》6《


Everything's gonna be alright, everything's gonna be okay.
It's gonna be a good, good life, that's what my therapist say.
~Bebe Rexha

---------------------------------------------------------

Tik. Tak. Tik. Tak.

Der Sekundenzeiger der kleinen Uhr, die mir gegenüber an der Wand hing, zog Runde um Runde, während ich auf einem breiten Sessel mit braunem Stoffmuster saß, der von Minute zu Minute unbequemer wurde.

Ich war schon oft in diesem Raum gewesen. Viel zu oft. Die roten Vorhänge, die weißen Regale, die braunen Sessel und die drei  Plastikpflanzen die schon so lange auf der Fensterbank standen, dass ich ihnen schon Namen gegeben hatte.
Da waren Jerry, die Orchidee, Lucy, die Rose und Tom, die Mohnblume.

In den Regalen standen allerlei Mitbringsel aus anderen Ländern: kleine Schüsselchen, Kästchen und Statuen. Und in der Mitte ein riesiger Bilderrahmen mit einem Doktortitel darin. Dr. Susan Stevens stand darauf, und genau die saß mir jetzt gegenüber.

Dr. Stevens war eine hochgewachsene Frau, die immer lange schwarze Hosen trug, egal, wie warm oder kalt es war. Auf ihren mit dezentem Lippenstift bemalten Lippen lag durchgehend ein leichtes Lächeln, welches jedoch nicht ihre grünen Augen erreichte, die mit Wimperntusche und einem kurzen Kajalstrich betont waren. Ihre haselnussbraunen Haare, durch die sich schon ein paar graue Srähnen zogen, waren glatt und schulterlang und ich konnte schwören, dass sie sie nie anders trug als heute auch. Auf ihrem Schoß lag ein Klemmbrett, auf dem sie sich immer wieder ein paar Notizen mit einem Kugelschreiber machte, der immer griffbereit war.

Es war nicht so, dass ich es hasste, hier zu sein. Der Raum hatte mittlerweile etwas Vertrautes an sich und ich fühlte mich sicher, über alles zu reden, da ich wusste, dass Dr. Stevens es niemandem erzählen würde, wenn ich sie darum bat. Es sei denn, es war etwas schlimmes, dann kontaktierte sie natürlich meine Eltern, doch bis jetzt war das noch nie passiert.

Ich kam nun schon seit drei Jahren hier her, also seit meine Familie in diese Stadt gezogen war. Ich war vierzehn gewesen, hatte eine klobige Brille und eine Zahnspange gehabt und hatte dringend einen Neuanfang gebraucht, was neben der Schließung der Firma, in der mein Dad gearbeitet hatte, der Hauptgrund gewesen war, warum wir umgezogen waren.

Viele vierzehnjährige Mädchen wären entsetzt darüber gewesen, in eine neue Stadt zu ziehen und ihr altes Leben komplett hinter sich zu lassen, doch ich hatte monatelang nur darauf gewartet und war am Stichtag die erste gewesen, die im Auto gesessen hatte.

Am ersten Schultag in der neuen Schule hatte ich Angel kennen gelernt, die damals gerade den Punk Rock entdeckt hatte, weshalb sie auch dementsprechend gekleidet gewesen war. Zuerst hatte ich Angst vor diesem Mädchen gehabt, dass immer ihre Meinung sagte und ihre Mitschüler mit schlauen und dennoch frechen Sprüchen verblüffte, doch sie hatte auf mich aufgepasst und hatte dafür gesorgt, dass die Jungs, die es nur darauf abgesehen hatten, irgendjemanden zu schikanieren um damit vor ihren Freunden anzugeben, von mir fernblieben. Deshalb war sie schon bald zu meiner besten Freundin geworden und wie sie mir später verraten hatte, hatte sie mich genauso sehr an ihrer Seite gebraucht, wie ich sie. Denn auch, wenn sie so tough war, war sie dennoch einsam gewesen und hatte eine Freundin gebraucht.

Doch eine neue Umgebung und eine neue Freundin hießen nicht, dass ich sofort meine alten Dämonen abschütteln konnte, die an mir gezerrt und mir endlose schlaflose Nächte bereitet hatten. Deswegen war ich nach Dr. Stevens gegangen, die mir geholfen hatte, meine Probleme zu bewältigen und die da gewesen war, nachdem ich vor zwei Jahren einen Rückfall gehabt hatte.

"Also, River, ich kenne dich nun schon ziemlich lange und ich weiß, dass etwas nicht stimmt, wenn du dich so verhältst. Willst du mir nicht erzählen, was dich bedrückt?", durchschnitt Dr. Stevens' sanfte Stimme die Stille. 

