es so wichtig gewesen, dass niemand von uns erfuhr, und doch hatte er seine Überzeugung bei Seite geschoben, um mich zu verteidigen und zugestimmt, Jamaal von uns zu erzählen. Je länger ich darüber nachdachte, desto undankbarer fühlte ich mich. Doch ich nutzte die Zeit nicht nur, um mein eigenes Verhalten zu reflektieren, sondern auch, um mich auf meine nächste Woche im Büro vorzubereiten. Es musste einen Weg geben, das ganze Dilemma irgendwie aufzulösen.

Als ich am Montagmorgen wieder ins Büro fuhr, hatte ich mir ein paar Argumente überlegt, mit denen ich hoffte, Jamaal überzeugen zu können. Ich hoffte, dass die widerliche Übelkeit verfliegen würde, sobald ich mit ihm gesprochen hatte. Als ich auf der Arbeit ankam, war Jamaal noch nicht da, also nutzte ich die Zeit, ihm einen guten Kaffee zu kochen, der hoffentlich nicht nur seine Lebensgeister zurückbrachte, sondern ihn auch in eine positive Grundstimmung versetzte.

Zwei Stunden später tauchte er endlich auf. Ich ließ ihm etwas Zeit, anzukommen und sich einen Kaffee zu holen, bevor ich mich erhob und zu ihm rüberging. Er schaute von seinem Schreibtisch auf, als ich davor stehenblieb, und hob eine Augenbraue.

„Morgen", begrüßte er mich wenig gesprächig, doch ich ließ mich davon nicht abschrecken.

„Kann ich kurz mit dir sprechen?", fragte ich und lächelte entwaffnend.

Er seufzte, dann deutete er auf den Stuhl gegenüber.

„Bitte."

Ich schloss die Tür hinter mir und setzte mich. Er musterte mich erwartungsvoll.

„Ich habe das in der vergangenen Woche ernst gemeint. Dass du was mit einem der Künstler angefangen hast, ist ein absolutes No-Go bei uns und gegen unsere Philosophie", sagte er, ehe ich etwas sagen konnte.

„Vielleicht lässt du es mich erklären. Wir kennen uns seit der Schule. Wir waren in derselben Klasse und haben eine lange Geschichte miteinander. Ich kannte ihn also schon, bevor ich hier angefangen habe", probierte ich ihn zu besänftigen.

Für einen Moment schaute er mich überrascht an.

„Weshalb hast du nicht früher mit mir darüber gesprochen?", fragte er.

„Weil ich nicht wusste, dass es wichtig ist. Ich dachte einfach, unser Privatleben gehört nicht hierher. Ich wollte einfach Berufliches und Privates trennen", antwortete ich.

„Ich habe mit Bonez telefoniert."

Ich schluckte. Hatte die ganze Sache jetzt tatsächlich Konsequenzen für John? Augenblicklich fühlte ich mich noch undankbarer.

„Weshalb?", fragte ich vorsichtig.

„Ich wollte seine Version der Geschichte hören", sagte Jamaal.

„Und was hat er gesagt?", hakte ich unsicher nach.

„Er hat bestätigt, was du sagst, und das deckt sich mit dem Eindruck, den ich persönlich von Yannic gewonnen habe. Ich kann das nicht tolerieren. Ich habe mit ihm ein Personalgespräch geführt. In dem Zusammenhang habe ich ihn abgemahnt und darauf hingewiesen, dass er bei einer weiteren unmittelbaren Beschwerde fristlos entlassen wird. Ich werde ein Auge auf ihn haben und ihm genau auf die Finger schauen. Sobald er sich dir noch einmal unangenehm nähert, möchte ich, dass du mir das sofort meldest. Sicherheitshalber habe ich ihn von allen gemeinsamen Projekten abgezogen und ihm einen anderen Bereich zugewiesen, damit die Überschneidungen auf ein nötiges Minimum reduziert werden. Mehr kann ich gerade nicht tun, da eine außerordentliche Kündigung erst bei erneuten körperlichen Übergriffen und Beleidigungen rechtswirksam wird. Tut mir leid."

Ich atmete tief durch.

„Danke", sagte ich.

„Allerdings ist auch ein sexuelles Verhältnis zu einem Künstler ein Grund für eine fristlose Kündigung", wiederholte er ruhig. Ich schnappte empört nach Luft.

„Du schmeißt mich raus?"

„Ich will dich nicht rausschmeißen müssen, Edita. Du machst einen guten Job und ich bin sehr zufrieden. Aber so ist nun mal die Politik hier. Ich habe niemandem von euch erzählt, aber da Lara mir die Story gesteckt hat und hier regelmäßig ein- und ausgeht, kann es durchaus sein, dass es anderswo durchsickert."

