16 | Anziehungskraft
Ich hoffe, ihr freut euch, denn ich freu mich besonders über das neue Kapitel. :)
Schwer seufzend fiel ich auf meinen Schreibtischstuhl und strich meine offenen Haare nach hinten. Heute Morgen hatte ich sie zu Locken gedreht, doch inzwischen war davon nicht mehr viel übrig.
Ich hatte versucht, Jamaal davon zu überzeugen, dass ich für ihn ein paar Erledigungen machen könnte, anstatt mit ihm auf John und Raphael zu warten. Es war bereits ein paar Wochen her, seit letzterer abends einfach so bei mir zuhause aufgetaucht war, um sich zu entschuldigen.
Er hatte verstanden, dass ich dank seiner ständigen Hänseleien überhaupt erst die Schule gewechselt hatte, bulimiekrank und magersüchtig geworden war. Dass ich irgendwann sogar meinen Lebensmut verloren hatte, hatte ich ihm allerdings bewusst verschwiegen. Es gab Dinge, die er nicht über mich wissen musste.
Raphaels Entschuldigung hatte mich so berührt, dass ich ihn nicht hatte wegschicken können. Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, hatte ich unser Gespräch an diesem Abend wirklich sehr genossen. Ein wenig zu sehr für meinen Geschmack. Ich hatte mich ihm regelrecht verbunden gefühlt, als wir über unsere Liebe zu Wien gesprochen und in schönen Erinnerungen an unsere Heimat geschwelgt hatten.
Raphael übte einfach eine unfassbare Anziehungskraft auf mich aus und ich wusste, dass es umgekehrt genauso war. Ich wusste, dass, wenn ich mich nicht von ihm fernhielt, er mein Untergang sein könnte. Ein tiefer Blick von ihm und es war um mich geschehen, ganz egal, was er mir früher angetan hatte. Als er mich dazu aufgefordert hatte, mit ihm etwas zu unternehmen, war es für mich nur eine logische Konsequenz gewesen, abzulehnen.
Ich konnte mich nicht privat mit ihm treffen. Ich musste unbedingt verhindern, ihm so viel Macht über mich zu geben, dass er mich wieder zu Fall bringen konnte. Das Risiko, mich von ihm um den Finger wickeln zu lassen, war einfach zu groß. Das wusste ich jetzt.
Also hielt ich mich so gut es ging von ihm fern. Bisher funktionierte das auch. Da er sich wohl von mir zurückgewiesen und in seinem männlichen Stolz gekränkt fühlte, hatte er sich nicht mehr bei mir gemeldet.
Ich hatte seitdem versucht, mich in die Arbeit zu stürzen und danach ins Training zu gehen, um mich von meinen Gedanken rund um Raphael abzulenken. Dass ich ihn auf Distanz halten wollte, bedeutete nicht, dass er mir egal war. Seine Entschuldigung hatte mir gezeigt, dass er auch eine andere Seite abseits des überheblichen Macho-Arschlochs in sich versteckte und inzwischen sein Verhalten reflektierte.
Als das Telefon auf meinem Schreibtisch plötzlich klingelte, hätte ich mich am liebsten auf der Toilette versteckt, nur, um Jamaals unliebsamen Besuch jetzt nicht in Empfang nehmen zu müssen. Doch ich durfte mir auf keinen Fall etwas anmerken lassen; nicht vor Raphael und John, aber vor allem nicht vor Jamaal. Also durfte ich mich nicht verdächtig machen.
John und Raphael saßen in den gemütlichen Lounge-Sesseln, als ich das Foyer betrat. Raphael hatte den Blick auf das Iphone in seiner Hand gerichtet. Mir wurde augenblicklich heiß und kalt, als John mich entdeckte, ihn anstieß und er vom Display seines Handys aufschaute.
Ein unangenehmes Schweigen entstand, während ich die beiden durchs Treppenhaus in die oberen Büroräume führte. Ich wusste einfach nicht, worüber ich reden sollte, also bugsierte ich die beiden in den Besprechungsraum und gab Jamaal Bescheid, dann kehrte ich in mein Büro zurück und schloss die Tür hinter mir. Erst jetzt, als ich mich in Sicherheit wiegte, stöhnte ich frustriert auf. Meine Hände zitterten und fühlten sich schwitzig an. Ich wischte sie an meiner Hose ab und zupfte meine Bluse zurecht, dann ließ ich mich wieder an meinem Schreibtisch nieder.
Raphaels durchbohrende Blicke waren mir nicht verborgen geblieben, doch es war mir gelungen, mir nicht anmerken zu lassen, was sie in mir auslösten. Zum meinem Glück sah ich ihn im weiteren Verlauf des Tages nicht wieder. Jamaal kehrte irgendwann allein zurück, als ihr gemeinsames Meeting beendet war.
Den restlichen Tag ging Raphael mir nicht mehr aus dem Kopf. Wie er mich ansah, verfolgte mich. Da er nur das Nötigste auf beruflicher Ebene mit mir besprochen hatte, ging ich davon aus, dass er mit dem Thema für sich ebenfalls abgeschlossen hatte.
Bevor mich Zweifel an meinem Verhalten plagen konnten, erstickte ich sie nach der Arbeit beim härtesten Training seit Langem im Keim. Als ich am Abend schließlich vor dem Haus aus meinem Wagen stieg, quälte mich jeder einzelne Muskel und ich hatte das Gefühl, keinen weiteren Schritt mehr gehen zu können. Ein Lächeln huschte über meine Lippen. Ich liebte dieses Gefühl. Meine Sporttasche fühlte sich an, als würde ich Backsteine tragen, als ich sie aus dem Kofferraum meines Wagens hob.