Ich hatte in den letzten zehn Minuten still meine Hände angestarrt, die in meinem Schoß lagen. Mein Kopf fuhr hoch und ich sah Dr. Stevens irritiert an. Sie forderte mich nicht oft dazu auf, zu reden, sondern wartete lieber darauf, dass ich selbst mit der Sprache heraus rückte, weil sie herausgefunden hatte, dass das viel effektiver bei mir war. 

"Vielleicht gibt es auch einfach nichts, worüber ich reden kann.", zuckte ich mit den Schultern und es hörte sich viel pampiger an, als ich eigentlich beabsichtigt hatte, "Ich meine, es ist seit zwei Jahren nichts passiert und wir müssen uns nur noch alle drei Wochen treffen, anstatt zwei Mal pro Woche, wie am Anfang. Denken Sie nicht, dass mich das mittlerweile nur daran hindert, mit allem abzuschließen?"

Forschend sah sie mich an und ich kam mir vor, als würde sie mich von oben bis unten röntgen. Ihr Blick war schon immer durchdringend gewesen und daran hatte sich im Laufe der Zeit nichts geändert. Sie wusste, dass ich ihr etwas verschwieg und nur vom Thema ablenken wollte und sie wusste auch, dass ich wusste, dass sie es wusste. 

"Es steht außer Frage, dass du große Fortschritte gemacht hast, aber deine Eltern sind der Meinung - und ich stimme ihnen da zu - dass du noch nicht soweit bist. Vor allem wenn man bedenkt, dass du mir gerade in diesem Moment etwas verschweigt, das auf dir zu lasten scheint.", antwortete meine Therapeutin ruhig. 

Wenn ich so darüber nachdachte hatte ich sie noch nie wütend oder aufgewühlt erlebt, sie war immer freundlich und ausgeglichen. Selbst als ich als ich vor drei Jahren einen Wutanfall bekommen hatte und eine ihrer Vasen zertrümmert hatte, war sie ruhig geblieben und hatte abgewartet, bis ich mich beruhigt hatte. Ihre Nerven wollte ich gerne haben. 

Ich sah sie nachdenklich an und überlegte, ob ich ihr von Olivia und Nat erzählen sollte. Natürlich würde sie wissen, was ich am besten zu tun hatte, doch ich war mir ziemlich sicher, dass sie sofort alles meinen Eltern erzählen würde, selbst wenn ich sie darum bat, es nicht zu tun. 

Aber ihr nichts zu sagen oder Lügen zu erzählen würde auch nichts bringen, denn sie würde mich sofort durchschauen. Ich steckte in einer Zwickmühle.

Abwartend hob Dr. Stevens die Augenbrauen und ich spürte, dass sie mich gerade mal wieder forschend musterte. Um Blickkontakt zu vermeiden schaute ich mir die beiden Wassergläser an, die auf dem kleinen Glastisch standen, der zwischen uns stand. Als sich die Stille zwischen uns zu sehr in die Länge zog und man nur noch die Autos hörte, die hin und wieder an Dr. Stevens' Praxis vorbei fuhren, ergriff ich eines der Gläser und trank ein paar große Schlücke des Wassers, das mittlerweile Zimmertemperatur erreicht hatte.

Nach einer weiteren Minute der Stille entschied ich mich, der Ärztin wenigstens die halbe Wahrheit zu erzählen. Gerade genug, dass sie damit arbeiten konnte aber nicht so viel als dass sie es für nötig hielt, meine Eltern zu informieren. 

"Also, es ist so", fing ich an und machte eine kurze Pause in der ich überlegte, wie ich Dr. Stevens am Besten von meinem Problem erzählen sollte, "Sie wissen, dass ich bis jetzt nur meiner besten Freundin von all dem hier erzählt habe und niemand sonst davon weiß. Aber das könnte sich bald ändern, denn jemand an meiner Schule hat es heraus gefunden und dieser Jemand wird es alles erzählen, da bin ich mir sicher. Aber nehmen wir einmal an, dass es eine Möglichkeit gibt, das zu verhindern. Soll ich mich durch diese Möglichkeit retten, obwohl ich das, was ich tun müsste nicht wirklich machen will, oder soll ich gar nichts tun und akzeptieren dass mein Leben als unsichtbare Elftklässlerin vorbei sein wird?"

Während dem Sprechen hatte ich auf meinen Schoß gestarrt, doch nun sah ich auf und mein unsicherer Blick begegnete Dr. Stevens'. Sie sah mich stumm und nachdenklich an und ich fragte mich, ob ich nicht vielleicht schon zu viel erzählt hatte. 

"Du willst mir also erzählen, dass jemand über alles Bescheid weiß und dir nun damit droht, es herum zu erzählen, es sei denn du tust eine bestimmte Sache für denjenigen.", fasste meine Therapeutin alles zusammen und ich nickte vorsichtig. 