Ich schluckte, als ich erkannte, dass Jamaal tatsächlich auf unserer Seite zu stehen schien.

„Da geht es um den Ruf des gesamten Labels. Verstehst du? Das sehen die hier einfach nicht gerne."

„Aber ich kann das wirklich trennen", beteuerte ich.

„Das glaube ich dir. Aber Grundsätze sind eben Grundsätze. So gern ich dich auch mag, aber ich würde an deiner Stelle wirklich darüber nachdenken, ob du von selbst kündigen willst, bevor es rauskommt, denn selbst dann müsstest du im Rahmen der Frist noch eine ganze Zeit hierbleiben. So lang es mir möglich ist, halte ich meine Hand über dich, aber es kann sein, dass das nicht ausreicht."

Ich schluckte, als ich seine Worte verstand.

„Ich verstehe, dass ihr eure Regeln habt. Aber ich hänge wirklich sehr an dem Job", versicherte ich. „Ich möchte erst gehen, wenn ich etwas Vergleichbares gefunden habe."

„Ich bin mir sicher, dass du etwas finden wirst. Die Qualität deiner Arbeit ist gut und wenn du möchtest, schreibe ich dir in den nächsten Tagen ein Zwischenzeugnis für deine Bewerbungen. Ich kann dir auch eine gute Empfehlung aussprechen", erwiderte er.

Mein Herz sank, als ich realisierte, dass er – trotz aller Sympathie für mich, nach wie vor an dem Gedanken festhielt, mich nicht weiter zu beschäftigen. Doch ich lächelte tapfer, auch, wenn ich erkannte, dass mein Weg in diesem Label schon sehr bald vorbeisein würde und ich keinen Job in Aussicht hatte, der mir eine ähnliche Erfüllung versprach.

Ein paar Stunden später fand ich mich auf der Toilette wieder. Ich hatte mich gerade ein weiteres Mal übergeben und kämpfte gegen meine Übelkeit an. Das Gespräch mit Jamaal hatte es nur bedingt besser gemacht. Auf kurz oder lang würde ich mich vermutlich entscheiden müssen – und es war klar, dass ich Raphael wollte.

Doch ich war trotzdem nicht bereit, diesen Job aufzugeben. Ich hatte immerhin das Gefühl, dass ich gerade erst am Anfang von dem stand, was ich erreichen wollte. Ich wollte meinen Weg gehen, so, wie Raphael ihn gegangen war. Heute stand er auf dem Zenit seines Erfolgs, während ich gerade erst damit anfing, danach zu streben.

Natürlich war es nicht professionell, dass ich eine Beziehung mit einem Künstler des Labels führte, doch ich war erwachsen und durchaus in der Lage, Berufliches von Privatem zu trennen. Für mich war es nicht verständlich, dass ich trotz guter Leistungen um meinen Job fürchten sollte.

Schwer seufzend schob ich die Gedanken bei Seite, wischte mir mit einem Fetzen Toilettenpapier über den Mund, spülte ab und trat aus der kleinen Toilettenkabine.

„Du siehst ganz schön mitgenommen aus."

Überrascht drehte ich meinen Kopf nach links. Sabrina stand am Waschbecken und schaute mich mitleidig an. Ich seufzte lautlos.

„Wie lang stehst du schon da?", wollte ich wissen.

„Lang genug, um zu wissen, dass du dir die Seele aus dem Leib gekotzt hast", erwiderte sie.

Großartig. Konnte der Tag noch besser werden?

„Hab wohl was Falsches gegessen oder so", sagte ich, dann trat ich ans Waschbecken, um mir die Hände zu waschen.

„An deiner Stelle wäre mir auch schlecht", sagte sie und ihr Blick wechselte von mitleidig zu angriffslustig. Ich legte fragend den Kopf schief. „Wieso?"

„Ich hätte mich nie getraut, was mit Raf anzufangen. Echt nicht", kommentierte sie kühl, dann drückte sie sich an mir vorbei und verließ die Toilette. Ich schluckte. Es hatte sich also schon herumgesprochen.

Viel besser kann es doch gar nicht mehr kommen, oder? Sie hat sich mit Raf zerstritten und wird jetzt auch noch von ihrer Arbeitskollegin kritisiert. Glaubt ihr, dass die Beziehung der beiden noch eine Zukunft hat? Und wird Sabrina herumerzählen, was sie weiß? Wie würdet ihr euch verhalten? 

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