Eine Bewegung am Rand meines Sichtfelds ließ mich herumfahren. Ich hatte Raphaels Auto am Straßenrand bisher gar nicht wahrgenommen, doch als er jetzt ausstieg und die Fahrertür lässig hinter sich zuwarf, musterte ich ihn überrascht aus großen Augen.
„Wird das jetzt zur Gewohnheit, dass du einfach so bei mir auftauchst?"
Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass seine unerwartete Anwesenheit mich nervös machte. Er hatte die Kapuze seines dunklen Hoodies, die er über einer Snapback trug, tief ins Gesicht gezogen. Selbst jetzt wirkte er stylish. Ich hingegen hatte mich bereits vor dem Training abgeschminkt, war völlig verschwitzt und sah einfach nur schrecklich aus.
„Ich verstehe dich nicht", überging er meine schnippische Bemerkung und machte ein paar Schritte auf mich zu, so, als sei es nach wie vor selbstverständlich, unangekündigt vor meiner Tür zu stehen.
„Ich möchte einfach keinen privaten Kontakt mit dir", erwiderte ich ernst.
„Hast du dich deshalb mit mir zum Essen getroffen? Warst du deshalb auf Joshis Party? Bist du deshalb im Studio geblieben? Hast du mich deshalb gebeten zu bleiben, als ich neulich bei dir war?"
Seine provokanten Fragen entwaffneten mich.
„Ich wollte einfach eine gute Basis für unsere geschäftliche Beziehung schaffen, nicht mehr und nicht weniger", log ich.
Raphael sah ernst auf mich herab und folterte mich mit seinem Blick. Dass er nichts sagte, machte es mir umso schwerer, dem standzuhalten. Doch wenn ich jetzt aufgab, würde ich meine Glaubwürdigkeit einbüßen.
„Du weißt genau wie ich, dass das eine Lüge ist."
Ich schluckte. Seine Stimme war rau – und verursachte eine Gänsehaut in meinem Nacken.
„Es wäre einfach nicht professionell, wenn wir uns privat treffen", sagte ich entschieden, ohne ihm auszuweichen.
„Hast du dich deshalb von mir küssen lassen?"
Die Erinnerungen daran, wie einnehmend sich sein fordernder Kuss angefühlt hatte, kehrten automatisch in mein Gedächtnis zurück und meine Lippen begannen angenehm zu kribbeln.
„Vielleicht weißt du auch noch, dass ich dich danach beinah umgebracht habe", konterte ich, um mir nicht anmerken zu lassen, wie seine Frage mich aus dem Gleichgewicht brachte.
„Jetzt gibst du es also doch zu", gab er schlagfertig zurück.
Ich hasste ihn. Wie konnte ein Mann so nervig und gleichzeitig so attraktiv sein?
„Was willst du hier?", fragte ich unbeeindruckt, als wir den Hauseingang erreichten.
„Das läuft so nicht", sagte er entschieden. Ich runzelte die Stirn und musterte ihn verständnislos.
„Kannst du weniger kryptisch mit mir sprechen?"
Es fiel mir wirklich schwer, so abweisend zu ihm zu sein. Dass er nach dem dritten Korb noch einmal bei mir auftauchte, zeigte mir, dass er scheinbar hartnäckig blieb.
„Ich werde nicht so tun, als wäre da nichts zwischen uns."
Mein Herz begann wild in meiner Brust zu schlagen. Ich hasste ihn wirklich.
„Aber es ist nichts zwischen uns", gab ich energisch zurück.
Raphael lachte. Es war klar, dass er die Wahrheit längst kannte. Plötzlich legte er seine Hand in meinen Nacken und zog mich zu sich heran.
„Wenn du das sagst...", meinte er wissend und beugte sich zu mir herunter, bevor er mich einfach küsste. Meine Lippen brannten, doch es war kein unangenehmes Brennen. Im ersten Moment war ich so überrascht, dass ich meine Augen aufriss. Doch Raphael grinste nur in den Kuss hinein, löste seine Lippen kurz von meinen und küsste mich direkt ein weiteres Mal.
Meine Hände umfassten seine Handgelenke, während er mich sanft, und trotzdem bestimmt, mit dem Rücken gegen die kühle Hauswand presste und mich nochmal küsste. Seine Zunge strich dabei über meine Lippen, verschaffte sich schließlich unaufhaltsam Einlass. Ich ließ es einfach geschehen, konnte mich nicht wehren, selbst, wenn ich gewollt hätte. Doch ich wollte gar nicht, verfiel stattdessen in eine Art Trance, als seine Zunge in meinen Mund eindrang und mich mit Leichtigkeit einnahm.
Ich ließ mich fallen, schloss meine Augen, schlang meine Arme um seinen Hals und presste mich dicht an seinen warmen Körper, während er eine Hand von meinem Gesicht löste und meinen Körper mit nur einem starken Arm fest umschlang. Ich wusste, dass es kein Entrinnen gab, aber darum ging es auch gar nicht. Nicht in diesem Moment. Ich wollte einfach nur, dass dieser Augenblick nicht endete. Weglaufen konnte ich danach immer noch.
Ja, ich weiß. Ihr habt lange gewartet, aber vielleicht wird ja jetzt alles besser? Was glaubt ihr? Wird sie sich endlich auf ihn einlassen oder doch wieder einen Rückzieher machen?
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