"Mir war schon immer klar, dass ich es irgendwann nicht mehr geheim halten kann, aber ich wollte damit warten, bis ich meinen Abschluss gemacht habe. Es ist nicht so, dass ich mich für das schäme, was passiert ist, aber ich will nicht, dass ich für jeden dann nur noch das Psycho-Mädchen bin. Wenn ich es allen erzählen würde, dann würde mich jeder nur noch wegen dieser Tatsache kennen und alles andere wäre ihnen völlig egal. Wenn man älter ist, ist es etwas anderes aber das hier ist die High School und da ticken die Menschen nun einmal so.", erklärte ich. 

"Und was ist diese Sache, die du für diese Person tun müsstest, wenn ich fragen darf?", fragte Dr. Stevens mit hochgezogenen Brauen und ich seufzte leise. Wie sollte ich es bewerkstelligen, ihr eine Antwort darauf zu geben, ohne zu viel zu verraten?

"Es ist nichts illegales oder etwas, dass gegen die Menschenrechte verstößt, wenn sie das denken. Manche Menschen würden es sogar tun, ohne auch nur darüber nachzudenken. Aber ich würde dadurch, genau wie wenn diese Person - nennen wir der Einfachheit halber Karl - alles erzählen würde. Ich würde viel mehr Aufmerksamkeit bekommen, als mir lieb ist und die Menschen würden mich nur deswegen kennen und beachten. Aber dieser Grund der Aufmerksamkeit ist immer noch besser, als wenn sie mich wegen meiner Vergangenheit kennen würden.", sagte ich langsam. Ich hatte ihre Frage nicht direkt beantwortet und sie schien auch nicht zufrieden mit meiner Antwort zu sein, doch mehr konnte und wollte ich ihr wirklich nicht erzählen. 

Sie schrieb mit ihrem Kugelschreiber etwas auf den Zettel, der an ihrem Klemmbrett steckte und ich wurde leicht panisch, als ich das kratzende Geräusch hörte. Was, wenn sie sich meine Worte aufschrieb, um sie vor meinen Eltern wiederholen zu können?

"Ich nehme mal an, dass deine Eltern nichts davon wissen?", fragte sie als hätte sie meine Gedanken gelesen und ich wunderte mich über mich selbst, dass sich meine Panik noch steigerte. Eigentlich hätte ich doch mit dieser Frage rechnen müssen. 

"Nein.", sagte ich wahrheitsgemäß und schüttelte den Kopf. 

"Bitte erzählen Sie ihnen nichts davon, Dr. Stevens.", setzte ich noch schnell hinterher, ehe sie wieder etwas sagen konnte, "Sie würden nur versuchen, das Problem für mich zu lösen und im Nachhinein würde Karl doch seinen Willen bekommen und alles erzählen. Nur mit dem Unterschied, dass ich dann mit dem Wissen leben müsste, dass ich nicht einmal versucht habe, ihn daran zu hindern. Bitte, lassen sie mich das alleine schaffen."

Fast schon flehend sah ich sie an und ich konnte förmlich die Zahnräder in ihrem Gehirn rattern hören.

"Ich weiß nicht, River", sagte sie irgendwann vorsichtig, "das ist eine sehr ernste Angelegenheit."

"Aber denken sie doch mal nach", versuchte ich es noch einmal, "Wenn ich das hinkriege, dann kann mir das vielleicht mehr helfen als sie denken. Sie haben selbst gesagt, ich hätte Fortschritte gemacht! Vielleicht ist das meine Chance, endlich mit allem abzuschließen."

Ich wusste, wie gering die Chance war, dass sie mich gewähren ließ, doch nun hatte ich ihr schon alles erzählt und es hieß entweder gewinnen oder verlieren.

"Nun gut", seufzte Dr. Stevens zu meiner Überraschung, "aber wenn irgendetwas passiert, dass dafür sorgt, dass sich dein Zustand verschlechtert, dann rufst du mich sofort an und wir vereinbaren einen Notfalltermin. Und dann werde ich deine Eltern benachrichtigen, ob du das willst oder nicht."

"Danke.", atmete ich erleichtert aus und stand dann auf, da unsere Zeit um war.

"Ich hoffe nur, dass du weißt, was du tust.", sagte Dr. Stevens noch, ehe ich die Tür zu ihrem Büro hinter mir zu zog.

Ja, dachte ich nur, das hoffe ich auch.

_______________________________________

Herzlich Willkommen zurück meine Freunde!

River geht also zu einer Therapeutin, wer von euch hat es schon geahnt? 🙋‍♀️

Stay happy

~Nora

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top